Dienstag, 10. Februar 2015

Sein mörderisches Gehirn.

aus nzz.ch, 4.2.2015, 05:31 Uhr


Buchrezension
Blick ins Gehirn eines Mörders.
Wie wird ein Mensch zum Mörder? In seinem Buch schreibt der Psychiater Adrian Raine über die biologischen Wurzeln von Gewalttätigkeit. Er vertritt provokante Thesen, thematisiert aber auch seine Zwiespältigkeit.

von Lena Stallmach

Adrian Raine glaubt nicht an das Böse im Menschen. Er vertritt die Ansicht, dass ein Zusammenspiel von biologischen und sozialen Risikofaktoren das «gefährliche Gebräu» ergeben, das einen Menschen zum Mörder machen kann. Niemand werde schlecht geboren, schreibt er. Der deutsche Titel seines neuen Buchs «Als Mörder geboren» ist deshalb irreführend. Doch macht Raine ähnliche Aussagen, um sie nachher zu relativieren. Auf diese Weise thematisiert er bewusst seine innere Zwiespältigkeit. Der Psychiater arbeitete vier Jahre als Gefängnispsychologe und ist heute Professor an der University of Pennsylvania. In seinem Buch stellt er einige zweifelhafte Thesen auf, mit denen er offenbar zum Nachdenken anregen will. Er fordert mehr Verständnis für Gewaltverbrecher, schlägt aber auch haarsträubende Präventionsmassnahmen vor.

Mörder im Hirnscanner

Als eine Massnahme diskutiert Raine die Möglichkeit, anhand von psychologischen, sozialen und biologischen Risikofaktoren die Gewalttätigkeit junger Männer zu erheben und einige vorsorglich einzusperren – da Frauen selten schwere Gewaltverbrechen begehen, werden sie nicht berücksichtigt. Heute reicht die wissenschaftliche Erkenntnis nicht aus, um so ein Profil zu erstellen. Doch skizziert Raine ein solches Szenario für das Jahr 2034. Ihm «laufen dabei kalte Schauer über den Rücken». Denn er selbst weist einige für Mörder typische Risikofaktoren auf, wie einen tiefen Ruhepuls, Vitaminmangel in der Kindheit und einen abweichenden Hirnscan.

Raine war einer der Ersten, der in den 1990er Jahren begann, die Gehirne von Mördern mit bildgebenden Verfahren zu durchleuchten. Dafür wanderte der Psychiater 1987 von England nach Kalifornien aus, wo viele Mörder an einer Kooperation interessiert sind. Zum Tod verurteilt, können sie dem nur entgehen, wenn sie mildernde Umstände wie hirnorganische Schäden geltend machen können. So bekam Raine die Gelegenheit, 41 gewalttätige Mörder mit der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) zu untersuchen.

Er verglich die Aktivität in den Gehirnen der Mörder bei einer Konzentrationsübung mit jener von nicht straffälligen Personen. Bei den Mördern waren präfrontale Hirnareale weniger und zentrale limbische Areale stärker aktiv (Grafik). Von hirngeschädigten Patienten weiss man, dass Läsionen im Stirnhirn mit einer höheren Risikobereitschaft, einem Verlust der Selbstbeherrschung und der Unfähigkeit einhergehen, sich sozial und situationsgerecht zu verhalten. Zudem kommt es zu kognitiven Beeinträchtigungen, die die Intelligenz mindern. Eine starke limbische Aktivität weist dagegen auf eine hohe emotionale Erregtheit hin.

Die abweichende Hirnaktivität bei Mördern erklärt laut Raine, warum sich diese eher antisozial verhalten. Weil sie weniger intelligent sind, haben sie allgemein schlechtere Karten im Leben. In Konfliktsituationen können sie ihre Wut schlecht kontrollieren, werden schneller gewalttätig und können dann auch jemanden umbringen. Bei einem solchen Mord aus dem Affekt, spricht Raine von einem heissblütigen Mörder.

Anders sieht es bei kaltblütig planenden Tätern aus, insbesondere bei Serienmördern. Um solche Morde vorzubereiten, braucht man Intelligenz sowie Selbstbeherrschung und demnach einen gut funktionierenden präfrontalen Kortex. Tatsächlich fand Raine dies auch in den Hirnscans von Serienmördern bestätigt. Diese wiesen dort und in einer zentral gelegenen Hirnregion namens Thalamus eine erhöhte Aktivität auf. Letzterer gilt als eine Art Schaltzentrale zwischen den Arealen der Hirnrinde und dem emotionalen limbischen System. Oft fehlt es Serienmördern zudem an Empathie und moralischer Urteilsfähigkeit – was psychologische Tests aufdecken können, zeigt sich auch in einer mehr oder weniger charakteristischen Hirnaktivität.

Es ist unbestritten, dass Kopfverletzungen in bestimmten Hirnregionen das Verhalten einer Person stark verändern können. Umstritten ist dagegen die Aussagekraft von bildgebenden Verfahren, die Unterschiede in der Hirnaktivität beim Lösen einer Aufgabe erfassen. Zwar weist Raine auf Probleme bei der Interpretation der Bilder hin. Zum Beispiel bedeutet eine Korrelation, also das gleichzeitige Auftreten von Aktivität und einer bestimmten Hirnleistung, nicht, dass die Aktivität diese Leistung verursacht, geschweige denn, dass sie ein bestimmtes Verhalten bedingt. Doch hält Raine das nicht davon ab, solche Schlussfolgerungen zu ziehen.

Pikant ist, dass sein eigener PET-Scan jenem eines Serienmörders erstaunlich ähnlich ist. Die Biologie ist demnach kein Schicksal, und bestimmte Eigenschaften werden erst in Kombination mit widrigen sozialen Umständen problematisch.

Kapitelweise handelt Raine diese Wechselwirkung und verschiedene biologische Risikofaktoren ab. Zwillings- und Adoptionsstudien zeigen etwa, dass gewalttätiges und antisoziales Verhalten zu einem gewissen Grad vererbbar sind. Dabei sind wahrscheinlich Gene involviert, die die Neurochemie und die Hirnentwicklung beeinflussen.

Relativ gut belegt ist auch, dass die Ernährung in der Kindheit und jene der Mutter während der Schwangerschaft sowie die Exposition gegenüber Schadstoffen wie Schwermetallen oder Alkohol die Hirnentwicklung beeinflussen. Es ist nicht abwegig, anzunehmen, dass sich dies auch auf das Verhalten auswirkt. Langzeitstudien zeigen, dass mangelernährte Kinder später im Leben eher verhaltensauffällig werden und mit dem Gesetz in Konflikt kommen, auch wenn man andere Faktoren wie etwa Armut oder soziale Benachteiligung berücksichtigt. Zwar dokumentieren diese Studien auch nur eine Korrelation. Doch weisen Interventionsstudien auf einen kausalen Zusammenhang hin. Zum Beispiel verringerte die regelmässige Einnahme von Omega-3 Fettsäuren in Studien die Aggressivität bei Kindern und Gefängnisinsassen.

Prognosen sind fragwürdig

Raine tendiert dazu, die Aussagekraft einiger Studien überzuinterpretieren. Auch wenn seine Erklärungen für die Entstehung von Gewalttätigkeit anhand von biologischen und psychosozialen Faktoren aus der Retrospektive plausibel erscheinen, ist zweifelhaft, ob eine zuverlässige Prognose je möglich wird. Nichtsdestoweniger liefert er interessante Fakten und Argumente. Besonders anschaulich ist dies, weil er damit die Handlungen und Motive verschiedener Mörder zu erklären versucht, etwa eines jungen Amokläufers aus behütetem Haus oder eines Serienmörders, der auf allen Ebenen schlechte Karten gezogen hatte. So erhält man aufwühlende Einblicke in verschiedene «Mörderseelen». Lesenswert macht das Buch auch, dass Raine anhand dieser Beispiele ethische Knacknüsse von verschiedenen Seiten beleuchtet und damit zum Denken anregt.

Adrian Raine: Als Mörder geboren. Klett-Cotta 2015, 517 S., Fr. 38.90.

Nota. - Eine erbliche Disposition erhöht oder vermindert lediglich eine Wahrscheinlichkeit. Kausal wirkt sie nicht: Es gibt Leute, man soll es nicht für möglich halten, für deren Verhalten vernünftige Erwägungen eine Rolle spielen. Und da die grundsätzlich frei sind, lässt sich aus genetischen Befunden eine Verhaltens- prognose grundsätzlich nicht erstellen.

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