Donnerstag, 30. April 2015

Evolution des Geistes oder Fulguration?

Intelligent, aber ohne Rückgrat.
aus Tagesspiegel.de, 10.07.2013 16:25 Uhr

Evolution des Geistes
Der Mensch ist intelligent, aber damit keineswegs allein. Im Tierreich hat sich intelligentes Verhalten mehrfach unabhängig voneinander entwickelt

Von Gerhard Roth

Menschen fühlen sich seit jeher den Tieren geistig-intellektuell weit überlegen. Lang ist die Liste angeblich „einzigartiger“ menschlicher Fähigkeiten wie Bewusstsein, Werkzeugherstellung, Moral, Selbstreflexion, Religiosität und Sprache. Jedoch haben in den vergangenen 20 Jahren Verhaltensforscher, Psychologen und Neurobiologen Forschungsergebnisse vorgelegt, die diese Einzigartigkeit immer mehr infrage stellen. Es gibt inzwischen keine geistig-intellektuelle Fähigkeit des Menschen, zu denen Forscher nicht Vorstufen im Tierreich gefunden haben, und zwar auch bei entfernt verwandten Tiergruppen wie Kraken, Rabenvögeln und Delfinen.

Es scheint ein evolutionäres Kontinuum des Geistes gegeben zu haben, wie es Charles Darwin 1871 in seinem Alterswerk „Die Abstammung des Menschen“ vertrat, und nicht eine „Fulguration“, einen Blitzschlag des Geistes, irgendwann im Laufe der Entwicklung vom Affen zum Menschen, wie etwa Konrad Lorenz und Karl Popper meinten und viele Philosophen auch heute noch.



Nervensysteme und Gehirne sind ein Produkt der Evolution. Wenn – wie Neurowissenschaftler nachgewiesen haben – geistig-intellektuelle Leistungen unabdingbar an Hirnprozesse gebunden sind, dann müsste es eine Ko-Evolution von Gehirnen und geistigen Leistungen geben. Beide müssten den bekannten Prinzipien der Evolution unterliegen, mit dem Resultat, dass der „besser Angepasste“ sich durchsetzt. Versucht man aber diesen Prozess der Ko-Evolution von Gehirn und Geist genauer zu rekonstruieren und seine Mechanismen zu ergründen, so stößt man schnell auf Fakten, die so gar nicht mit dem herkömmlichen Bild der Evolution vereinbar zu sein scheinen und zugleich ein neues Licht auf die Natur des menschlichen Geistes werfen.

Die erste Einsicht lautet, dass man gar kein Nervensystem oder Gehirn benötigt, um erfolgreich zu sein. Die zahlreichsten und erfolgreichsten Lebewesen auf unserer Erde, die Einzeller, haben kein Nervensystem. Die meisten Tierstämme besitzen nur ein sehr einfaches Nervensystem, bestehend aus einem Schlundring und davon ausgehenden Nervensträngen, die mit Sinnesorganen, Eingeweiden, Drüsen und Muskeln verbunden sind – und sie überleben seit 600 Millionen Jahren bestens damit. Überraschend wenige von ihnen, meist räuberische Arten, haben komplexere Sinnesorgane und parallel dazu aus dem Schlundring ein mäßig komplexes Gehirn entwickelt. Deutlich mehr Arten haben dagegen ihr mäßig komplexes Nervensystem und Gehirn wieder vereinfacht, und zwar meist im Zusammenhang mit einer sesshaften oder parasitischen Lebensweise, und die allermeisten Arten sind seit Hunderten Millionen Jahren so geblieben, wie sie entstanden sind. Evolution ist also keineswegs identisch mit „Höherentwicklung“ – im Gegenteil.

Komplexe Gehirne und intelligentes Verhalten sind die Ausnahme in der Evolution und finden sich innerhalb der Wirbellosen nur bei Tintenfischen wie dem Kraken Octopus und bei Gliederfüßern und hier besonders bei Insekten wie der Honigbiene. Wirbeltiere (Knorpel- und Knochenfische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säuger) haben meist komplexe Gehirne, aber auch hier weisen nur wenige Tiergruppen hohe Intelligenzleistungen auf wie Rabenvögel, Papageien, Elefanten, Delfine und Affen. Diese Tiere verfügen über beträchtliche Gedächtnis- und Denkleistungen, sie stellen Werkzeuge her, können sich im Spiegel erkennen, haben Bewusstsein und verfügen über ein kompliziertes Kommunikationssystem, das aus Lauten und Gebärden besteht. Der Mensch, zu den Primaten gehörig, überragt diese Tiere nur quantitativ, nicht qualitativ.

Die zweite Einsicht lautet, dass sich solche „Höchstleistungen“ während der Evolution vielfach und unabhängig voneinander aus weniger intelligenten Vorfahren entwickelt haben – schließlich sind Tintenfische, Insekten, Vögel und Säugetiere nur sehr entfernt miteinander verwandt. Fast immer traten Formen hoher Intelligenz auf, wenn Tiere in neue Lebensräume eindrangen, in denen höhere Sinnesleistungen, eine bessere neuronale Informationsverarbeitung und ein flexibles, innovatives Verhalten benötigt wurden. Grundprinzip dieses Vorgangs ist also nicht, wie es in vielen Biologie-Lehrbüchern heißt, das Gewinnen des Wettkampfs um Ressourcen im bisherigen Lebensraum, sondern das Vermeiden von Konkurrenz. So versuchten einige Menschenaffen dem im schrumpfenden Urwald herrschenden Konkurrenzkampf zu entgehen, indem sie in die Savannen auswichen. Dies erklärt, warum die „daheimgebliebenen“ Menschenaffen im Urwald erfolgreich weiterexistierten und sich beide Gruppen (bis vor kurzem) nicht ins Gehege kamen. Erst eine Million Jahre später kam es beim Menschen zu einem stark vergrößerten Gehirn, zu Werkzeugherstellung, Feuergebrauch und komplexer Sprache.

Schaut man sich nun die Gehirne der Tiere an, die sich durch hohe kognitive Leistungen auszeichnen, so tut sich ein weiteres Problem auf. Die kleinsten unter ihnen, wie das einer Honigbiene, wiegen nur wenige Milligramm. Das Gehirn einer Elster wiegt trotz der hohen Intelligenz dieser Tiere nur rund 10 Gramm, während ein Rhesusaffe, der nicht wesentlich intelligenter erscheint als eine Elster, ein Gehirn von rund 90 Gramm besitzt. Sehr große Gehirne finden sich beim Elefanten mit bis zu 6 Kilo und Walen bis zu 10, aber beide Tierarten zeichnen sich nicht durch eine überragende Intelligenz aus. Das menschliche Gehirn ist mit einem durchschnittlichen Gewicht von 1,4 Kilogramm deutlich kleiner als das der Elefanten oder Wale. Gehirngröße hat offenbar nicht direkt etwas mit Intelligenz zu tun, Tiere mit kleineren Gehirnen können intelligenter sein als solche mit größeren Gehirnen.

Dasselbe gilt für die Zahl der Nervenzellen in den Regionen des Gehirns, die direkt mit kognitiven Leistungen zu tun haben. So enthalten die Pilzkörper im Gehirn der Honigbiene gerade einmal 300 000 Neurone, der Vertikallobus im Gehirn von Octopus immerhin 25 Millionen, das Mesonidopallium der Vögel schätzungsweise 200 Millionen, die Großhirnrinde eines Makakenaffen rund 400 Millionen, die des Elefanten und eines großen Wals rund 11 Milliarden und schließlich die Großhirnrinde des Menschen 12 bis 15 Milliarden. Die Zahl der an Intelligenzleistung beteiligten Nervenzellen kann also bei ähnlich intelligenten Tieren wie Rabenvögeln, Makaken und Elefanten um das Zwanzigfache variieren. Nur beim Menschen scheint es zu „passen“: er hat die meisten Nervenzellen in seiner Großhirnrinde und ist der intelligenteste!

Auf was kommt es dann aber an, wenn nicht auf Größe des Gehirns oder Zahl der Zellen? Eine genaue Analyse ergibt, dass tierische und menschliche Intelligenz von zwei Faktoren abhängt: der Verarbeitungsgeschwindigkeit von Information und der Speicherkapazität der Nervennetze. Der erste Faktor hängt wiederum vom mittleren Abstand der Nervenzellen und der Fortleitungsgeschwindigkeit der Nervenfasern ab: Je enger gepackt die Nervenzellen und je schneller die Fortleitungsgeschwindigkeit, desto schneller kann die Information verarbeitet werden. Die Speicherkapazität hingegen hängt von der Zahl der Neurone im Gedächtnisnetzwerk und der Kontaktpunkte zwischen ihnen, den Synapsen, ab: Je mehr Neurone und Synapsen, desto größer der Speicher.

Wenn wie bei der Honigbiene sehr kleine Neurone sehr dicht gepackt sind, dann können diese Gehirne eine hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit bei mittleren Gedächtnisleistungen aufweisen. Das erklärt zumindest zum Teil ihre erstaunlichen Intelligenzleistungen. Elefanten und Wale haben in ihrer riesigen Großhirnrinde zwar sehr viele Neurone, was für die Gedächtnisbildung günstig ist, aber die Packungsdichte ist gering, die Nervenfasern sind lang und ihre Leitungsgeschwindigkeit ist gering. Dies erklärt, warum Elefanten und Wale trotz ihrer Riesengehirne bei weitem nicht so klug sind wie Makakenaffen mit einem Zehntel an Hirnmasse und Zellzahl. Der Mensch hat zwar ein deutlich kleineres Gehirn als Elefanten, aber kleinere Zellen, eine höhere Packungsdichte und eine hohe Fortleitungsgeschwindigkeit. Während also bei kleinen Tieren und Gehirnen die Verarbeitungsgeschwindigkeit und bei sehr großen Tieren und Gehirnen das Gedächtnis Trumpf sind, optimiert das menschliche Gehirn beides, und dies ist ein wesentlicher Grund für seine überragende Intelligenz.

Wir erkennen somit zweierlei: Erstens sind innerhalb der Evolution Geist und Intelligenz vielfach unabhängig voneinander entstanden. Beim Menschen kommen einige Faktoren zusammen, die die Leistungsfähigkeit seines Gehirns stark erhöhten, insbesondere die Evolution einer syntaktisch-grammatikalischen Sprache vor rund 100 000 Jahren, die als extremer Intelligenzverstärker angesehen werden kann. Zweitens gibt es offenbar eine Art Grundstruktur von Geist und Intelligenz, die sich während der Evolution der Tiere vielfach unabhängig voneinander verwirklicht hat, meist im Zusammenhang mit der Eroberung neuer Lebensräume. Diese Grundstruktur hat sich beim Menschen weiter entwickelt als bei anderen Tieren, aber menschlicher Geist und menschliche Intelligenz verbleiben im Rahmen des naturwissenschaftlichen Verstehens* und sind kein metaphysisches Ereignis. Je genauer wir diese Grundstruktur verstehen, desto eher könnten wir sie eines Tages im Prinzip als künstliche Intelligenz nachbauen. Es kann aber sein, dass die schiere Komplexität und die notwendigen Materialien uns einen dicken Strich durch die Rechnung machen.

Gerhard Roth ist Hirnforscher und Professor für Verhaltensphysiologie an der Universität Bremen. Eine ausführliche Darstellung seiner Thesen findet sich im Buch „Wie einzigartig ist der Mensch? Die lange Evolution der Gehirne und des Geistes“ (Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2010. 442 Seiten, 24,95 Euro).



In der Natur gibt es zahlreiche Beispiele für intelligentes Verhalten. Offenbar ist der Geist graduell entstanden und nicht plötzlich beim Urmenschen aufgetaucht.

Komplexe Nervensysteme und Gehirne sind mehrmals unabhängig entstanden. Meist geschah das, wenn Tiere in neue Lebensräume eindrangen und dort neue Herausforderungen meistern mussten.

Die meisten Lebewesen kommen ohne komplexes Gehirn aus. Einzeller sind äußerst erfolgreich und haben kein Nervensystem. Tatsächlich haben mehr Tierarten ihr komplexes Nervensystem wieder vereinfacht als umgekehrt.

Weder die Größe eines Gehirns noch die Zahl der Nervenzellen bestimmt offenbar allein die Intelligenz eines Tieres.


*) siehe dagegen unsern morgigen Eintrag!

Nota. - Gerhard Roth war neben Wolf Singer der prominenteste Hirnforscher, der zu Beginn unseres Jahrtausends in einem berüchtigten Manifest zum Angriff auf die Freiheit des Willens und auf die Vorstellung von einem autonomen Ich geblasen haben. Davon ist hier nicht mehr die Rede. Der Aufsatz ist auch schon etwas älter. Unlängst hat Gerhard Roth in einem Interview nun das getan, was man im Fußball einen Fallrückzieher nennt:
morgen an dieser Stelle!
JE

Mittwoch, 29. April 2015

Wort und Gebärde.

aus Die Presse, Wien, 29.04.2015

Gebärden sagen sehr viel mehr als Worte
Gebärdensprachen haben Feinheiten, die gesprochenen fehlen, aber von deren Sprechern verstanden werden.

„Wenn wir keine Stimme oder Zunge hätten und uns gegenüber anderen ausdrücken wollten, würden wir dann nicht versuchen, durch Bewegung unserer Hände, und des Rests des Körpers Zeichen zu machen, so wie die Stummen es tun?“ Das lässt im fünften Jahrhundert v.Chr. Plato Sokrates sagen (im „Kratylos“), es ist eine der ersten Erwähnungen der Gebärdensprachen. Sie sind alt, vielleicht sehr alt, manche sehen in ihnen den Ursprung der Sprache überhaupt, und sie entstehen immer wieder, seit zwei Generationen wird etwa im Nahen Osten und in Nicaragua eine ganz neue entwickelt, dort waren unter Diktator Somoza stumme Kinder kaserniert und sich selbst überlassen, sie ergriffen die Gelegenheit.

Solche Sprachen sind nicht einfache Übersetzungen der gesprochenen – die Gebärdensprache der USA ist enger mit der französischen verwandt als mit gesprochenem US-Englisch –, aber sie sind zumindest ebenso komplex. Manche halten sie gar für viel feiner, Philippe Schlenker (Institut Jean-Nicod, Paris) etwa erklärt wieder und wieder, dass „in mancher Hinsicht die Logik der gesprochenen Sprache eine heruntergekomme- ne (= vereinfachte) Version der Logik der Gebärdensprache“ ist. Er hat das etwa damit begründet, dass Gebärdensprachen oft ikonisch sind, mit Bewegungen arbeiten, die etwas am Bezeichneten nachzeichnen: In der deutschen Gebärdensprache etwa wird die Katze mit der Form ihrer Schnurrhaare beschrieben, in der tansanischen mit der ihrer Ohren.

Telische vs. atelische Verben

Nun hat Schlenker mit einem anderen Aspekt experimentiert: Aristoteles hat Verben in telische und atelische eingeteilt. Erstere meinen Handlungen mit einem Abschluss („entscheiden“), bei Letzteren gibt es den nicht („denken“). Gesprochene Sprachen drücken die Differenz nicht aus,  Gebärdensprachen tun es, bei telischen Verben wird etwa mit einer Hand ein Schlussstrich gezogen, bei atelischen kreist die Hand. Dann hat Schlenker Sprecher ganz verschiedener Gebärdensprachen um ihre Zeichen für „entscheiden“ und „denken“ gebeten und per Video aufgezeichnet. Die hat er Testpersonen gezeigt, die englisch sprechen, aber keinerlei Gebärdensprache. Sie verstanden doch, was telisch war und was nicht (Pnas, 27.4.). Schlenker vermutet, dass Gebärdensprachen das haben, was der Linguist Noam Chomsky in den 1950er-Jahren gesprochenen Sprachen zuschrieb, wovon er mangels Beleg aber abrückte: eine universelle Grammatik. (jl)


Nota. - Bemerkenswert ist vor allem, dass Gebärdensprache zugleich analog und digital ist. Das ist eine ganz eigene Dimension.
JE


Montag, 20. April 2015

Der Anteil des Werkzeugbaus an der Menschwerdung des Affen.


wikimedia
 Experimentelle Archäologie: Die alten Techniken werden erlernt, zugleich zeigen bildgebende Verfahren, welche Hirnregionen aktiv werden.

aus Die Presse, Wien, 16. 4. 2015

Geist schärfte sich früh: An Steinen
Viel früher als bisher gedacht wurden Werkzeuge hergestellt: vor 3,3 Mio. Jahren. Damit wurden auch die Grundlagen der Sprache gelegt, Experimente zeigen es.

von Jürgen Langenbach

In einem stimmten Charles Darwin und Friedrich Engels, der in seinem Lesehunger auch die Evolutionstheorie verschlungen hatte, völlig überein: Engels nannte es 1876 bündig den „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“; Darwin formulierte 1871 im „Descent of Man“ präziser: „Aus einem Feuerstein auch nur das einfachste Werkzeug zu schlagen, braucht eine perfekte Hand“, und „die Struktur der Hand mag in dieser Hinsicht mit der des Vokalorgans“ verglichen werden; dazu passt dann wieder ein Vermutung Engels': „Beim Herstellen von Werkzeugen hatten sie einander etwas zu sagen.“

War es so? Ist der Mensch nicht einfach durch den Gebrauch, sondern durch das Herstellen von Werkzeugen zum Menschen geworden? Werkzeuge verwenden können andere auch, Schimpansen etwa, aber einen Stein mit scharfen Kanten aus einem Rohling herausschlagen, können sie nicht, auch dann nicht, wenn man es ihnen zeigt: Man hat es vor Jahren in einem Experiment mit Kanzi getan, das ist ein Bonobo am Language Research Center (Georgia State University), der ausgiebig mit den Forschern kommuniziert: Sie reden in Wörtern, er deutet auf Zeichen. Warum redet er „nur“ in Zeichen? Am Kehlkopf liegt es nicht, der senkt sich bei jungen Schimpansen so ab wie bei uns. Liegt es daran, dass seine Hände nicht fein genug sind?

Und wann wurden es die unserer Ahnen? Vor 2,6 Millionen Jahren tauchten die (bisher) ältesten gesicherten Steinwerkzeuge auf, in Äthiopien, nach dem Fundort nannte man die Herstellungstechnik Oldowan. 2010 fanden sich dann, anderswo in Äthiopien, mögliche Schnittmarken an 3,4 Millionen Jahren alten Tierknochen. Diese Einritzungen könnten auch anders entstanden sein, der Fund blieb strittig. Aber jetzt hat Sonia Harmand (Stony Brook University) in Kenia Werkzeuge gefunden, die 3,3 Millionen Jahre alt sind, sie hat der Jahrestagung der Paleoanthropology Society in San Francisco davon berichtet: Der Fundort ist voll mit Werkzeugen und Rohlingen, es gibt auch Stücke, die exakt zusammenpassen, datiert wurde mit paläomagnetischen Techniken, die Umpolungen des Magnetfelds der Erde auswerten (Sciencenow 14. 4.).


Werkzeugmacher Australopithecus?

Die Konferenz reagierte beeindruckt, allerdings bekommen die Anthropologen nun einiges zu tun bzw. zu revidieren: Vor 3,3 Millionen Jahren gab es noch nicht die Menschen, die wir gern als die wirklichen Ahnen ansehen: Homo erectus, die kamen erst vor 1,8 Millionen Jahren. Da hatte ihr Gehirn schon 1000 Kubikzentimeter Volumen, unseres hat, individuell stark schwankend, um die 1200. Vor 3,3 Millionen Jahren war noch Australopithecus unterwegs – Urmutter Lucy! – mit 450 Kubikzentimetern Gehirn. Gab es damals schon auch andere? Erst Anfang März hat man etwas ausgegraben, was mit 2,8 Millionen Jahren schon nach Mensch aussieht, mit geringen Anteilen Australopithecus.

Aber wer auch immer nun vor 3,3 Millionen Jahren Werkzeuge aus Steinen schlug – er muss nicht nur eine feine Hand gehabt haben, sondern auch ein feines Gehirn. Woher will man denn das wissen? Von der experimentellen Archäologie, in der sich heutige Menschen in die alten Techniken einlernen, vor allem Dietrich Stout (Emory University) treibt das voran: Nun hat er sechs seiner Studenten – fünf Männer und eine Frau – zwei Jahre lang die alten Techniken lernen lassen, bei denen in der einen Hand der Rohling gehalten wird und in der anderen der Schlagstein. Die Schlaghand war auch früher meist die rechte, man sieht es den Produkten an.

Erlernt wurden zwei Techniken, zum einen die uralte von Oldowan, zum anderen eine jüngere und feinere, die des Acheuléen, sie kam vor etwa 500.000 Jahren. Jedes halbe Jahr hat Stout dann mit bildgebenden Verfahren nachgesehen, was sich wo im Gehirn tut. Bei der Oldowan-Technik zeigen sich Aktivitäten vor allem dort, wo es um Wahrnehmung und Bewegung geht, Stout weist zum Vergleich auf Golfspielen oder Autofahren. Bei Acheuléen kommt mehr ins Spiel, hier geht es um Weitblick und komplexes Planen, hier wird auch das Broca-Zentrum aktiv, das für Sprache und Gestik mitzuständig ist (PLoS One, 15. 4.). Stouts nächstes Experiment läuft, es heißt „Language of Technology“ und soll gezielt klären, ob das Zusammensetzen von Wörtern zu einem sinnvollen Gebilde und das Aneinanderreihen von Bewegungen zum Erreichen eines Ziels sich in bestimmten Regionen im Gehirn überlappen.



aus derStandard.at, 19. April 2015, 23:59

Älteste menschliche Werkzeuge?

Für große Aufregung sorgte in der vergangenen Woche die Paläoanthropologin Sonia Harmand von der Stony Brook University mit einem Vortrag bei einer Archäologentagung in San Francisco. Die Forscherin präsentierte vor versammelter Kollegenschaft Steinwerkzeuge aus Afrika, die per Magnetostratigrafie des umgebenden Sediments auf ein Alter von 3,3 Millionen Jahren datiert wurden. Damit wäre dies der älteste existierende Beleg für menschlichen Werkzeuggebrauch. Gefunden wurden die Artefakte in Lomekwi westlich des Turkana-Sees in Kenia. Da vor 3,3 Millionen Jahren in dieser Region noch keine Menschen der Gattung Homo lebten, könnte dies bedeuten, dass bereits Australopithecus zur Herstellung von Steinwerkzeugen befähigt war. Naturgemäß zeigten sich Fachkollegen überwiegend skeptisch. Dass es sich bei den Abschlägen tatsächlich um Werkzeuge handelt, zeigen Vergleiche mit ähnlichen Funden aus der Oldowan-Kultur (im Bild). Diese sind rund 2,6 Millionen Jahre alt und galten bisher als älteste menschengemachte Werkzeuge.

aus derStandard.at, 19. 9. 2015, 15:49

Vorfahren des Homo sapiens hatten keinen schlechteren Griff
Forscher untersuchten die Greiffähigkeit heutiger Primaten sowie ausgestorbener Hominini

New Haven/Wien - Primaten zeichnen sich im Vergleich zu anderen Säugetieren durch ihre herausragende Greiffähigkeit aus. Beim Greifen nach sehr kleinen Objekten schneiden Menschen deutlich besser ab als Affen: Sie haben mehr Möglichkeiten, Dinge bis etwa Tennisball-Größe mit einem Präzisionsgriff zwischen Daumen und Zeigefinger zu positionieren.

Den Hintergrund dafür haben nun Forscher um den österreichischen Maschinenbauer Thomas Feix von der Yale University durch biomechanische Modellberechnungen ergründet. Der mögliche "Daumen-Zeigefinger-Arbeitsraum", der die unterschiedlichen Positionen umfasst, in dem die beiden Finger Gegenstände im Zangengriff halten können, sei bei Menschen etwa doppelt so groß wie bei anderen Primaten. Das sei besonders bei der Werkzeugbenutzung hilfreich, so Feix.

Gorillas nach Menschen

Für ihre Studie im "Journal of the Royal Society Interface" haben die Wissenschafter für heute lebende Menschen, Affen und Lemuren, sowie ausgestorbene Hominini wie Neandertaler und Australopithecus afarensis anhand der Fingerproportionen und der Beweglichkeit der Gelenke bestimmt, wie groß dieser Daumen-Zeigefinger-Arbeitsraum für unterschiedlich große Gegenstände ist. Denn bei fast allen präzisen oder kraftvollen Greifarten sei es wichtig, Dinge zwischen Daumen und Zeigefinger festzuhalten, so die Forscher.

Nach den Menschen hatten Gorillas den größten Daumen-Zeigefinger-Arbeitsraum, gefolgt von Schimpansen und Bonobos. Die Finger der Menschenaffen seien aber bezüglich der Positionierungs-Möglichkeiten auf größere Gegenstände optimiert als jene von Menschen.

Fingerfertige Neandertaler

Beim Vergleich von Homo sapiens mit seinen fossilen Vorfahren seien jedoch keine signifikanten Größenunterschiede im Daumen-Zeigefinger-Arbeitsraum feststellbar, berichten die Wissenschafter weiters. Auch Neandertaler hätten demnach entgegen früherer Annahmen wohl die gleiche Fingerfertigkeit wie moderne Menschen gehabt.

Bei Australopithecus afarensis ist es derzeit fraglich, ober er schon Werkzeug gebrauchte. Die Geschicklichkeit seiner Hände hätte das aber wohl möglich gemacht. "Unser Modell hat jedenfalls keine Gründe gefunden, warum es nicht so sein sollte", so Feix. (APA/red.)

Abstract
Journal of the Royal Society Interface: "Estimating thumb–index finger precision grip and manipulation potential in extant and fossil primates"

Sonntag, 19. April 2015

Nicht ganz so dunkel wie man dachte.

aus derStandard.at, 18.4.2015

Dunkle Materie womöglich doch nicht so "dunkel" wie gedacht 
Astronomen finden Hinweis darauf, dass Dunkle Materie mit sich selbst wechselwirkt

Durham - Sie macht den überwiegenden Teil der Masse im Universum aus, und doch ist Dunkle Materie unsichtbar und allenfalls durch ihre gravitative Wirkungen nachzuweisen - zumindest war dies die bislang gängige Annahme. Nun aber haben britische Astrophysiker bei einer Kollision von vier Galaxien Hinweise darauf entdeckt, dass Dunkle-Materie-Teilchen einander auch durch eine andere schwachen Kraft beeinflusst.

Nach dem gegenwärtigen Verständnis befinden sich alle Galaxien innerhalb von Klumpen Dunkler Materie. Ohne die anziehende und somit zusammenhaltende Wirkung der Schwerkraft der Dunklen Materie würden Galaxien wie die Milchstraße auseinandergerissen, während sie rotieren. Um dies zu verhindern, müssen 85 Prozent der Masse des Universums als Dunkle Materie existieren. Dennoch bleibt deren wahre Natur ein Geheimnis.

Kollision von vier Galaxien

Ein Team von Astronomen um Richard Massey von der Durham University in Großbritannien hat nun mit dem MUSE-Instrument am VLT der ESO in Chile zusammen mit "Hubble"-Bildern die Kollision von vier Galaxien im Galaxienhaufen Abell 3927 untersucht. So konnten die Wissenschafter die Lage der Masse innerhalb des Systems bestimmen und die Verteilung der Dunklen Materie mit den Positionen der hell leuchtenden Galaxien vergleichen.

Obwohl man die Dunkle Materie nicht sehen kann, war das Team in der Lage, ihre Verteilung aufgrund des Gravitationslinseneffekts abzuleiten, den ihre Masse auf das Licht von Hintergrundgalaxien ausübt. Die Kollision ereignete sich geradewegs vor einer fünften Hintergrundgalaxie, deren Abbild von der Kollision im Vordergrund verzerrt wird. Die Masse der Dunklen Materie um die wechselwirkenden Galaxien verändert die Raumzeit und erzeugt charakteristische bogenförmige Strukturen.

Im Rahmen ihrer in den "Monthly Notices of the Royal Astronomical Society" veröffentlichten Studie beobachteten die Forscher die vier kollidierenden Galaxien und fanden heraus, dass ein Klumpen Dunkler Materie rund 5.000 Lichtjahre hinter der Galaxie zurückzubleiben scheint, zu der er gehört.

Rätselhafte Verzögerung

Solche Verzögerungen in der Bewegung von Dunkler Materie und im Vergleich zur assoziierten Galaxie, sollten bei Kollisionen auftreten, wenn die Dunkle Materie über andere Kräfte als die Gravitation mit sich selbst wechselwirkt, wenn auch sehr gering. Nie zuvor ist Dunkle Materie dabei beobachtet worden, in irgendeiner anderen Weise als über die Schwerkraft zu interagieren.
"Wir dachten bislang immer, dass Dunkle Materie einfach da ist und abgesehen von ihrer gravitativen Anziehung nichts tut. Aber wenn Dunkle Materie durch diese Kollision verlangsamt worden ist, könnte es der erste Hinweis für eine reichhaltige Physik im dunklen Sektor sein – das verborgene Universum überall um uns herum", meint Massey.

Die Wissenschafter merken allerdings an, dass weitere Studien zu anderen Effekten durchgeführt werden müssen, die ebenfalls die Ausbildung eines Abstands zwischen Galaxie und dazugehöriger Dunkler Materie bewirken könnten. Ähnliche Beobachtungen von weiteren Galaxien und Computersimulationen von Galaxienkollisionen wären sehr hilfreich. (red.)

Abstract
Monthly Notices of the Royal Astronomical Society: "The behaviour of dark matter associated with 4 bright cluster galaxies located in the 10 kpc core of Abell 3827"

Freitag, 17. April 2015

Mein Glück können Sie riechen.

aus scinexx

Auch "Glücks-Schweiß" ist ansteckend
Positive Stimmung überträgt sich auch über den Duft unseres Schweißes

Ansteckende Botschaft: Unser Schweiß verrät nicht nur, ob wir Angst haben, er überträgt auch positive Gefühle, wie ein Experiment nun zeigt. Riechen wir demnach Schweiß, den jemand bei guter Laune produziert hat, dann reagieren wir unbewusst auf diese subtile Duftbotschaft. Bewusst wird uns dies zwar nicht, aber dieser "Glücks-Schweiß" ist offenbar fast so ansteckend wie ein Lächeln, wie die Forscher im Fachmagazin "Psychological Science" erklären.

Unser Schweiß verrät einiges über uns: Sein charakteristischer Duftcocktail vermittelt anderen Informationen über unseren Immunzustand, zeigt, ob wir unter Angst oder Stress leiden und verrät sogar unser Alter. Besonders bei der Partnerwahl spielen zudem Pheromone im Schweiß eine wichtige Rolle – Duftkomponenten, die wir unbewusst durch unser Lieblingsparfum verstärken.

Doch trotz seines nicht gerade leckeren Geruchs kann Schweiß offenbar auch positive Stimmung übertragen – und in begrenztem Maße andere damit anstecken. Darauf deuten die Ergebnisse eines Schnüffel-Experiments von Jasper de Groot von der Universität Utrecht und seinen Kollegen hin.

Schweißschnüffeln für die Wissenschaft

Für ihre Studie zeigten sie zwölf frisch gewaschenen Männern Videos, in denen entweder angsterregende, neutrale oder glückliche, eine positive Stimmung vermittelnde Szenen zu sehen waren. Während der Videositzung trugen die Probanden Lappen unter den Achseln, die ihren Schweiß aufnahmen. Nach der Sitzung wurden sie über ihre Stimmung befragt – tatsächlich hatten sie sich von den Videos anstecken lassen.




Die Schweißproben der Probanden bekamen anschließend 36 Frauen zum "Beschnüffeln" vorgelegt – Frauen deshalb, weil diese in der Regel einen sensibleren Geruchssinn besitzen als Männer. Den Gesichtsausdruck der Frauen zeichneten die Forscher mit einer Kamera auf, um so kleine, aber verräterische Muskelbewegungen sichtbar machen zu können, die auf eine unbewusste emotionale Reaktion hindeuten. Hinterher wurden auch die Frauen nach ihrem Gemütszustand befragt. Zudem mussten sie eine Reihe von kognitiven Tests absolvieren, von denen bekannt ist, dass das Ergebnis durch die Stimmung beeinflusst wird.

Unwillkürliche Reaktion 

Tatsächlich beobachteten die Forscher bei den Frauen eine Reaktion auf die Schweißproben: Rochen sie an der Probe eines Mannes, der einen angsterregenden Film gesehen hatte, verzogen sie unwillkürlich die Stirn. Wie die Forscher erklären, ist dies eine Komponente des typischen Angstgesichts beim Menschen – wie bereits bekannt, überträgt sich diese Emotion auch durch Duftstoffe im Schweiß.

Schnupperten die Probandinnen dagegen an einer Probe mit Schweiß eines positiv gestimmten Mannes, zeigten ihre Gesichtsmuskeln den Anflug eines Lächelns. Und auch in den kognitiven Tests zeigten sich Unterschiede bei den Probandinnen, die am "glücklichen" Schweiß gerochen hatten: ihre Ergebnisse waren typisch für eine positivere Stimmung, wie die Forscher berichten.

"Glücks-Schweiß" ist ansteckend

"Unsere Studie zeigt, dass Schweiß, der in positiver Stimmung produziert wurde, diese Emotion übertragen kann", erklärt Seniorautor Gün Semin von der Universität Utrecht. Das deute darauf hin, dass jemand, der gerade glücklich ist, diesen Gefühlszustand auch über solche olfaktorischen Signale weitergibt. "Auf gewisse Wiese ist der Glücks-Schweiß damit ein bisschen wie unser Lächeln – er ist ansteckend", so Semin.

Allerdings: Bewusst erkennen können wir den "glücklichen" Schweiß und seine Wirkung offenbar nicht. Denn in den Befragungen bewerteten die Frauen den Geruch dieser Proben nicht positiver als die des Angstschweißes. Ähnlich wie bei anderen über Duftstoffe vermittelten Botschaften ist diese Wirkung eben sehr subtil. (Psychological Science, 2015; doi: 10.1177/0956797614566318)
(Association for Psychological Science, 16.04.2015 - NPO)




Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Mittwoch, 15. April 2015

Isaak Babel, Brille auf der Nase und Herbst in der Brust..


aus nzz.ch, 15.4.2015, 05:30 Uhr

Isaak Babels gesamtes Erzählwerk
Weltliteratur aus Odessa

von Franz Haas 

Vor allem auf zwei Büchern beruhte der Ruhm des 1894 in Odessa geborenen Isaak Babel. Aber die nun bei Hanser erschienene Edition seines Gesamtwerks zeigt erst, welch ein ungehobener Schatz da noch auf Leser wartete. Erlebtes und Erfundenes, Gewalt und Lebensfreude sind in Babels Texten unlösbar verflochten.

Ein Wunderwerk der russischen Erzählkunst ist jetzt in einer neuen und kompletten Ausgabe zu bestaunen: die gesamte Prosa von Isaak Babel (1894–1940), dem Juden aus Odessa, der im Bürgerkrieg auf der Seite der Roten war und trotzdem in Stalins Folterkellern verschwand. Er brachte es früh zu Weltruhm mit seinen «Geschichten aus Odessa» und dem schreckgetränkten Erzählzyklus «Die Reiterarmee», die auch bald ins Deutsche übersetzt wurden – und ein sehr junger Elias Canetti bewunderte 1928 in Berlin den liebenswürdigen Autor und seine Prosa, «deren blutigem Glanz jeder erlag, ohne sich am Blute zu berauschen». Doch die zwei berühmten Werke zeigen nur einen Teil von Babels Können, das erst in dieser Neuausgabe und in hervorragenden Übersetzungen ganz sichtbar wird. Hinzu kommen grandiose Texte aus den frühesten Jahren sowie die «Erzählungen vom Ruhm bis zum Verstummen».

Virtuose des Feilens

Isaak Babel war ein besessener Stilist, ein Virtuose des sprachlichen Feilens, was in der Sowjetkultur als Ästhetizismus und Formalismus verunglimpft wurde. Der mächtige Maxim Gorki förderte und schützte ihn lange Zeit, aber nach dessen Tod wurde das Schreiben für Babel immer gefährlicher. Manche Texte wurden verstümmelt, andere behielt er für sich. Seines Wertes ist er sich aber schon ganz früh bewusst: Mit 22 schreibt er ein Feuilleton mit dem Titel «Odessa» über seine Geburtsstadt, «eine Art Marseille oder Neapel» am Schwarzen Meer. Darin urteilt er sehr forsch über die russische Literatur («an Gorkis Liebe zur Sonne ist etwas Verkopftes») und prophezeit, wohl in stolzer Hoffnung auf sich selbst, dass «der literarische Messias» aus der Gegend von Odessa kommen werde, «aus den sonnigen, meerumspülten Steppen».

In der Erzählung «Die Geschichte meines Taubenschlags» verdichten sich einige der wichtigsten Zutaten von Babels Prosa: halbautobiografisches Geflunker, südrussische Folklore mit schroffen Bildern, jüdischer Überlebenskampf und eine schockierende Kombination von Schrecken und Idylle. Es ist die Geschichte eines Zehnjährigen, der als Jude eine schikanös strenge Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium bestehen muss. Als Belohnung bekommt er von seinen Eltern ein lange ersehntes Taubenpärchen, doch gerade an jenem Tag beginnt das fürchterliche Pogrom von 1905, und Nachbarn verwandeln sich in blutrünstige Hetzer. Ein beinloser Strassenverkäufer nimmt dem Buben eine Taube weg, schlägt ihm damit gegen den Kopf, «und die Innereien des zerquetschten Vogels liefen mir die Schläfe hinab». Schockeffekte dieser Art setzt Babel fein dosiert ein, auch in den «Erzählungen aus Odessa», die von jüdischen Hafenganoven und ihren blutigen Heldentaten berichten.

Mit viel List mischen die Ich-Erzähler auch immer wieder eine feine Dosis poetologischen Selbstkommentars bei. «Man darf eine Erzählung nicht in Seitenstrassen führen. Man darf es nicht einmal dann, wenn in den Seitenstrassen Akazien blühen und Kastanien reifen.» Die Geschichte «Mein erstes Honorar» ist nebenbei auch eine raffinierte Metapher für das Bestreiten des Lebensunterhalts durch Erzählen: Ein armer junger Korrektor einer Druckerei geht zu einer Prostituierten, schwatzt sie voll mit seinen angeblich schlimmen Lebenserfahrungen; er prostituiere sich schon seit zartem Alter bei homosexuellen Männern. So erregt er Mitleid und Staunen, bekommt nun den Sex gratis und zudem «eine Liebe, die ihr nie erleben werdet, hörte Worte, gesprochen von Frau zu Frau». Explizit erotische Stellen bei Babel wurden schon in der Sowjetunion und noch in DDR-Ausgaben «bereinigt», wie der äusserst kundige Kommentar informiert; nun wurden sie nach Möglichkeit wieder restauriert.

Neben dem ständigen Wechsel zwischen Schreckensbildern und purer Poesie fasziniert auch Babels politisches Schlingern – oder dessen Inszenierung. In der Erzählung «Der Weg» ist einiges autobiografisch und vieles erfunden. Der Erzähler schlägt sich von der Ukraine nach Petersburg durch, erlebt schlimmste Gewalt gegen Juden, schleppt sich barfuss durch den Schnee, kommt in einem Schtetl ins Spital, doch da «gab es keinen Arzt, der mir die erfrorenen Füsse hätte amputieren können». In Petersburg angekommen, dient er sich den neuen Machthabern an, als Übersetzer bei der Tscheka, und «so begann vor dreizehn Jahren mein grossartiges Leben, voller Gedanken und Fröhlichkeit». Das schrieb Babel 1930 offenbar mit einigem Galgenhumor, denn um seine eigene Fröhlichkeit stand es nicht mehr bestens.

Moralische Integrität und politisches Lavieren sowie Schönheit und Grausamkeit wechseln sich auch ständig ab in «Die Reiterarmee», einem schillernden Kranz aus 34 Erzählungen. Der Ich-Erzähler namens Ljutov hat wiederum sehr viel Ähnlichkeit mit Babel, er ist ein intellektueller Jude unter Kosaken, die für die Revolution kämpfen, gegen die Weissen und die Polen. Sein gelehrtes Aussehen wird zum Gespött, aber er wird auch gewarnt: «hier sticht man euch ab wegen der Brille». Auf dem polnischen Kriegsgebiet fasziniert ihn mit Schauder der Katholizismus, «der wohlriechende Ingrimm des Vatikans». Unter den wilden Reitern wird er geduldet, fast sogar akzeptiert. Er studiert die Krieger manchmal wie ein Anthropologe, beobachtet eine Gruppe von Kosaken, die eine junge Polin vergewaltigen; deren Körper ist dabei «blühend und stinkend, wie das Fleisch einer frisch geschlachteten Kuh». Bei allem Horror ist diese Welt für ihn aber doch «wie eine Wiese im Mai, wie eine Wiese, über die Frauen und Pferde gehen».

Die Wüste des Krieges

Dieser Brillenträger aus Odessa identifiziert sich zusehends mit den Rohlingen, auch eignet er sich sporadisch ihren Jargon an – «Sterben wir für eine saure Gurke und die Weltrevolution». Doch meist bewahrt er bei aller Verwilderung seine sprachliche Sensibilität, sei es bei Beobachtungen aus der Distanz, sei es bei eigenen intimen Empfindungen: «Die Wüste des Krieges gähnte vor dem Fenster»; die Soldaten werden einquartiert bei einer Frau, «die durch und durch nach Witwenschmerz roch»; und draussen liegt die Welt der «unbesiegbaren galizischen Trostlosigkeit». Aber beim Tanz mit einer anderen Frau «erschüttert» ihn doch die «peinigende Wärme», die von ihrer Brust ausgeht. – Babels Kunst liegt besonders in diesen kühnen Wortkombinationen, die oft knapp am Oxymoron vorbeischrammen, die er zuhauf und im Galopp über die Seiten verstreut.

In den Erzählungen der «Reiterarmee», die ab 1923 erschienen waren, kann Babel sich noch lustig machen über die amtliche Sprache der Partei: «O Statut der RKP! Durch den Sauerteig der russischen Prosa hast du ungestüme Geleise geschlagen.» In den späteren Texten muss er die Ironie immer vorsichtiger verpacken oder sie in die Schublade sperren, wie jene Erzählung von 1930, die erst 1963 in New York erscheinen konnte. Da geht es um die Kollektivierung, die Enteignung und das Aushungern der Kulaken, es blitzen Wörter wie «Requisition» und «Zwangsarbeit» auf, Vokabeln, die in der Sowjetunion offiziell nicht gern gesehen sind.

Doch die Angst, die Vorsicht und das allmähliche Verstummen nützen nichts. Im Mai 1939 wird Isaak Babel abgeholt und nach Folter und «Geständnis» im Januar 1940 erschossen. «Trotzkismus» wird ihm vorgeworfen; die angebliche jüdische Weltverschwörung wird ihm zum Verhängnis, nicht sein Beitrag zur Weltliteratur.

Isaak Babel: Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen. Hrsg. von Urs Heftrich und Bettina Kaibach. Übersetzt von Bettina Kaibach und Peter Urban. Verlag Carl Hanser, München 2014. 864 S., Fr. 59.90.


Malevitch


Dienstag, 14. April 2015

Der Hirnforscher und die Verneinung.

Erstaunt bemerke ich, dass ich den folgenden Beitrag in diesem Blog noch nicht wieder gepostet hatte. Das hole ich nun nach, wenn auch die Aktualität es nicht erheischt.



Als der Hirnforscher Gerhard Roth im Philosophischen Quartett bei Sloterdijk und Safranski die These von der vollständigen Determiniertheit unseres durchaus nicht freien Willens vertrat, räumt er am Ende der Diskussion doch eine Ausnahme ein: „die Verneinung“.

Er hat die Tragweite seiner Einschränkung nicht bedacht. Wenn der Verneinungsmodus eine Ausnahme von der Determiniertheit unseres Willens ist, dann ist der ganze Mensch eine Ausnahme von der Determination. Denn der Mensch kann grundsätzlich Alles verneinen und verleugnen. Könnte er nicht nein sagen, dann könnte er nicht ja sagen. Eben das ist die Freiheit seines Willens.

„Der Mensch ist das Tier, das nein sagenkann“, meint Max Scheler.

Die Ausnahme von der Regel.

Ich will raus in den Park. Ich sehe aus dem Fenster. Eine dunkle Wolkenfront zieht auf. Ich sage „Nein!“

Da habe ich, nach Gerhard Roth,  frei gehandelt.


(Ich will raus in…) Ich sehe in den Himmel. „Soll ich oder soll ich nicht?“ Dann greife ich meinen Schirm und gehe doch.

Ich habe ebenfalls frei gehandelt. Denn zu dem Gedanken „ich soll nicht“ habe ich nein gesagt.
Das wird Gerhard Roth kaum bestreiten.

Ich bin im Park, ein unabweisliches Bedürfnis ergreift mich, „nein“ kommt überhaupt nicht in Frage, aber… wie? Taschentücher sind noch genügend da, da vorn ist ein Gebüsch, na wenn das mal nicht in (…) geht…

Eine Wahl habe ich nicht, aber einfach nur ja! sagen kommt schon gar nicht in Frage, es ist so vieles zu berücksichtigen, zu erwägen, in die Wege zu leiten, und alles so schnell…

Und das soll dann ‚unfrei’ sein?

Schnick- schnack, würde Wolf Singesagen. Kollege Roth hat manchmal einen schwachen Moment, ich für mein’ Teil hätte so eine Einschränkung gar nicht zugegeben: „Im Bezugssystem neurobiologischer Forschung gibt es keinen Raum für objektive Freiheit, weil die je nächste Handlung, der je nächste Zustand des Gehirns immer determiniert wäre durch das je unmittelbar Vorausgegangene.“ Einem jeden uns als frei gefasst dünkenden Gedanken liegt ein neuronales Verschaltungsmuster zu Grunde, das diesen und nur diesen einen Gedanken ‚bedeutet’. Singer sagt uns, „dass unterschiedlichen Gedanken verschiedene neuronale Aktivitätsmuster zugrunde liegen. Kein Gedanke ohne Substrat. Allem, was begrifflich trennbar ist, müssen unterschiedliche Gehirnzustände entsprechen.”

Abbildungs-Modi

(Lassen wir mal das ‚begrifflich’ beiseite, das hier gar nichts verloren hat. Und an dieser Stelle will ich mich auch nicht über die mögliche Umkehrung auslassen: Einer sagt mir das Wort ‚Pferd’, ich denke also ‚Pferd’ – und folglich stellt sich in meinem Hirn dieses eine und kein anderes Ver- schaltungsmuster ein… Da würde dann der Geist die Materie “determinieren”.)

Hier will ich genauer auf die Frage eingehen, was „zu Grunde liegen“ an dieser Stelle bedeuten mag. Dann werden wir nämlich sehen, dass im Verneinungs-Modus auch ganz ohne Gerhard Roth der Teufel steckt!

Mit Zugrundeliegen dürfte ja wohl Abbilden gemeint sein, wenn Singer das Wort auch meidet. Nämlich in einemanalogen Modus „wiedergeben“, „repräsentieren“, „nachzeichnen“.

Zur Erinnerung: ‚Analog’ ist ein Zifferblatt, wenn sich darauf ein Zeiger in konstantem Tempo so dreht, dass die Drehbewegung auf sinnlich wahrnehmbare Weise das gleichmäßige ‚Verlaufen’ der Zeit „darstellt“; selbst wenn gar keine Ziffern zu sehen sind, sondern nur Striche und Punkte. Auf einem ‚digitalen’ Zifferblatt erscheinen dagegen in gleichmäßigen Abständen nach einander die Ziffern selbst und zeigen an, „wie spät“ es ist. Freilich nur dem, der weiß, was diese Ziffern – diese ‘digits’ – bedeuten. Er muss unser Zahlensystem gelernt haben und wissen, dass der Tag vierundzwanzig Stunden hat. Auf dem analogen Ziffernblatt kann ein Fünfjähriger an der Bewegung des Sekundenzeigers zusehen, wie eine Minute vergeht. Er mag sogar geistig zurück geblieben sein: Er sieht es doch!

Das ist der Unterschied zwischen Abbildung und Symbol. Das eine ist analog, das andere ist digital. Eine arabische Ziffer (nur die heißen so!) ist digital; die römischen Zahlen sind analog, aber auch nur die ersten drei. Bei der IV wird’s ebenfalls digital. Dazwischen liegt der Akt der Reflexion, der Akt des Verstehens, das Denken in specie: die Umrechnung einer (sinnlichen) Erscheinung in eine (logische) Bedeutung – mit der in einem so entstehenden logischen Raum ‚operiert’ werden kann, ohne dass irgendwelche Gegenstände sinnlich anwesend wären).

Der Haken: Im analogen Bilderraum gibt es keinen Verneinungs-Modus. Das ist der Vorzug der analogen Darstellung gegenüber der digitalen: Sie ist reicher, sie ist farbiger. Es kann immer noch eine und noch eine Gestaltqualität, noch eine Farbkombination hinzu erfunden werden. Aber die digitale Darstellungsweise ist bestimmter. ‚Digits’ lassen sich eindeutig unterscheiden. Ein Apfel und eine Birne lassen sich – von Weitem schon gar – manchmal nicht so klar unterscheiden

Und vor allem: Das digitale Repräsentationsmuster erlaubt die Verneinung, das analoge nicht. ‚Ein Pferd’ kann ich mir anschaulich vor Augen führen. ‚Kein Pferd’ nicht: Wenn ich es mir „vorstelle“, sieht es auch nicht anders aus als, sagen wir, ‚keine Suppenschüssel’.

Und was das Schlimmste ist: Wo es keinen Verneinungsmodus gibt, da gibt es erst recht keinen Frage-Modus!

Wolf Singer mag sich drehn und winden wie er mag: Nicht nur haben die Menschen den Frage- und Verneinungsmodus, sondern es gibt sogar gewichtige anthropologische Gründe, darin ein – oder das – auszeichnende Merkmal des Menschlichen zu sehen.

Ein umgedrehter Spieß

Die Freiheit bestreitet Wolf Singer mit dem Argument, die Forschung habe im Menschenhirn keinen ‚Sitz’ des Ich lokalisieren können. Das Ich stelle sich immer wieder situativ neu her durch je andere neuronale Verschaltungen. Mit dem Vernei-nungsmodus dreht sich der Spieß von alleine um: Wenn er uns keine ‚Stelle’ nachweisen kann, wo durch rein neuronale Kettenreaktionen analoge Bilder in digitale Symbole „umgerechnet“ und so die gattungsmäßig unverzichtbaren Frage- und Verneinungsmodi möglich gemacht werden – dann kann unser Wille nicht ‚determiniert’, dann muss er ‚frei’ sein.


PS. Ich will allerdings nicht verhehlen, dass sich Wolf Singer und sein Kollege Roth in eine no-win-Situation begeben haben. Denn wenn sie eines Tages eine solche ‘Stelle’ lokalisieren sollten, dann… werde ich ihnen sagen: “Na da isses ja endlich, das Ich, nach dem Ihr so lange gesucht habt! An der Stelle, wo der physiologische Sinnesreiz mit einer Bedeutung ausgestattet wird, da ist der Sitz unserer Freiheit!”

September 21, 2008 

PPS. Gerhard Roth ist mit seinen Forschungen inzwischen bei ganz anderen Resultaten angelangt. Das ist hier noch nicht berücksichtigt.


Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Montag, 13. April 2015

Das Roboterkind.

aus nzz.ch, 12.4.2015, 01:00 Uhr


Jetzt hör mal zu, Myon!

von Christof Gertsch 

Das Kind macht den Eindruck, als wäre schon vor geraumer Zeit alles Leben aus seinem Körper gewichen. Wie versteinert sitzt es auf einem Stuhl in einer Ecke des Zimmers. Selbst als ein Sonnenstrahl durch die Jalousie dringt und mitten auf seinem Gesicht landet, verharrt es regungslos. Den Kopf hat es in den Nacken gelegt, die Arme hängen schlaff herunter. Schläft es? Schmollt es? Denkt es nach? Nichts von alledem. Das Kind ist ausgeschaltet. Sein Vater fragt: «Soll ich es einschalten?»

Das Kind ist nicht wirklich ein Kind. Sondern ein humanoider, also menschenähnlicher Roboter von der Statur eines Kindes, der auf den Namen Myon lautet. Grösse: 1,25 Meter. Gewicht: 16 Kilo. Und der Mann, der neben ihm steht, ist auch nur im übertragenen Sinn sein Vater. Er heisst Manfred Hild und ist Professor für Digitale Systeme an der Beuth-Hochschule für Technik in Berlin. Allerdings wird die Rolle, die er in der Geschichte von Myon spielt, durch die umständliche Bezeichnung nur unvollständig beschrieben. Vater ist passender. Oder: Kindergärtner.

Manfred Hild, 47-jährig, ist so etwas wie ein Revolutionär. Einer, der sich mit dem, was vorhanden ist, nicht zufriedengibt. Schon sein ganzes Berufsleben lang beschäftigt er sich mit Robotik, er hat in dem Bereich einige interessante Entwicklungen vorangetrieben. Aber etwas hat ihn immer gestört: dass man davon redet, Robotern Intelligenz verleihen zu wollen, wenn man in Wahrheit gar nicht daran arbeitet.

Einfach weitermachen

Roboter sind ganz schön dumm. Oder nicht einmal das. Wo keine Intelligenz ist, ist auch keine Dummheit. Zwar können sie riesige Datenmengen verarbeiten und sind zu einigen wirklich erstaunlichen Tätigkeiten fähig. Aber sie verstehen nicht, was sie tun. Sie tun es, weil der Mensch ihnen Regeln vorgegeben und sie mit grosser Rechenkapazität und ausgeklügelter Motorik ausgestattet hat.

Zum Beispiel «Deep Blue», der IBM-Computer, der 1997 den Weltmeister Garri Kasparow im Schach schlug: Wenn Kasparow einen Wutanfall gekriegt und «Deep Blue» mit hochrotem Kopf angeschrien hätte – «Deep Blue» hätte einfach weitergerechnet.

Oder die niedlichen Roboter-Jockeys, an denen einige Scheichs gerade eine kindliche Freude haben: Wenn das Kamel, das vom Roboter-Jockey zum Sieg geführt werden soll, keine Lust auf das Rennen hätte und nach dem Startsignal bockig in seiner Box verharrte – der Roboter-Jockey würde einfach weitermachen.

Oder die Roboterband Compressorhead, die vor zwei Jahren von Australien aus auf Welttournee ging, bestehend aus einem Bassisten-, einem Schlagzeuger- und einem Gitarristen-Roboter: Wenn sich das Publikum angewidert von der Bühne abgewendet hätte, weil es die Musik schlecht findet, oder wenn es die Band ausgebuht hätte – die Roboter hätten einfach weitergespielt.

All das sind Roboter, die streng nach Programm funktionieren. So komplex sie konstruiert und so viele Eventualitäten ihnen eingetrichtert sein mögen – die Welt ist immer noch komplexer. Sie ist zu komplex, um sie in ein Regelwerk zu quetschen. Wer dem tennisspielenden Roboter eine Niederlage zufügen will, muss ihm anstelle des Tennis- nur einen Tischtennisschläger in die Hand drücken. Wer den treppensteigenden Roboter stolpern sehen will, muss ihm nur einen Ziegel auf die Stufen legen.

Was den meisten herkömmlichen Robotern fehlt, ist die Fähigkeit, wie ein Mensch zu lernen. Hier kommen Forscher wie Manfred Hild ins Spiel. Die Frage, der sich Hild widmet, lautet: Kann ein Roboter sozialisiert werden wie ein Mensch? Oder auf Myon bezogen: Kann Myon ein Kind sein?

Hild sagt: «Ich habe keine Ahnung.» Und wahrscheinlich ist das genau die Ausgangslage, die für dieses Projekt vonnöten ist: nicht zu wissen, wohin der Weg führt. Hild beschreibt die Arbeit seines Teams in Berlin so: «Wir können nicht versprechen, dass Myon dereinst zu diesem oder jenem fähig sein wird. Das wollen wir auch nicht. Wir haben für Myon keine konkrete Anwendung im Kopf. Wir arbeiten nicht regelbasiert. Wir wollen beobachten, welche Begabung er hat. Und die wollen wir dann fördern.»



Um zu verstehen, was es heisst, nicht den regelbasierten Ansatz zu verfolgen, erklärt man vielleicht am besten den regelbasierten Ansatz. Angenommen, es soll ein Roboter konstruiert werden, der einem das Bier aus dem Kühlschrank holt. Dann muss man sich überlegen, welche Arbeitsschritte für den Vorgang nötig sind: Küche finden, Kühlschrank finden, Kühlschrank öffnen, Bier finden, Bier greifen. Und so weiter. Man zerteilt das grosse Problem in viele kleine, löst jedes einzelne für sich – und programmiert dem Roboter die Schritte ein. Je nachdem, welche Komplexitätsstufe der Roboter meistern soll, kann man ihm noch aufzeigen, wie er das Bier im Keller findet, wenn der Kühlschrank leer ist. Oder wie er es im Online-Shop bestellt.

Hild schätzt, dass neun von zehn Robotik-Wissenschaftern in diese Richtung arbeiten. Sie gehen von einer Anwendung aus und versuchen, die Schritte zu generalisieren. «Das Problem», sagt Hild, «ist, dass man den Roboter auf diese Art nicht befähigt, intelligent zu sein.» Wer für den Roboter bereits ein Ziel im Kopf hat, gibt ihm nicht die Chance, selber Fähigkeiten zu entwickeln.

Darum also soll Myon ein Kind sein: um ein Gefühl für sich, seinen Körper und die Umwelt zu bekommen, ohne dass es ihm vorher einprogrammiert worden ist. Und darum versteht Hild das Zimmer, in dem Myon sitzt, auch nicht als Labor, sondern als eine Art Kindergarten. Hild will, dass Myon Erfahrungen macht, die auch ein Kind machen würde.

«Geh mit der Kraft»

«Soll ich ihn einschalten?», fragt Hild noch einmal. Bitte! Ein Knopfdruck – und Myon fängt zu leben an. Der Moment hat etwas Eigenartiges, weil einem der Verstand sagt, dass Myon nicht mehr als ein Stück Technik ist und man sich dennoch dabei ertappt, wie man mit ihm zu interagieren versucht. Myon hat einen Kopf, einen Torso, zwei Arme, zwei Beine. Und er verfügt über Sensoren, die die menschlichen Sinnesorgane nachahmen. Die Kamera ist dort, wo beim Menschen die Augen sind: in der Mitte des Gesichts. Die Lautsprecher sind dort, wo beim Menschen der Mund ist: oberhalb des Kinns. Und die Mikrofone sind dort, wo beim Menschen die Ohren sind: auf der linken und der rechten Seite des Kopfes.

Das ist Absicht. Der Mensch, der Myon begegnet, soll sich von ihm nicht abgestossen, sondern angezogen fühlen, er soll sich für ihn interessieren und auf ihn zugehen wollen. Er soll Myon in die Kamera schauen, wie er einem Menschen in die Augen schauen würde. Nur so, glaubt Hild, lernt Myon die Welt kennen – indem sich Menschen mit ihm beschäftigen.



Damit ein Lernprozess angestossen werden konnte, mussten die Forscher aber etwas tun, von dem sie eigentlich Abstand nehmen wollten: Myon ein paar grundlegende Funktionen einprogrammieren. Zum Beispiel das Prinzip «Bleibe in Berührung». Oder «Stell dich passiv». Oder «Suche nach Berührung». Oder «Gehe mit der Kraft». Oder «Gehe gegen die Kraft».

Wenn Myon sitzt und man das Prinzip «Gehe gegen die Kraft» aktiviert, stemmt er sich mit Fuss-, Knie-, Hüftgelenk gegen die Erdanziehung und steht in einer verhältnismässig flüssigen Bewegung auf. Hild ist stolz auf die Simplizität der Prinzipien, weil sie es Myon ermöglichen, flexibler auf die Umwelt zu reagieren als jene Roboter, die zwar kompliziertere Tätigkeiten ausführen, deren Bewegungsabläufe aber starr sind. Was, wenn ein solcher Roboter über die Fähigkeit verfügt, mit seinen Händen etwas zu greifen, aber plötzlich ein Finger kaputtgeht, weil ein Kabel reisst? Wenn sich der Mensch einen Finger verstaucht, hält er das Bier mit vier statt fünf Fingern. Den komplizierten Robotern fehlt diese Fähigkeit der Adaption veränderter Situationen. Hild hofft, dass Myon sie dereinst haben wird. Noch wehrt sich Myon, wenn man ihn schubst. Irgendwann wird er vielleicht fähig sein, den Schubser freundschaftlich zu interpretieren und sich nicht dagegen zu stemmen, sondern die Berührung zuzulassen.

Bis dahin saugt er alles auf, was mit ihm und um ihn herum passiert. Das ist seine Haupttätigkeit, quasi sein Lebensnerv: aufsaugen, abspeichern, verarbeiten. In seinem Körper sind 200 Sensoren eingebaut, die Kräfte, Bewegungen, Geschwindigkeiten, Spannungen, Ströme, Klänge und Bilder registrieren. Und alles wird auf einer Speicherkarte abgelegt, Myons Gedächtnis. Also nicht alles.

Myon ist nicht wie andere Roboter an ein Rechenzentrum ausserhalb des Körpers angeschlossen, schliesslich soll er mobil bleiben und nicht ständig mit einem Kabelstrang verknüpft sein – mit einer «Nabelschnur», wie es Hild und seine Kollegen spöttisch ausdrücken. Das bedeutet, dass die Kapazität von Myons Gedächtnis beschränkt ist. Aber die Forscher stören sich gar nicht so sehr an dem technischen Limit, im Gegenteil. Die Einschränkung zwingt Myon, nur abzuspeichern, worauf er seine Aufmerksamkeit richtet. Das sind vor allem neue Sinneseindrücke – Dinge und Personen, die er nicht kennt. Er entscheidet selber, was er wahrnimmt und sich merkt, und stösst so einen Prozess an, der aus ihm ein Individuum macht. Die komplizierten Roboter, denen jede Tätigkeit einprogrammiert ist, können theoretisch unendlich vervielfacht werden. Myon nicht. Myon ist einzigartig. Man möchte fast sagen: so einzigartig wie ein Mensch.



«Myon, hörst du mich?» Ein mechanisches Surren ertönt, und Myon wackelt mit dem Kopf. Schnell packt ihn die Langeweile, er wendet sich wieder ab. Myon vernimmt Laute, doch er kann ihnen keine Inhalte zuordnen. Kein Roboter kann das. Natürlich gibt es Computer, die wie das Spracherkennungssystem Siri von Apple Antworten auf Fragen geben. Aber auch die verstehen die Inhalte nicht. Man hat ihnen, vereinfacht gesagt, Wörterbücher und Lexika und Funktionsregeln einprogrammiert.

Bejahung und Verneinung

Hild arbeitet an einer Erweiterung, die Myon helfen soll, zumindest einmal das Konzept von Bejahungen und Verneinungen zu verstehen. Nämlich indem die Wörter «Ja» und «Nein» in Relation zu Myons Körper gebracht werden. Die Überlegungen, die sich Hild dazu macht, sind noch schwieriger zu erklären als zu verstehen. Aber es reicht zu wissen, dass Myon am besten lernt, wenn er Erfahrungen mit seinem Körper verknüpft. Und überhaupt: Wer sagt denn, Myon müsse bereits reden können? Den Roboter gibt es seit fünf Jahren. Aber wenn man die Phasen zusammenzählt, in denen er ein- und nicht wegen Reparaturen oder Abwesenheiten der Forscher ausgeschaltet war, kommt man auf etwa zwei Monate Lebenszeit. Myon ist nicht viel älter als ein gerade zur Welt gekommenes Baby. So gesehen ist er schon recht weit entwickelt.

Zum Beispiel hat er aufzustehen, zu laufen und sich hinzusetzen gelernt, nur dank den paar Funktionen, die ihm einprogrammiert wurden, und der physischen Unterstützung der Forscher, die ihn an der Hüfte oder den Händen gepackt und herumgeführt haben. Sie würden mit ihm gerne herumalbern wie mit einem richtigen Kind, aber sie müssen vorsichtig sein: Myon hat keinen Babyspeck, der wie eine Schutzhaut wäre.

Und er hat gelernt, Farben und Formen zu unterscheiden. Zurzeit treibt ihn eine Vorliebe für Rotes und Rundes um. Wenn ihm die Forscher eine rote Kugel vor die Kamera halten, ignoriert er alles andere. Aber das kann sich schnell ändern. Vielleicht sind es morgen schon gelbe Vierecke, die ihn anziehen, so genau weiss das niemand. Das hängt einerseits davon ab, welche Funktionen man gerade an ihm ausprobiert, und andererseits davon, wie er sich sein Gedächtnis organisiert. Vor allem in den Ruhephasen, wenn er seine Rechenkapazitäten dazu verwenden soll, Ordnung zu schaffen – wie der Mensch während des Schlafs.

Was bleibt Myon haften? Welche Eindrücke ordnet er welcher Kategorie zu? Was lernt er? Und welche Fähigkeit verlernt er wieder, weil sie ihm nicht wichtig genug erschienen ist, weil sie ihm nicht oft genug begegnet ist – oder weil er sie in einem Bereich der Speicherkarte abgelegt hat, auf die er nicht auf Anhieb zuzugreifen vermag? Wie der Mensch hat auch Myon unterschiedliche Gedächtnisebenen. Und wie beim Menschen ist von aussen schwer zu sagen, was ihm nahe geht und was ihn kalt lässt. Hild weiss nicht, was aus seinem Kind wird, nicht morgen, nicht in ein paar Jahren. Die Entwicklung, die es macht, hängt von den Einflüssen ab, denen es ausgesetzt ist. Manchmal würde Hild die Zeit gerne vorspulen, um zu erfahren, wozu Myon dereinst fähig ist. Aber er muss sich mit kleinen Fortschritten begnügen, und das gelingt ihm ganz gut. Es kommt vor, dass er sich tatsächlich wie ein Vater freut, wenn er sieht, dass Myon etwas gelernt hat.

Der bisher spannendste Versuch soll in ein paar Wochen zum Höhepunkt finden. Seit zwei Jahren wird Myon von der Künstlergruppe Gob Squad auf einen Auftritt an der Komischen Oper Berlin vorbereitet. Myon bald auf der Bühne zu sehen, vor Publikum, wird für Hild ein schöner Moment sein, aber wirklich interessant an dem Projekt ist, dass sich Menschen von ausserhalb der Hochschule mit Myon beschäftigen.

Zum Beispiel hat der Dirigent Myon das Dirigieren beigebracht. Er hat ihn an den Händen gepackt und ihm die Bewegungen zusätzlich mit farbigen Bällen vorgeführt. Und tatsächlich: Myon hat sie nachzumachen begonnen. Das ist nicht selbstverständlich, so wie es bei einem Kind, dem man im Trockenen Schwimmbewegungen vorzeigt, nicht selbstverständlich ist, dass es sie im Wasser ausführen kann. Aber Myon hat es geschafft. Und nachdem die Künstler ihm tagelang einzelne Töne und auch ganze Lieder vorgesungen hatten, hat er auf einmal selber ein paar Laute von sich gegeben. Sie waren schrill und eher zusammenhangslos, es klang, man muss es so sagen, nicht wirklich gut. Aber das lag wahrscheinlich auch an der Qualität der Lautsprecher, die ihm die Menschen eingebaut hatten.



Wichtig ist: Myon hat aufgesaugt, abgespeichert, verarbeitet – und mit den Eindrücken erst noch etwas anzufangen gewusst, fast von allein.

Vieles von dem, was Hild und sein Team mit Myon anstellen, mag Spielerei sein, auch der Theaterauftritt. Aber Hild findet, dass die Wissenschaft in den Robotern zu lange nur stupende Dienstleister gesehen hat, als dass es nicht Zeit wäre, die Roboter für einmal selber das Tempo und den Weg bestimmen zu lassen. Wenn man Hild die Frage stellt, die im Zusammenhang mit Robotern zu einer Modefrage geworden ist, die Frage also, ob wir uns vor Robotern fürchten müssen, weil sie dereinst so klug sein könnten, dass sie die Weltherrschaft an sich reissen und uns auslöschen – dann sagt Hild: «Das hängt davon ab, wie wir die Roboter erziehen. Ich glaube nicht, dass wir Angst zu haben brauchen, wenn wir es schaffen, ihnen unsere Werte zu vermitteln.»

Und das, so viel steht fest, gelingt nicht, wenn man es gar nicht erst versucht, einen Roboter wie einen Menschen zu behandeln.


Schnell, aber dumm

Ein Vorläufer von Myon ist der von der Firma Honda entwickelte Roboter Asimo. Asimo ist mitterweile 11 Jahre alt. Er kann pro Stunde 2,7 Kilometer zurücklegen. Im «Renn-Modus» erreicht Asimo über kürzere Strecken eine Geschwindigkeit von 9 km/h. Asimo kann auch im Kreis rennen. Was Asimo hingegen nicht kann, ist lernen, da seine Software im Gegensatz zu der Myons nach dem sogenannten Top-down-Ansatz aufgebaut ist.


Nota. - Der springende Punkt wird sein: "Lernt" Myon, selber etwas zu wollen? Seine Aufmerksamkeit auf etwas zu richten nicht wegen dem Reiz des Neuen, sondern weil es ihm wichtiger ist als anderes; und sich dann aufgefordert zu fühlen, etwas zu tun, damit das, was er 'will', auch stattfindet - ? Das wäre das spezi- fisch Menschliche: Phänomene - Dinge, Personen, Bilder - wertschätzen und um ihretwillen tätig werden. Nicht auf Reize reagieren, sondern aus Absicht handeln. 

Wenn aber Myons Seele am Anfang eine Tabula rasa war (ganz rasa war sie ja doch nicht, wie wir hören), wie sollte durch das Ansammeln und Ordnen von 'Informationen' ein Wollen entstehen? Wenn er sich selbst ernähren muss (muss er das etwa nicht?!), wird er Dinge bevorzugen, die seinem Mechanismus gut bekommen, und die wird er sich einverleiben 'wollen' - aber vielleicht nicht einmal das, sondern bei ihrem Anblick bloß wohlig surren! Ach nein, ich weiß schon: Er muss sich nicht selber ernähren, er ist ja noch ein Kind, man knipst ihn an und aus, der Strom kommt von alleine - aus der Wand. Fast wie im richtigen Leben. - Nur dass im richtigen Leben immer auch die Frage hineinspielt: Worum geht's hier eigentlich?

Nein, ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, wie oder besser: dass Myon "lernt", ein erwachsener Mensch zu werden oder auch nur ein richtiges Kind mit Freude an Pipi und Kaka.
JE


Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.