Mittwoch, 30. April 2014

Gab es gar keinen Urknall?

BICEP-Teleskop am Südpol
aus Süddeutsche.deTeleskop Bicep2 am Südpol


Entstehung des Universums  
Risse in der Urknall-Theorie Signale aus der Geburtsstunde des Universums: Mitte März jubelte ein Forscherteam über eine bahnbrechende Messung von Gravitationswellen. Möglicherweise haben die Physiker sich zu früh gefreut.
 
Von Marlene Weiß

Wer meint, die Welt erklären zu können, indem er am kleinen n schraubt, bekommt es mit Viatcheslav Mukhanov zu tun. "Vollkommener Unsinn", schimpft der an der Uni München aktive russische Physiker, "die Zeitschriften sind voll davon, aber es bleibt trotzdem Unsinn!"
 
Auch wer sonst nichts von seinem Vortrag kürzlich am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching bei München verstanden hat, eines dürfte jedem Zuhörer klar geworden sein: Das kleine n in den Formeln über den Beginn des Universums, auch "spektraler Index" genannt, sollte man in Ruhe lassen, wenn man sich nicht mit Mukhanov anlegen möchte.

 
Das sind schlechte Nachrichten für all die Fachleute, die Mitte März jubelten, als es hieß, man habe mit einem Teleskop am Südpol Signale aus den ersten Sekundenbruchteilen nach dem Urknall gemessen: Vielleicht war der Jubel verfrüht, das Ergebnis widerspricht anderen Messungen.
 
Spuren von Gravitationswellen, die vor 13,82 Milliarden Jahren entstanden sein sollen, als das Universum sich rasant ausdehnte, meinten die Physiker um John Kovac von der Harvard-Universität mit dem Teleskop Bicep2 am Südpol gemessen zu haben. Leider passte die Messung nicht so recht zu früheren Ergebnissen. Da kam das kleine n ins Spiel, eigentlich nur ein harmloser Parameter in den Formeln. Lässt man diesen etwas variieren, löst sich der Widerspruch auf. Doch das Geschraube an dem Parameter bringt Mukhanov in Rage, und sein Wort hat Gewicht. Kaum einer kennt sich besser aus mit der Geburt des Universums.
  
Wie gut verteilter Himbeersirup im Wasserglas 
 
Andererseits: Auch der Russe war nicht dabei, als einst aus dem Nichts der Kosmos entstand. Daher führen viele heute aktuelle Fragen zwangsläufig ins Reich der Spekulationen: Warum sieht das Weltall überall recht ähnlich aus? Ob nah, ob fern, in jeder Richtung: ähnliche Galaxien-Strukturen, ähnliche Dichte, ähnliche Temperatur. Als wäre das Universum ein Wasserglas, in dem der Himbeersirup durch kräftiges Schütteln gut verteilt wurde - was nicht so ohne Weiteres erklärbar ist.
 
Vor mehr als drei Jahrzehnten schlug der US-Physiker Alan Guth eine Lösung für dieses Problem vor: Demnach hätte sich das Universum in den Sekundenbruchteilen nach dem Urknall viel schneller ausgedehnt als später. Diese sogenannte Phase der Inflation hätte das junge Universum sozusagen glattgezogen. Nur eine minimale, gleichmäßige Zerknitterung wäre danach noch übrig geblieben, geringe Dichteschwankungen, aus denen später so Kleinigkeiten wie Sterne und Galaxien entstanden. Und die Inflation müsste Gravitationswellen hinterlassen haben, winzige Kräusel in der Raumzeit.

Die Kollegen eines anderen Teams wollen vermeiden, dass es wie ein Konkurrenzkampf aussieht
 
Das inflationäre Universum gilt daher als Favorit für die Entstehungsgeschichte des Kosmos. Nur steht der Nachweis noch aus, dass es wirklich so war - wer ihn präsentiert, dürfte gute Chancen auf den Nobelpreis haben. Der Beweis könnte im Nachglimmen des Urknalls versteckt sein, in den schwachen Lichtwellen aus der Geburtssekunde des Universums, die als "kosmischer Mikrowellen-Hintergrund" das All durchfluten.
 
Zwei Experimente haben gute Chancen, darin den Abdruck früher Gravitationswellen und damit auch die Inflation nachzuweisen: Bicep2 am Südpol, und das Weltraumteleskop Planck, dessen nächster Datensatz im Herbst ausgewertet sein soll. Das Planck-Teleskop ist es auch, das den Ergebnissen vom Südpol in die Quere kommt: Es hatte in einer früheren Messung keine Spuren von Gravitationswellen gefunden, genau dort, wo Bicep2 nun fündig geworden sein soll. Beides gleichzeitig kann nicht stimmen.
 
Mit der Veröffentlichung im März hat sich die Bicep2-Gruppe im Rennen um den Inflations-Nachweis in Führung gebracht. Verfrüht, meinen nun Fachleute. "Sie hätten nicht so viel Lärm machen sollen", sagt Mukhanov. "Es passt alles nicht zusammen." Dabei glaubt auch er, dass der Abdruck der Gravitationswellen existieren müsste, und die Bicep2-Gruppe mache "heldenhafte Arbeit". Das ändere aber nichts daran, dass es eine sehr ernsthafte Unstimmigkeit gebe.

"An der Grenze des Wissens gibt es keine festen Wahrheiten"
 
Im Planck-Team ist man derweil bemüht, das Ganze nicht nach einem unwürdigen Konkurrenzkampf aussehen zu lassen. "Wir sind alle gute Freunde", sagt Andrew Jaffe vom Imperial College London, der an der Planck-Messung beteiligt ist. Dann lacht er, wohl weil es so albern klingt, aber trotzdem: "Das Bicep-Team ist sehr vorsichtig und gründlich, sie haben gesagt, was sie getan haben, und getan, was sie gesagt haben." Mehr könne man nicht verlangen: "Experimente sind fast immer zu einem gewissen Grad falsch."
 
Die Ursache der Diskrepanz zwischen Bicep2 und Planck könnte indes in unserer eigenen Heimatgalaxie verborgen sein, in der Milchstraße. Staub und andere Hindernisse könnten in den kosmischen Mikrowellen ähnliche Spuren hinterlassen wie Gravitationswellen. Diesen sogenannten Vordergrund-Effekt muss man herausrechnen. Aber um ihn genau abzuschätzen, braucht man Daten, und auch die wird erst die nächste Planck-Lieferung bringen.
 
Auf die Erfolgsnachrichten von Bicep2 hin habe die Freude überwogen, behauptet Torsten Enßlin, der das in Garching angesiedelte deutsche Planck-Team leitet. Auch ihm machen einige Punkte Sorgen, nicht überall passen die Messwerte vom Südpol auf die theoretischen Kurven. "Das könnte heißen, dass nicht alles perfekt unter Kontrolle ist", sagt Enßlin. Aber prinzipiell findet er es gut, dass seine Kollegen früh an die Öffentlichkeit gegangen sind: Das bilde die wissenschafts-interne Diskussion ab. "So ist Wissenschaft eben: An der Grenze des Wissens gibt es keine festen Wahrheiten."



Dienstag, 29. April 2014

Die älteste Kultur der Welt - nicht von Menschen.

Schimpanse auf einem Baum im Bili-Uele-Wald – Nester baut die Population auf dem Boden.
aus nzz.ch,  25. April 2014, 16:34                             Schimpanse auf einem Baum im Bili-Uele-Wald

Manche Schimpansengruppen existierten vor den Alten Römern 
Manche Schimpansengruppen bestanden schon vor Hunderten oder gar Tausenden von Jahren. Dies weist ein internationales Forscherteam mit Schweizer Beteiligung in einer Genomstudie nach. Bestimmte Gruppen hätten demnach womöglich schon vor den altern Römern eine Kultur gehabt, so spekulieren die Forscher.

Y-Chromosom als eine Art Nachname

Y-Chromosomen würden vom Vater an den Sohn vererbt – wie Nach- oder Clan-Namen beim Menschen, schreiben die Forscher im «Journal of Human Evolution». Im Lauf der Zeit entstehen durch Genmutationen kleine Unterschiede zwischen den Chromosomen, sogenannte Haplotypen. Sie ähneln sich in einer Gruppe von Verwandten stärker als zwischen Nichtverwandten.

Da Schimpansenmännchen sehr ortstreu sind – die Weibchen wechseln zwischen Territorien –, lässt sich aus diesem genetischen «Nachnamen» auf den Entstehungszeitpunkt der Gruppe schliessen. Acht Schimpansengruppen in Uganda und Côte d'Ivoire haben die Forscher, zu denen auch Klaus Zuberbühler von der Universität Neuenburg gehörte, auf diesem Weg untersucht.

Es zeigte sich, dass der letzte gemeinsame Vorfahr je nach Gruppe vor 125 bis 2600 Jahren gelebt hatte. Vermutlich seien die Gemeinschaften durch Absplitterung weniger Individuen von grösseren Gruppen entstanden, was bei Schimpansen ein seltenes Ereignis sei.

 

Kulturelles Erbe


Was die Resultate laut den Forschern besonders spannend macht, ist die Tatsache, dass Schimpansen Verhaltensweisen wie etwa das Nüsseknacken mit Steinen kulturell an ihre Nachkommen vermitteln. Diese Kulturtechniken seien über die Zeit äusserst stabil und sehr alt: Bei Ausgrabungen wurden 4300 Jahre alte, zum Nüsseknacken veränderte Steine mit Nahrungsresten dran gefunden.

Männliche Schimpansen teilten eine gemeinsame Kultur, die von einem gemeinsamen männlichen Vorfahren bestimmt werde, so lautet deshalb das Fazit der Autoren. Falls also tatsächlich kaum Kulturtechniken in Gruppen importiert würden, wie Beobachtungsstudien andeuten, wären diese womöglich so alt wie die Gruppen selbst.

 

Älteste Kultur der Welt


Den Rekord hält die Sonso-Gruppe im Budongo-Reservat: Sie sei vor 2600 Jahren und damit vor dem Römischen Reich, der Maya-Kultur und der chinesischen Han-Dynastie entstanden, schreibt der auf Primaten spezialisierte Archäologe Michael Haslam von der Oxford University im Fachjournal «Nature». Sie könnte demnach als die älteste kontinuierliche Kultur der Welt betrachtet werden.

Doch um solche Hypothesen zu testen, seien noch viel genauere Schätzungen des letzten gemeinsamen Vorfahren mit mehr untersuchten Erbgutstücken notwendig, betonen die Autoren. An der Studie waren auch Wissenschafter der Boston University und des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig beteiligt. (sda) ⋅ 

Sonntag, 27. April 2014

Repräsentierende Raben.

aus derStandard.at, 23. April 2014, 17:03

Raben durchschauen Raben-Beziehungen
Wiener Wissenschafter sprechen von geistigen Repräsentationen, wie man sie höchstens Menschenaffen zugetraut hätte

Wien - Kolkraben wissen nicht nur über die Beziehungen der verschiedenen Mitglieder ihrer eigenen Gruppe zueinander bescheid, sie kennen offenbar auch die Hierarchien in Nachbar-Gruppen, zu denen sie nachweislich lediglich Sicht- und Hörkontakt hatten. Darüber berichten Wiener Forscher in der Fachzeitschrift "Nature Communications". Bisher wurde diese Fähigkeit nur bei Menschenaffen angenommen.

Das Experiment ...

Kolkraben leben in unterschiedlichen sozialen Beziehungen: Neben Paarbildung und vewandtschaftlichen Beziehungen gibt es auch Freundschaftsbande sowie strikte Dominanzhierarchien. Um herauszufinden, ob die Tiere verstehen, wie die Beziehungen von Mitgliedern von Gruppen, denen sie selbst nicht angehören, gestaltet sind, spielten Wissenschafter vom Department für Kognitionsbiologie der Universität Wien den Vögeln Tonaufnahmen anderer Raben vor.
 
Darauf waren Tiere zu hören, die in der Forschungsstation Haidlhof bei Bad Vöslau bereits über ein Jahr hinweg im jeweils angrenzenden Gehege in Hör- und Sichtweite untergebracht waren. Die Kognitionsbiologen um Jorg Massen und Thomas Bugnyar ließen die Vögel einerseits Aufnahmen anhören, in denen zwei ihrer Nachbarn entweder so miteinander interagieren, wie es aufgrund der Rangordnung in ihrer Gruppe zu erwarten wäre. Andererseits lauschten die Raben auch Unterhaltungen, in denen die hierarchischen Verhältnisse umgedreht waren, indem ein niederrangigeres plötzlich ein höherrangiges Tier dominierte.

... und seine Ergebnisse

Es zeigte sich, dass die Raben auf eine solche Rollenumkehrung mit verstärktem Erkundungs- und Stressverhalten reagierten. Die überraschten Tiere drehten ihre Köpfe öfters, schüttelten sich häufiger, was darauf schließen lasse, dass ihre Erwartung an die Dominanzverhältnisse erschüttert wurden, berichten die Forscher. Daraus folgern sie, dass Raben auf die Beziehungsstrukturen von Artgenossen rein auf der Basis von Beobachtungen schließen können.

Es handle sich hier um den ersten experimentellen Nachweis von tatsächlichen geistigen Repräsentationen von Beziehungen bei Tieren, erklärte Massen. Darunter versteht man, dass die Raben sich selbst und ihre eigenen Erfahrungen nicht als Referenz heranziehen können. Das Wissen über die Hierarchien unter ihren Nachbarn konnten sie nämlich nicht aus einer egozentrischen Perspektive heraus in jeder Situation neu ableiten. "Sie müssen wirklich eine Idee über die andere Gruppe und die Beziehungen in der Gruppe haben", so Massen.

Von Menschenaffen nehme man zwar an, dass sie dazu auch fähig sind, ein direkter experimenteller Nachweis sei allerdings schwierig und wurde auch noch nicht erbracht. "Was wir hier gemacht haben, war wirklich etwas Neues", so der Forscher. 

APA/red,

aus DiePresse.com, 23.04.2014 | 17:14

Raben haben ihre Mitraben gut im Blick
Die Vögel beobachten den Rang anderer sowohl in der eigenen Gruppe wie auch bei Nachbarn.

Wer sozial lebt, tut gut daran, sich in der eigenen Gruppe auszukennen und vor allem über die aktuellen Machtverhältnisse Bescheid zu wissen, das ist bei Menschen so, das ist bei anderen Primaten so, man kennt es auch bei Hyänen. Und wie ist es bei den Geflügelten, die in sozialen Dingen auch höchst kompetent sind, bei den Rabenvögeln? Von denen weiß man schon, dass sie sich auf der Futtersuche zusammentun, aber dann, wenn einer etwas gefunden hat, die Gefahren des Sozialen mit List abwehren: Hat ein Häher Futter, das er gerade nicht verzehren kann, lagert er es ein, er versteckt es irgendwo.

Aber vorher schaut er sich um, ob ihn ein anderer Häher beobachtet. Bemerkt er einen, versteckt er ganz auffällig etwas ganz anderes, einen Stein etwa, und im nächsten unbeobachteten Moment bringt er seine echte Beute in Sicherheit. Er kann sich also in den anderen hineinversetzen und dessen Züge durchkreuzen. Kann er sich auch so in ihn hineinversetzen, dass er den Rang eines jeden in der Gruppe im Bewusstsein hat? Jorg Massen Kognitionsbiologie Uni Wien) hat es getestet, in Playback-Experimenten, in denen anderen Rabenvögeln – Raben (Corvus corax) – aus versteckten Lautsprechern etwas vorgespielt wurde, die Stimmen von  Mitraben.

Ohren lauschen geschlechtsspezifisch

Diese klangen entweder wie gewohnt – das Tier mit dem höheren Rang hatte das Sagen –, oder sie bargen eine verwirrende Überraschung: Das höherrangige Tier war plötzlich in der Rolle des niederrangigen. Die Überraschung kam an, vor allem die weiblichen Raben zeigten sie – sie haben generell einen niederen Rang – gegenüber Mitgliedern der eigenen Gruppe, und je älter sie wurden, desto hellhöriger reagierten sie. Und die Weibchen reagierten vor allem auf andere Weibchen, bei den Männchen war es ähnlich, die reagierten auf Männchen, nur nicht so stark.

Und sie reagierten nicht nur auf die Männchen der eigenen Gruppe, sondern auch auf die im Nachbargehege, mit denen sie überhaupt nichts zu tun hatten – außer dass sie sie beobachten konnten. Das taten sie auch, sie waren über die Rangordnung der anderen bestens informiert Nature Communications, 22. 4.. „Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Raben geistige Repräsentationen über andere bilden“, schließt Massen. Das ist eine hohe Leistung, sie legt nahe, dass Raben viel Intelligenz für das haben, was sie brauchen, das Soziale. Bei der Selbstbeherrschung hingegen, über die nebenan berichtet wird, schnitten Rabenvögel – in diesem Fall Häher, sie erbringen ihre Leistungen mit einem kleinen Gehirn von 2,85 cm3 – eher mittelmäßig ab. jl

Samstag, 26. April 2014

Nicht den Pferden überlassen.

aus Die Presse, Wien, 24. 4. 2014

Biologie: Groß muss es sein, das Gehirn

In einem breiten Vergleich von 36 Tierarten zeigt sich, dass Intelligenz an der absoluten Gehirngröße hängt – und die an einer breiten Futterpalette.

 

Dass man das Denken den Pferden überlassen möge, weil diese die größeren Köpfe haben, bleibt jedem, der den Spruch als junger Mensch zu hören bekam, sein Leben lang in Erinnerung. Man hat damals den Kopf darüber geschüttelt und tut es heute noch, aber am Ende ist etwas dran an der Weisheit der Wachtmeister: Die Intelligenz korreliert mit der absoluten Größe des Gehirns, nicht mit der relativen; und diese Größe korreliert mit der Breite der Nahrungspalette, nicht mit der der sozialen Bezüge. Das ist das (vorerst) letzte Wort in der endlosen Debatte über die Evolution der Intelligenz. Es stützt sich auf den bisher breitesten Vergleich, quer durch das Tierreich, 36 Arten, Vögel und Säugetiere in Zentren rund um die Erde, aus Wien war Friederike Range (Vet-Med) mit den Wölfen dabei, an denen sie in Ernstbrunn forscht, organisiert und zusammengehalten wurde alles von Evan MacLean (Duke University, Durham). 

Alle Tiere wurden mit den gleichen zwei Aufgaben konfrontiert, darin liegt die Eleganz des Ansatzes, sie wird bezahlt mit einer engen Definition von Intelligenz: Selbstbeherrschung. Die braucht es in verschiedensten Lebensformen, in sozialen etwa empfiehlt es sich für subordinate Männchen nicht, sich an Weibchen des Alphamännchens heranzumachen; und ganz generell empfiehlt es sich, auf der Futtersuche nicht unbedacht zuzugreifen, sondern sich zuerst nach Raubtieren umzuschauen. Die gibt es in Labors und Gehegen nicht, dort wurde zum Test der Selbstbeherrschung Futter präsentiert, in zwei Durchgängen. Im ersten wurde es vor den Augen der Tiere in einem von zwei Behältern versteckt, drei Mal im gleichen, dann kam der Test: Wieder kam das Futter in den gleichen Behälter, dann wurde es herausgenommen, und in den anderen gesteckt, auch das vor den Augen der Tiere.

Im zweiten Test war das Futter erst in einem Rohr mit opaker Wand, die Tiere mussten den Weg hinein finden; dann kam es in ein Rohr mit transparenter Wand. Nun brauchten die Tiere Selbstbeherrschung, sie durften nicht einfach zum Futter hinspringen, die Wand war ja noch da; Selbstbeherrschung brauchten sie auch im Test davor, wo sie dem Reflex des gewohnten Wegs nicht nachgeben durften. Alle Tiere machten bereitwillig mit, sie vertraten 36 Arten, von solchen mit kleinen Gehirnen, Zebrafinken (Volumen: 0,44 Kubikzentimeter), über solche mit mittleren, Kapuzineraffen (66,63) oder Wölfe (127,06), bis zu Elefanten (4752,25). Den größten Anteil stellten Primaten (23), dann kamen Vögel (7), Caniden (3), Nager (2) und der Elefant.

Kortikale Reorganisation

Und ob man sie nun alle zusammen betrachtete oder jede Gruppe für sich: Die Selbstbeherrschung hing an der absoluten Größe des Gehirns (Pnas, 21. 4.). Das unterstützt die Hypothese von der kortikalen Reorganisation, die davon ausgeht, dass schiere Quantität in Qualität umschlägt, weil dann mehr Hirnzellen da sind und feiner miteinander kommunizieren können; und es nimmt der Gegen-Hypothese Gewicht, die die relative Gehirngröße für ausschlaggebend hält. Zugleich entscheidet das Experiment zwischen zwei anderen Hypothesen, der von der sozialen Intelligenz, die darauf setzt, dass die Probleme des Soziallebens generell leistungsfähigere Gehirne wachsen lassen, und der „foraging hypothesis“, die die Evolution der Intelligenz von der Nahrung abhängig sieht – breit muss die Palette sein, sodass immer etwas da ist. Letzteres wurde bestätigt, die soziale Intelligenz, die in letzter Zeit stark auf dem Vormarsch ist, fiel durch.


Ist das nun wirklich das letzte Wort? Die Studie hat Grenzen, nur Primaten waren in ausreichender Zahl vertreten, und die größten und leistungsfähigsten Gehirne gab es auch bei ihnen. Größer war nur das der Elefanten, aber die fielen aus, sie sind mit null Punkten in der Wertung. Alle anderen sind drin, ganz oben rangieren mit 97,5 und 97,2 – von hundert möglichen – die Bonobos (Hirnvolumen: 341,29) und die Gorillas (490,41), dicht gefolgt von Orang-Utans und Schimpansen, alle unsere näheren Verwandten, uns selbst (um die 1200 cm3) haben die Forscher leider nicht getestet. Aber bei den übrigen Primaten ist es eindeutig: Größe ist bzw. bringt Qualität. Ist das vielleicht nur bei den Primaten so? „Möglicherweise liegt es nicht an der Größe selbst, sondern an der Zahl der Neuronen“, erwägt MacLean gegenüber der „Presse“: „Primaten haben sehr viele Neuronen im Gehirn, relativ kleine, dicht gepackt. Andere Tiere haben eher große, weniger dicht gepackt. Wir brauchen für den Vergleich der Gehirne von Primaten mit denen anderer Tiere einfach mehr Informationen.“

Donnerstag, 24. April 2014

Ist die Raumzeit flüssig?

Raumzeit: eine superfluide Quanten-Flüssigkeit?
aus scinexx

Raumzeit: eine superfluide Quanten-Flüssigkeit?
Physiker entwerfen ein neues Szenario einer quantenphysikalischen Basis für die klassische Raumzeit

Es klingt ziemlich abenteuerlich: Nach Ansicht zweier Physiker könnte die Raumzeit eine Art Superflüssigkeit sein. Ähnlich wie das Verhalten des Wassers durch seine Molekül-Interaktionen geprägt wird, wäre dann die Raumzeit durch Effekte ihrer Quantenbausteine geprägt. Sie bildet dadurch ein fast reibungsloses Superfluid. Der Clou an diesem Szenario der Quantengravitation: Es könnte sich zukünftig sogar experimentell überprüfen lassen.
Nach der Theorie der Quantengravitation ist die Raumzeit keine kontinuierliche Matrix, sondern diskret: Auf der kleinsten Ebene ist sie in einzelne Einheiten von minimal 10 hoch -35 Metern aufgeteilt, die eine Art Quantenschaum bilden. Dieses Konstrukt soll ein Problem der Quantenmechanik lösen helfen: Bisher lassen sich nur drei der vier Grundkräfte durch Quanteneffekt plausibel erklären. Die vierte Grundkraft, die Gravitation, aber nicht.

Im Rahmen der Quantengravitation gibt es zwar inzwischen viele Modelle, die genau dies versuchen. Doch das Problem dabei: Ihre Szenarien sind entweder unvollständig oder aber sie lassen sich nicht empirisch belegen. "Das Entstehen der klassischen Raumzeit aus einem Quantengravitations-Modell ist immer noch ein subtiles und nur teilweise verstandenes Thema", erklären Stefano Liberati von der International School for Advanced Studies (SISSA) in Triest und Luca Maccione von der Ludwig-Maximilian Universität in München.

Hydrodynamik in kosmischem Maßstab

Sie haben nun ein Modell entwickelt, das auf den ersten Blick absurd klingt, aber erste Möglichkeiten einer Überprüfung bieten könnte. Ihr Szenario: Die Raumzeit könnte sich – quantenphysikalisch betrachtet – wie eine Flüssigkeit verhalten. Die Gesetzmäßigkeiten der Allgemeinen Relativität wären dann Ergebnis der Eigenschaften dieser Superflüssigkeit – analog der Hydrodynamik, die das Verhalten von Flüssigkeiten auf makroskopischer Ebene beschreibt.

 
Krümmung der Raumzeit durch die Schwerkraft der Erde
"Denn wenn die Raumzeit als eine Art großskaliges Kondensat aus fundamentaleren Objekten entsteht, dann ist es nur natürlich zu erwarten, dass Materie als kollektive Anregung der Raumzeit-Bausteine, modifizierte Kinematiken zeigt", so die Forscher. Oder einfacher ausgedrückt: Ähnlich wie die Interaktionen der Wassermoleküle dieses Verhalten beeinflussen, so könnten auch die Quanteneigenschaften der Raumzeit seine Merkmale prägen.

Fast reibungsloses Superfluid

"Wenn wir die Analogie mit Flüssigkeiten weiterdenken, dann müssen wir auch seine Viskosität und andere Verteilungseffekte in Betracht ziehen", konstatiert Liberati. Die Tatsache, dass Licht entfernter Sterne und Galaxien über Milliarden von Lichtjahren zu uns gelangt, spricht gegen eine hohe Viskosität der gequantelten Raumzeit, wie die Forscher erklären. Denn je zähflüssiger ein Fluid ist, desto stärker streut es Photonen und andere Teilchen, die es durchqueren.

"Wenn die Raumzeit eine Flüssigkeit ist, dann muss es unseren Berechnungen nach ein Superfluid sein", so Liberati. "Das bedeutet, seine Viskosität ist extrem niedrig, nahe Null." Sollte sie aber nicht ganz Null sein, dann könnte es Wege geben, die daraus resultierenden schwachen Streuungseffekte durch zukünftige astrophysikalische Messungen aufzuspüren. Eine Möglichkeit wäre, die Raten des Energieverlusts von Elementarteilchen genauer auf solche Effekte hin zu untersuchen.

Experimentell überprüfbar?

"Sollte dies passieren, dann hätten wir ein starkes Indiz für die Modelle einer aus Quantengrundlagen entstehenden Raumzeit", betont Liberati. Damit aber könnte es nach Ansicht der Forscher einen Weg geben, die Quantengravitation von einem reinen, teilweise spekulativen Gedankengebäude auf eine phänomenologischere, durch Beobachtungen überprüfbare Basis zu stellen. "Man kann sich kaum eine aufregendere Zeit vorstellen, um über die Gravitation zu forschen", konstatiert der Physiker. (Physical Review Letters, 2014; 10.1103/PhysRevLett.112.151301)

Mittwoch, 23. April 2014

Wittgenstein wird hunderfünfundzwanzig.

aus Der Standard, Wien, 23. April 2014                                     Ludwig Wittgenstein, Cambridge, 1939

"Teamarbeit ist der Philosophie nicht abträglich"
Im April jährt sich Ludwig Wittgensteins Geburtstag zum 125. Mal - Klaus Taschwer sprach mit dem Philosophen Martin Kusch über Wittgensteins Bedeutung heute und dessen Umfeld damals

von Klaus Taschwer

STANDARD: Österreichs wichtigster Preis für Wissenschafter ist ebenso nach Ludwig Wittgenstein benannt wie seit kurzem ein Lesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek. Was machte Ludwig Wittgenstein zu einem Denker, der auch heute öffentlich noch so präsent ist?

Kusch: Wittgensteins Wirkung auf die breitere Öffentlichkeit hat gewiss auch damit zu tun, dass seine Persönlichkeit irgendwie spannender und facettenreicher ist als die vieler anderer Philosophen des 20. Jahrhunderts. Dazu trägt natürlich auch seine Biografie bei – die eines Österreichers, der aus einer absurd reichen Familie stammt und der einen Großteil des riesigen Vermögens verschenkt. Das fasziniert ebenso wie sein Wechsel vom deutschen Sprachraum in den englischen. Und dass er an die Universität Cambridge ging, die damals ein Zentrum der Philosophie war, hat für seine Rezeption auch geholfen.


STANDARD: Wie steht es um Wittgensteins Bedeutung in der Philosophie?

Kusch: Wittgenstein war vor allem von etwa 1960 bis 1990 in der angloamerikanischen Philosophie sehr wichtig, und zwar in ganz verschiedenen Bereichen: der Sprachphilosophie, der Philosophie des Geistes oder der Erkenntnistheorie. Mit dazu bei trug auch, dass Wittgenstein ein glänzender Stilist war.

STANDARD: Welche Rolle spielt Wittgenstein in der Philosophie heute?

Kusch: In den vergangenen 20 Jahren hat seine Bedeutung abgenommen. Er ist inzwischen kanonisiert – so wie Martin Heidegger, Edmund Husserl oder Jacques Derrida. Das heißt leider auch, dass die Erforschung seines Werks heute mehr und mehr von Spezialisten betrieben wird, deren Detailarbeiten und interne Fehden für die allgemeine philosophische Diskussion jenseits der Wittgenstein-Forschung eher uninteressant  sind. Aber es entstehen selbstverständlich weiterhin wichtige Beiträge, etwa im Umkreis der Erkenntnistheorie.

STANDARD: Sie haben lange in Cambridge gearbeitet. Gab es dort zu Ihrer Zeit noch Nachwirkungen von Wittgenstein zu spüren?

Kusch: Das mit dem angeblichen Wittgenstein-Kult in Cambridge war immer ein bisschen übertrieben. Er hatte dort nur etwa ein Dutzend Studenten um sich geschart und nie Vorlesungen vor hunderten von Studenten gehalten, wie ich es hier in Wien tun darf. Außerdem gab es in Cambridge neben ihm andere einflussreiche Philosophen wie Bertrand Russell. In der nächsten Generation aber, als etwa die Wittgenstein-Schülerin Elizabeth Anscombe selbst Professorin in Cambridge wurde, da bildete sich schon so etwas wie eine Art Wittgenstein-Kult heraus. Doch als ich 1997 nach Cambridge kam, war davon kaum mehr etwas zu bemerken. Da wurde Wittgenstein eher wie ein „toter Hund" behandelt.

STANDARD: Für Wittgenstein wird immer wieder ein besonders enger Zusammenhang von Leben und Werk behauptet. Trifft das Ihrer Meinung nach zu?

Kusch: Es gibt Arbeiten, die das Werk Wittgensteins und seine Biografie engführen. Aber das Biografische scheint mir da doch zu wenig eingebettet in die weiteren sozialen und politischen Kontexte seiner Zeit, die ihn zweifellos geprägt hat. Stattdessen geht es, wie auch in Ray Monks großer Wittgenstein-Biografie, meist doch um das einsame Genie und den reinen, hehren Denker, der alles aus sich selbst entwickelt.


STANDARD: Aber es gab doch auch Bücher wie „Wittgensteins Wien" von Allan Janik und Stephen Toulmin, in dem gezeigt wird, wie Wittgensteins Philosophie von diesem speziellen Wiener Kontext der zu Ende gehenden Monarchie geprägt war.

Kusch: Das stimmt schon. Aber ich sage meinen Studenten immer, dass man parallel zu diesem Buch Brigitte Hamanns brillante Studie „Hitlers Wien" lesen sollte, in dem es um die gleiche Zeit und die gleiche Stadt geht. Dadurch sieht man erst, wie wenig Wittgenstein anscheinend von den meisten sozialen Problemen seiner Zeit mitbekommen hat – man denke nur an die enorm wichtige Rolle der Sprachenpolitik in der späten Monarchie. Obwohl Wittgenstein als einer der bedeutendsten Sprachphilosophen des 20. Jahrhunderts gilt, findet sich von den politisch-ideologischen Problemen der Sprache nichts in seinem Werk.

STANDARD: In welchen Dingen war Wittgenstein ein Kind seiner Zeit?

Kusch: Das existenzialistische Element, das man bei ihm und in seinen Arbeiten um die Zeit des Ersten Weltkriegs findet, das fand man bei vielen anderen Intellektuellen dieser Zeit – geprägt nicht zuletzt durch den Krieg, aber etwa auch durch die Schriften Tolstois. In dem Zusammenhang war Wittgenstein alles andere als einzigartig, und es lässt sich etwa zeigen, dass Wittgensteins Arbeiten zur Religion von Tolstoi und später von Kierkegaard geprägt waren. Ein anderes Beispiel für die wichtige Rolle seines Umfelds sind seine Texte zum Thema Farbe, mit denen ich mich ein bisschen beschäftigt habe.

STANDARD: Worum geht es da?

Kusch: Wittgensteins Arbeiten zu den Farben wurde bisher immer als eine Auseinandersetzung mit Goethes Farbenlehre verstanden. Meines Erachtens kam Wittgenstein aber auf das Thema, als er 1913 an das psychologische Institut in Cambridge kam, das damals von Anthropologen geleitet wurde. Die hatten gut zehn Jahre zuvor eine Expedition in die Inselwelt zwischen Papua-Neuguinea und Australien gemacht und dabei die Farbwahrnehmung und das Farbvokabular der Bewohner dieser Inseln untersucht. Diese Forscher wollten damit beweisen, dass diese Menschen auf einem niedrigeren Entwicklungsniveau stünden, weil sie bestimmte Begriffe für Farben wie Blau nicht hatten. Wittgensteins Anmerkungen über die Farben sind nach meiner Überzeugung in weiten Teilen eine Kritik an diesen Arbeiten. Umgekehrt wollte ich damit zeigen, dass man Wittgenstein auf die Wissenschaft seiner Zeit beziehen muss, um auch seine Relevanz für heute besser einschätzen zu können.

STANDARD: Wie sehr hat sich Wittgenstein mit der Naturwissenschaft seiner Zeit befasst?

Kusch: Er hat sich immer dafür interessiert, wenn auch nicht so sehr wie die Mitglieder des Wiener Kreises. Womöglich hat er Einsteins Relativitätstheorie und neueren Entwicklungen der Physik nur durch Sekundärliteratur oder Gespräche mit Moritz Schlick rezipiert, jedenfalls aber doch sehr positiv aufgenommen. Ich habe selbst in einigen Arbeiten zu zeigen versucht, dass die Einstein'sche Uhrenkoordination und die Metrologie, also die Lehre von den Maßsystemen, für Wittgenstein eine wichtige Quelle für einige seiner zentralen Metaphern werden. Wittgenstein ist fraglos nicht gegen die Naturwissenschaft eingestellt – wohl aber gegen bestimmte pseudowissenschaftliche Ambitionen der Philosophie.

STANDARD: Würde sich Wittgenstein, wenn er unser Zeitgenosse wäre, in der heutigen akademischen Welt zurechtfinden? Hätte er da überhaupt eine Chance mit seiner Form des Denkens?

Kusch: Diese Fragen gelten zum einen nicht nur für Wittgenstein, sondern für die gesamte Generation seiner Zeit. Zum anderen darf man nicht vergessen, dass Wittgenstein, würde er heute leben, natürlich auch ganz anders akademisch sozialisiert worden wäre. Insofern läuft das Argument, dass Wittgenstein in der heutigen akademischen Welt wohl keine Chance hätte, etwas ins Leere. Hätte er das heutige Universitätssystem durchlaufen, würde er gewiss Projektanträge schreiben und Drittmittel einwerben. Und wahrscheinlich hätte er sich angewöhnt, etwas schneller zu schreiben und häufiger zu publizieren.

STANDARD: Sie haben kürzlich ein großes Forschungsprojekt in der Höhe von 2,5 Millionen vom Europäischen Forschungsrat bewilligt bekommen. Hätte Wittgenstein so wie Sie einen solchen Advanced Grant des ERC beantragt?

Kusch: Das ist natürlich eine sehr hypothetische Frage. Wittgenstein hat jedenfalls recht wenig mit anderen Leuten zusammengearbeitet, während es für dieses Projekt nötig ist, ähnlich wie in den Naturwissenschaften in einem Team zusammenzuarbeiten. Womöglich wäre diese Art der Teamarbeit für Wittgenstein eher unerträglich gewesen.

STANDARD: Sie scheinen damit wenig Schwierigkeiten zu haben, obwohl man sich Philosophen doch gemeinhin als einsame Denker vorstellt.

Kusch: Ich habe auch schon früher Fachartikel und Bücher gemeinsam mit Kollegen geschrieben. Für mich liegt gerade darin etwas besonders Reizvolles und Spannendes von solchen großen Projekten: gemeinsam forschen zu können. Meiner Arbeitsweise kommt das jedenfalls sehr entgehen, und ich bin davon überzeugt, dass Teamarbeit der Philosophie überhaupt nicht abträglich ist – im Gegenteil: Man lernt viel dabei, wenn man sich mit Kollegen ständig auseinandersetzen muss.
...

Martin Kusch, geboren 1959 in Leverkusen, ist seit 2009 Professor für Angewandte Wissenschaftstheorie an der Universität Wien. Vor seiner Professur war Kusch von 1997 an Dozent und Professor an der Universität Cambridge. Zahlreiche Buchpublikationen, unter anderem zu Ludwig Wittgenstein.

Link
Academia.edu: Martin Kusch

Dienstag, 22. April 2014

Homo sapiens migrierte früher aus Afrika als gedacht.

institution logo Homo sapiens zog früher aus Afrika aus als gedacht
Dr. Karl Guido Rijkhoek  
Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen
 


21.04.2014 22:00

Pressemitteilung der Universität Tübingen und der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung: Tübinger Wissenschaftler erforschen die Wanderungswellen des frühen Menschen

Der anatomisch moderne Mensch hat sich von Afrika aus in mehreren Wanderungswellen nach Asien und Europa ausgebreitet. Die ersten Vorfahren heutiger Menschen nahmen dabei wahrscheinlich schon vor rund 130.000 Jahren eine südliche Route über die Arabische Halbinsel in Richtung Asien. Zu diesem Ergebnis kommen Professorin Katerina Harvati und ihre Mitarbeiter vom Institut für Naturwissenschaftliche Archäologie der Universität Tübingen und dem Senckenberg Center for Human Evolution and Palaeoenvironment in Zusammenarbeit mit Kollegen der Universität von Ferrara, Italien, und dem Nationalmuseum für Naturgeschichte, Frankreich.

Die Forscher überprüften verschiedene hypothetische Ausbreitungsszenarios anhand geografisch möglicher Routen, genetischer Daten und vergleichender Schädeluntersuchungen. Als Resultat setzen sie die erste Auswanderungswelle aus Afrika im Mittleren statt im Späten Pleistozän und damit früher an, als bisherige Untersuchungen ergeben hatten. Eine zweite Ausbreitungswelle ins nördliche Eurasien erfolgte ihren Untersuchungen zufolge vor rund 50.000 Jahren. Ihre Ergebnisse veröffentlichen die Wissenschaftler in der Online-Ausgabe Online Early Edition der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences.





Dass alle heutigen Menschen von einer Population abstammen, die vor 100.000 bis 200.000 Jahren in Afrika lebte, ist unter Wissenschaftlern kaum umstritten. Doch bisher gingen viele beim Auszug unserer Vorfahren aus Afrika von einer einzigen Wanderungsbewegung vor 50.000 bis 75.000 Jahren aus. Dafür schien die Beobachtung zu sprechen, dass die genetische Vielfalt und die morphologische Diversität der Menschen mit wachsender geografischer Entfernung vom subsaharischen Südafrika abnahmen. Neuere Ergebnisse genetischer, archäologischer und paläoanthropologischer Studien stellen dieses Szenario jedoch in Frage.

Die Forscher um Professorin Katerina Harvati überprüften die beiden gängigen Out-of-Africa-Hypothesen einer einzelnen gegenüber mehrfachen Wanderungsbewegungen der anatomisch modernen Menschen aus Afrika. In ihren Untersuchungen nutzten sie Daten anatomischer Schädelvergleiche heutiger Menschen aus verschiedenen Regionen, neutrale genetische Daten und die zurückzulegenden Distanzen der verschiedenen möglichen Ausbreitungsrouten. Ebenso wurden basierend auf den genetischen Daten und dem jeweiligen Ausbreitungsmodell die Zeitspannen berechnet, die zur Aufspaltung der Populationen notwendig waren. Jedes Ausbreitungsszenario ist mit spezifischen geografischen und zeitlichen Voraussetzungen verbunden. Diese bekannten Parameter stellten die Forscher den neutralen biologischen Distanzen aus den genetischen und anatomischen Untersuchungen gegenüber.

„Beide Beweisketten, sowohl die anatomischen Schädelvergleiche als auch die genetischen Daten, sprechen für mehrfache Auswanderungswellen“, sagt Katerina Harvati. Eine erste Gruppe unserer Vorfahren brach vor rund 130.000 Jahren von Afrika aus auf und wanderte an der Küste der Arabischen Halbinsel entlang bis nach Australien und in das Gebiet des Westpazifiks. „Australier, Papuas und Melanesier blieben nach dieser frühen Ausbreitung über die Südroute zunächst relativ isoliert“, sagt Hugo Reyes-Centeno, Erstautor der Studie und Mitarbeiter des Tübinger Forscherteams. „Andere asiatische Populationen scheinen dagegen einer späteren Auswanderungswelle zu entstammen, die vor etwa 50.000 Jahren von Afrika aus ins nördliche Eurasien aufkam.“

Die Forscher gehen davon aus, dass weitere Feldstudien sowie Fortschritte in der Genetik die Befunde zu den Wanderrouten der urgeschichtlichen Menschen besser absichern und weitere Details in der raumzeitlichen Auflösung liefern können. Bisher lässt sich nur spekulieren, ob zum Beispiel starke Dürrezeiten in Ostafrika in der Zeit zwischen 135.000 und 75.000 Jahren die Wanderungen ausgelöst und die Entwicklung der menschlichen Populationen beeinflusst haben könnten. Die südliche Route umfasst ein großes geografisches Gebiet, in dem zum jetzigen Zeitpunkt nur wenige archäologische und anthropologische Forschungen stattgefunden haben und welches daher für künftige Forschungen sehr vielversprechend ist.



Abbildungen für die Medien sind erhältlich bei :
Universität Tübingen, Hochschulkommunikation, Tel. 07071 29 77853, janna.eberhardt[at]uni-tuebingen.de

Publikation:
Hugo Reyes-Centeno, Silvia Ghirotto, Florent Détroit, Dominique Grimaud-Hervé, Guido Barbujani, Katerina Harvati: Genomic and Cranial Phenotype Data Support Multiple Modern Human Dispersals from Africa and a Southern Route into Asia. Proceedings of the National Academy of Sciences, Online Early Edition in der Woche vom 21. April 2014.

Kontakt:
Prof. Dr. Katerina Harvati
Universität Tübingen – Institut für Naturwissenschaftliche Archäologie
Senckenberg Center for Human Evolution and Palaeoenvironment
Telefon +49 7071 29-76516
katerina.harvati[at]ifu.uni-tuebingen.de 



aus scinexx 

 

Samstag, 19. April 2014

Sternenstaub.

aus Die Presse, Wien, 20. 4. 2014                             shock wave from star known as Kappa Cassiopeiae


Dem Ursprung des Sternenstaubs auf der Spur
Wenn es im All staubt, entstehen Winde. Astrophysiker der Universität Wien haben ein neues Modell entwickelt, um Sternenstaub zu erforschen.

Wir alle sind aus Sternenstaub, heißt es. Tatsächlich stammen wesentliche Elemente des menschlichen Körpers aus dem Inneren von Sternen. Sternenstaub ist insgesamt wichtiger Bestandteil der Materie unseres Sonnensystems. Ein Blick in den Sternenhimmel ist aber nicht nur ein Blick in die Entstehungsgeschichte des Menschen und der Erde. Kosmischer Staub ist zentral für die Evolution des Universums: Er ist für den Massenverlust sonnenähnlicher Sterne bedeutsam und damit für deren weitere Entwicklung.

Den Ursprüngen des kosmischen Staubs auf der Spur sind Wissenschaftler des Instituts für Astrophysik der Universität Wien. „Staub entsteht vor allem in den äußeren Schichten weit entwickelter Sterne, den sogenannten Roten Riesen“, sagt Walter Nowotny, der in der Sternwarte der Universität Wien forscht. Diese Himmelskörper mit großer Ausdehnung und besonders hoher Leuchtkraft stehen daher im Fokus der Wiener Forschergruppe.

Staub ist überall.  


Staub ist im All in verschiedener Form zu finden: Die beobachtbaren schwarzen Bahnen in der Milchstraße enthalten Staubpartikel, die Licht schlucken. Von Dunkelwolken spricht man, wenn Staub das Licht der Sterne blockiert. Und schließlich finden sich präsolare, also aus der Zeit vor der Entstehung des Sonnensystems stammende Staubkörner, in Meteoriten. Sternenstaub wird damit greifbar, wenn er in versteinerter Form auf der Erde landet.
 

Physiker und Mineralogen haben eine eher nüchterne Definition von Staub: „Gemeint sind mikroskopisch kleine Festkörper in der Größenordnung von Mikrometern, die physikalisch, chemisch und mineralogisch charakterisierbar sind“, so Nowotny. Für den Astrophysiker ist Staub vor allem als wichtiger Bestandteil der Materie im Universum von Interesse. Insgesamt macht kosmischer Staub zwar nur rund ein Prozent der Materie im Universum aus. „Sternenstaub ist aber dennoch besonders wichtig, da darin etwa die Hälfte der schweren Elemente gebunden ist: Staubpartikel „transportieren“ etwa Masse oder Impuls und sind damit entscheidend für verschiedene physikalische Effekte“, so Nowotny. 

Bildet sich ein Staubkorn in den äußeren Schichten eines Roten Riesen, wird es durch die Strahlung im Stern-inneren wegkatapuliert. Die Teilchen übertragen dabei den Impuls auf die benachbarten Gasteilchen. Dabei entstehen Winde mit einer Geschwindigkeit von etwa 15 Kilometern pro Sekunde – das sind 54.000 Kilometer pro Stunde. Möglich ist das nur unter den speziellen Bedingungen, wie sie in den Atmosphären der Roten Riesen vorherrschen: hohe Dichten und zugleich niedrige Temperaturen. Niedrige Temperatur bedeutet dabei etwa 1500 Kelvin, das sind rund 1200 Grad Celsius. „Nur unter solchen Bedingungen können sich Atome zu Molekülen zusammenschließen und Staubkörner bilden.“

Zukunft der Sonne.
 


Wird Materie weggeschleudert, ergibt sich daraus ein enormer Massenverlust für den Stern. In ihrer Entwicklung haben Rote Riesen ein Endstadium sonnenähnlicher Sterne erreicht. „Sie zu beobachten ist damit zugleich ein Ausblick in die Zukunft unserer Sonne“, so Nowotny. Wird Materie in großen Massen ins All katapultiert, bleibt als Rest ein sogenannter Weißer Zwerg. Er ist stark komprimiert und leuchtschwach. Ein Blick in die Zukunft, die für menschliche Maßstäbe noch in weiter Ferne liegt: „Der Lebenszyklus der Sonne dauert mehr als zehn Milliarden Jahre, aktuell ist die Sonne circa fünf Milliarden Jahre alt.“ Halbzeit für die Sonne also.

Für ein möglichst rundes Gesamtbild nähern sich die Forscher dem komplexen Thema aus drei Perspektiven: Sie beobachten mit Teleskopen, arbeiten im Labor und führen Modellrechnungen am Computer durch. „Erst das Zusammenspiel der Methoden erlaubt ein tieferes Verständnis der Vorgänge im Weltall“, sagt Nowotny. Auch wenn das Projektziel – den Ursprung des kosmischen Staubs besser zu verstehen – wie ein „winziger Puzzlestein“ wirkt: Gemeinsam mit vielen anderen sollen die Erkenntnisse ein besseres Bild vom Universum ergeben.

Für solche Beobachtungen sind spezielle Weltraumteleskope notwendig, da die Phänomene nicht durch die Erdatmosphäre beobachtbar sind. „Rote Riesen haben sehr typische Spektren. Das beobachtbare Licht ist dabei durch die Moleküle und Staubteilchen in den kühlen Atmosphären der Sterne geprägt “, so Nowotny. Die Infrarotspektroskopie ist das Werkzeug, um den Sternenstaub physikalisch zu untersuchen. Denn: Staub ist nicht gleich Staub. Auch im All gibt es unterschiedliche Arten, die Mineralogen unter die Lupe nehmen. In den Sternwinden bilden sich verschiedene Mineralien. Bei den Roten Riesen häufig sind etwa silikatische Mineralien, die man auch auf der Erde findet, zum Beispiel Olivine.

Modelle am Computer.  


Schließlich modellieren die Forscher am Computer, wie sich die Staubbildung auf die beobachtbaren Spektren der Sterne auswirkt. Hier setzt Nowotny den Fokus seiner Arbeit: „Die Simulation erlaubt uns besondere Einblicke“, sagt er und wählte dazu einen neuen Zugang: Bei bisherigen Untersuchungen lag der Fokus entweder auf der staubfreien Sternatmosphäre oder der Windregion weit entfernt vom Stern. Anhand von Modellen, die alle relevanten Sternschichten berücksichtigen, bildete Nowotny am Computer Sternspektren nach, die möglichst nahe an der Realität sind. Dazu nutzte der Wiener Astrophysiker verschiedene Modellierungsansätze. Einmal standen Fragen zur Mineralogie im Vordergrund: Welche Staubart entwickelt sich wo und mit welcher Teilchengröße? Und: Wie zeigen sich die verschiedenen Staubarten in den Infrarotspektren?

Pulsierende Sterne. 


In einem zweiten Ansatz berücksichtigte Nowotny auch die Pulsation im Sterninneren, ihre Effekte auf die atmosphärischen Schichten und das Licht, das ins All dringt. „Mit den neuen Computermodellen lassen sich nicht nur dynamische Aspekte wie die Entstehung von Wind nachstellen, sondern es können auch sehr charakteristische Eigenschaften der Roten Riesen wie etwa deren Lichtvariationen bei verschiedenen Wellenlängen simuliert werden.“ Stimmen die Details mit den Beobachtungen überein, erlaubt dies Rückschlüsse, ob ein physikalisches Szenario zutrifft. Mit seinem Modell der Simulation von Sternatmosphäre, Staubbildung und Wind hat Nowotny den Spielraum für Weltraumuntersuchungen am Computer jedenfalls erweitert.

Rote Riesen sind besonders helle, kühle und große Sterne. Sie entwickeln sich aus mit unserer Sonne vergleichbaren Sternen.
Massenverlustbedeutet bei sonnenähnlichen Sternen, dass sich in ihren äußeren Schichten Staubpartikeln bilden und ins All geschleudert werden. Die Teilchen übertragen dabei den Impuls auf das Gas in der Umgebung. Dadurch entstehen starke Winde.

Donnerstag, 17. April 2014

Es wird eng für die dunkle Energie.

Ultrakalte Neutronen zwischen zwei Platten als Messhilfe
aus scinexx                                                                     Ultrakalte Neutronen zwischen zwei Platten als Messhilfe

Dunkle Energie: Weniger Platz für exotisches Feld 
Messungen mit ultrakalten Neutronen machen die Quintessenz-Theorie unwahrscheinlicher 

Die Natur der Dunklen Energie ist weiter unklar. Aber neue Messungen machen ein exotisches Feld als Erklärung unwahrscheinlicher. Denn sie haben den Bereich stark eingeengt, in dem sich ein solches Feld noch verbergen könnte – um das mehr als Zehntausendfache. Gelungen ist dies dem europäischen Forscherteam mit ungewöhnlichen Mitteln: Sie nutzten ultrakalte Neutronen als Messwerkzeuge.

Fast drei Viertel des Kosmos sind nach gängiger Annahme mit Dunkler Energie angefüllt – einer geheimnisvollen Kraft, die der Gravitation entgegenwirkt. Sie ist vermutlich dafür verantwortlich, dass sich das Universum ausdehnt – und dies immer schneller. Welcher Natur diese Dunkle Energie aber ist, darüber kann bisher nur spekuliert werden. Eine mögliche Erklärung wäre Einsteins Kosmologische Konstante – und somit eine intrinsische Eigenschaft des Raums selbst. Deshalb nimmt sie auch zu, wenn sich der Raum ausdehnt.

Eine andere Erklärung liefert die "Quintessenz"-Hypothese: "Vielleicht ist der leere Raum nicht leer, sondern durch ein unbekanntes Feld erfüllt, ähnlich dem Higgs-Feld", erklärt Hartmut Abele von der TU Wien. Im Gegensatz zur Kosmologischen Konstante könnte dieses Feld in Raum und Zeit variieren. Untersucht wurden die Eigenschaften der Dunklen Energie bisher vor allem im kosmischen Maßstab– beispielsweise durch Messungen der Expansion des Universums.

Quantenzustände als Messhilfe

Doch Abele und seine Kollegen haben sich auf das andere Extrem verlegt: den Mikrokosmos. Bereits 2011 entwickelten Abele und sein Kollege Tobias Jenke dafür die Methode der Gravitations-Resonanz-Spektrometrie. Bei dieser werden ultrakalte Neutronen, die ungeladenen Bausteine der Atomkerne, zwischen zwei parallele, horizontale Platten gebracht. Nach der Quantentheorie können die Neutronen in diesem Zustand nur diskrete Quantenzustände einnehmen – und diese werden wiederum durch die Gravitation beeinflusst, die auf die Teilchen wirkt.


Wirkt die Dunkle Energie, beispielsweise in Form eines Quintessenz-Felds auf dieses System ein, dann müsste sich dies in winzigen Abweichungen von dem theoretisch Vorhergesagten bemerkbar machen. Um diese winzigen Schwankungen zu messen, versetzen die Forscher eine der Platten in Schwingungen mit sich verändernder Frequenz. Entspricht eine der Frequenzen genau der Energiedifferenz zwischen zwei Quantenzuständen, gibt es einen Resonanzeffekt und das Neutron springt in einen höheren Energiezustand. Dieses Ereignis können die Forscher messen und damit die genaue Lage der Quantenzustände – und mögliche Abweichungen - bestimmen.

Weniger Raum für "Chamäleon"-Effekt 

Diese Methode haben Jenke, Abele und ihre Kollegen nun genutzt, um eine der Quintessenz-Theorien zu überprüfen - das sogenannte Chamäleon-Szenario. Dieses beschreibt eine bestimmte Form der Wechselwirkung zwischen dem Feldpotenzial der Dunklen Energie und der Materie. Die aktuellen Messungen ergaben jedoch bisher keine Hinweise auf eine solche Wechselwirkung. "Wir haben keine Abweichungen von den etablierten Newtonschen Gesetzen der Schwerkraft detektiert", berichtet Abele.

Das bedeutet auch, dass der Bereich, in dem sich diese rätselhaften Feldwirkungen noch verbergen könnten, damit erheblich verkleinert wird. Die neuen Daten senken die in bisherigen Messungen festgestellte Obergrenze um das mehr als Zehntausendfache ab, wie die Forscher berichten. "Wir können dadurch eine große Spannbreite von Parametern ausschließen", sagt Abele.

Die Suche geht weiter

Noch ist damit das Chamäleon-Szenario oder die Quintessenz-Theorie nicht vom Tisch. Denn theoretisch ist es immer noch möglich, dass es neuartige physikalische Felder oder Kräfte unterhalb der momentanen Auflösungsgrenze der Gravitations-Resonanz-Spektrometrie gibt. Die Forscher arbeiten daher daran, ihre Methode weiter zu verfeinern. Eine Steigerung der Genauigkeit um einige Größenordnungen halten sie dabei für durchaus machbar.


Sollte sich allerdings auch dann kein Hinweis auf exotische Felder und deren Wechselwirkungen finden, dann spräche das für Einsteins Kosmologische Konstante – und dafür, dass die Dunkle Energie doch eine ureigene Eigenschaft des Raumes selbst ist. ( Physical Review Letters, 2014)

Mittwoch, 16. April 2014

Vor zehn Jahren: das "Manifest" der Hirnforscher.

aus nzz.ch, 16. April 2014, 05:30

Kritik an Hirnforschern
«Das Körper-Geist-Problem wird unzulänglich bedacht»



Zehn Jahre nach der Publikation eines «Manifests» von Hirnforschern nimmt eine Gruppe von Wissenschaftern die damaligen Prophezeiungen unter die Lupe. Im Interview erklärt der Initiator der Gruppe, Felix Tretter, warum die Hirnforscher allein nicht weiterkommen.


Herr Tretter, die prophezeite Revolution der Psychopharmaka ist, wie Sie schreiben, ausgeblieben. 
Weshalb?

Dass sich psychische Krankheiten heute nicht viel besser behandeln lassen als vor zehn Jahren, liegt an der Eindimensionalität des therapeutischen Ansatzes. So beruht der derzeitige Fokus darauf, bestimmte neuronale Schalter (Rezeptoren) im Gehirn mit Medikamenten gezielt zu beeinflussen. Damit packt man die Störung aber nicht an der Wurzel an, sondern tangiert sie lediglich an der Oberfläche. Das zeigt bereits der um zwei Wochen verzögerte Wirkungseintritt. Auch angesichts der vielen Wechselwirkungen und Rückkoppelungen zwischen den schätzungsweise rund 100 Milliarden Nervenzellen im Gehirn erscheint es schwer vorstellbar, wie es mit einer so simplen Methode gelingen soll, weitreichende therapeutische Effekte zu erzielen.
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Das Manifest aus der Hirnforschung

lsl./NvL. ⋅ Im Jahr 2004 haben elf mehrheitlich deutsche Wissenschafter in der Zeitschrift «Gehirn und Geist» ein «Manifest» veröffentlicht.¹ Sie gaben einen kurzen Überblick, wo die Hirnforschung damals stand, und machten Vorhersagen, welche Erkenntnisse sie in den nächsten zehn beziehungsweise zwanzig bis dreissig Jahren bringen werde. Einige Aussagen sind sehr zurückhaltend. So heisst es etwa, dass man noch nicht einmal in Ansätzen verstehe, nach welchen Regeln das Gehirn arbeite, wenn «unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen», oder «wie das innere Tun als ‹seine› Tätigkeit erlebt wird». Und es sei überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln erforschen könne.

Jedoch habe man herausgefunden, schreiben die Forscher weiter, dass neuronale Prozesse und bewusst erlebte geistig-psychische Zustände aufs Engste miteinander zusammenhingen. Zwar kenne man die genauen Details noch nicht, jedoch könne man davon ausgehen, dass die mentalen Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar seien. Dann prophezeien sie, in den nächsten zwanzig bis dreissig Jahren werde man so weit sein, dass man «widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen werde, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen». An dieser und ähnlichen Aussagen, die eine rein biologische Sichtweise erkennen lassen, störten sich viele Wissenschafter, insbesondere Philosophen, die sich seit Jahrhunderten mit Fragen über Geist und Bewusstsein auseinandersetzen.

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In Ihrem Memorandum, erschienen in der Zeitschrift «Psychologie heute», kritisieren Sie unter anderem den Datensammel-Eifer heutiger Forschergenerationen. Sind möglichst grosse Datenmengen nicht eine Voraussetzung, um Zusammenhänge besser zu verstehen? Auch bei den Genen hat man zunächst nach Varianten gesucht und ist erst später dazu übergegangen, die Auswirkungen dieser Varianten auf Protein-Ebene zu erforschen.

Die Big-Data-Strategie setzt auf die Fähigkeit von statistischen Methoden, aus den riesigen Datenmengen typische Muster herauszufiltern. Das ist zwar ein interessanter Ansatz, aber ohne eine zugrunde liegende Theorie wenig verständnisfördernd. So gibt es in der Mathematik verschiedene Methoden, um komplexe Beziehungsgeflechte zu entschlüsseln. Hierzu zählen etwa die Faktorenanalyse oder die Graphentheorie. Solche Methoden verfügen über eine hohe analytische Kapazität und liefern komplexe, unübersehbare Modelle. Sie lassen sich nur noch mithilfe von mathematischen Kennzahlen charakterisieren. Das bedeutet: Computer können das Gehirn vielleicht analytisch «verstehen», wir Menschen aber auf diese Weise nicht.


Halten Sie Projekte wie das Human Brain Project daher für sinnlos?

Das Human Brain Project versucht vor allem, vorhandene Daten aus den verschiedensten Forschungsbereichen zusammenzuführen. Es soll idealtypische Neurone von idealtypischen Gehirnarealen und idealtypischen Verbindungen zwischen diesen Regionen modellieren und in ein umfassendes Computermodell einbringen. Ziel dabei ist es, die neuronalen Prozesse zu simulieren und durch Veränderung der Modellparameter Störungen nachzuahmen. Auch hier fehlt allerdings ein Leitkonzept, also eine Theorie, wie das Gehirn funktioniert. Stattdessen sollen die Erkenntnisse gewissermassen durch Probieren gewonnen werden. Dennoch ist dieses Projekt ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung der Theoriebildung. Das «Körper-Geist-Problem» wird darin jedoch unzulänglich bedacht. [Gemeint ist damit die Frage, wie das Gehirn – also die Nervenzellen mit all ihren Verbindungen und Funktionen – das Bewusstsein erzeugt; Anm. d. Red.].

Im Gegensatz zu den Manifest-Autoren sagen Sie, dass man mentale Funktionen wie Empathie oder Imagination nicht im Gehirn lokalisieren kann. Denn eine erhöhte Aktivität in einem bestimmten Hirnareal sagt nichts über deren Spezifität aus. Es gibt aber Patienten, die beispielsweise infolge einer schlaganfall- oder unfallbedingten Verletzung eines umgrenzten Hirnareals spezifische Fähigkeiten nicht mehr besitzen, etwa die grammatikalische Kompetenz oder Empathie. Ist das nicht ein Hinweis, dass sich Funktionen zumindest teilweise lokalisieren lassen?

Je nachdem, welche Verarbeitungsstufe der sensorischen Eingangs- oder der motorischen Ausgangsbahnen im Gehirn beschädigt ist, sind die hiervon betroffenen geistigen Funktionen schwer beeinträchtigt. Durch intensives Training lassen sich diese aber teilweise wieder herstellen. Das spricht für eine gewisse multilokale Repräsentation solcher Funktionen und den Netzwerk-Charakter des Gehirns. Die einfache Lokalisationstheorie ist falsch. Jeder Gehirnort ist an vielen Funktionen beteiligt, und jede Funktion ist mit vielen Gehirnorten verbunden. In dieser Hinsicht sind Hirnkarten von allen Verbindungen im Gehirn, etwa das Human Connectome Project, zweifellos ein wichtiges Vorhaben, das mehr örtliche Präzision bringt. Ein weiteres Problem ist aber, dass psychologische Konstrukte wie «Empathie» schwer zu beschreiben sind. Deshalb erscheint mir die Lokalisation dieses sozialen Gefühls höchst problematisch, selbst wenn man nach dem Netzwerk und nicht nach einem Hirnareal der Empathie sucht. Denn grosse Teile dieses Netzwerks sind vermutlich auch bei Hassgefühlen beteiligt.*

Die Manifest-Autoren schreiben: Der Geist fiel nicht vom Himmel, sondern hat sich im Lauf der Evolution entwickelt. Kann die Evolutionsbiologie einen Beitrag zur Klärung der Frage leisten: Was ist der Geist?

Nein, das glaube ich nicht. Denn bevor man über den Geist spricht, muss man erst das Geistige definieren und die Frage beantworten: Was ist das Bewusstsein? Die britische Psychologin Susan Blackmore hat dazu ein Dutzend Hirnforscher befragt und ein Dutzend verschiedene Definitionen erhalten. Der amerikanische Hirnforscher Christof Koch war sogar nicht abgeneigt, Bienen eine Vorform von Bewusstsein zuzuschreiben. Wenn ein derart breiter Dissens besteht, dann weiss man nicht, was mit Bewusstsein eigentlich gemeint ist: Wachheit, Wissen, Selbstbewusstsein oder etwas anderes? Über etwas zu spekulieren, das man weder definieren noch kommunizieren kann, ist nicht sehr effektiv.

Sie plädieren dafür, die Philosophie mehr einzubinden. Wie kann diese die bestehenden Wissenslücken füllen?

Zu den grundsätzlichen Problemen der Neurowissenschaften gehört, dass es keine differenzierte Gehirntheorie gibt. Hier kann die Philosophie als Mutter aller Wissenschaften weiterhelfen, zumal sie über viel Erfahrung mit der Theoriebildung verfügt und viel über erkenntnistheoretische Grenzen wissenschaftlicher Methodik weiss. Diesen Weg haben auch die Physiker eingeschlagen. So haben sich vor rund 90 Jahren Physiker und Philosophen im Rahmen des Wiener Kreises über die Grundfragen der Erkenntnisse in der modernen Physik ausgetauscht. Die Ergebnisse liefern interessante Einsichten etwa zur wissenschaftlichen Erkenntnisfähigkeit, zum Verhältnis von Empirie und Theorie und zur Theoriebildung. Dies wäre für eine wirklich multidisziplinär begründete Hirnforschung essenziell. 

Philosophie wäre aber auch wichtig wegen ihrer langen Diskussion des Gehirn-Geist-Problems, wegen ihrer Kompetenz zur Frage «Was ist der Mensch?» und wegen der Notwendigkeit einer Ethik der Neurowissenschaft: Sollen wir alles tun, was wir technisch können?

Sie fordern mehr Nachdenklichkeit in der Neurowissenschaft. Aus einem interdisziplinären Dialog soll eine «reflexive Neurowissenschaft» entstehen. An welche Disziplinen haben Sie neben der Philosophie noch gedacht?

Ein Austausch mit der Physik, der Chemie, den Biowissenschaften, der Psychologie und insbesondere den Systemwissenschaften wäre für eine echte Interdisziplinarität förderlich. Darüber hinaus können die Sozial- und Kulturwissenschaften, aber auch die überkonfessionelle Theologie, wichtige Beiträge leisten.

Warum sind die Systemwissenschaften so wichtig?

Den mathematisch operierenden Systemwissenschaften kommt eine Schlüsselrolle zu, da sie aufbauend auf der Computational Neuroscience den Systemcharakter des Gehirns am besten berücksichtigen. Sie sind am ehesten in der Lage, die auf verschiedenen Ebenen des Gehirns stattfindenden komplexen neuronalen Prozesse begrifflich und methodisch aufzuschlüsseln und darzustellen. Die Kommunikation zwischen einzelnen Nervenzellen verläuft nicht nur in zwei Richtungen, besteht also nicht nur aus Rede und Antwort. So werden die Signale einzelner Neurone von anderen häufig verstärkt oder abgeschwächt. Um die enorme Vielfalt an derartigen Einflüssen zu berücksichtigen, bedarf es komplexer mathematischer Modelle und Computersimulationen.

Haben Sie den Eindruck, dass grundsätzlich Interesse für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit besteht?

Ja, es gibt vereinzelte Ansätze. Aber im Streit der Fakultäten scheint sich dies in letzter Zeit wieder aufzulösen. Auch viele Hirnforscher und Philosophen sperren sich gegen einen Austausch. Sie haben Mühe mit den Methoden der jeweils anderen Disziplin: Die reden ja nur, sagen die einen. Die machen nur Experimente, die anderen. Etwas mehr Respekt füreinander wäre wünschenswert. In diesem Sinne engagiere ich mich mit Forschern aus verschiedenen Fakultäten seit einigen Jahren für die Entwicklung neuropsychiatrischer Theorien von psychischen Krankheiten.


*Nota.

Eine Revolution in der Neurowissenschaft haben die 'bildgebenden Verfahren' gebracht, ohne die hätte es das Manifest nicht gegeben. Da sie aber eben Bild-gebend und nicht Digit-gebend sind, liegen sie im analogen Modus - und in dem können Bejahung und Verneinung nicht dargestellt werden. Mit andern Worten: Alles, was man zu 'sehen' meint, könnte auch genau das Gegenteil bedeuten. Denn merke: Das Phänomen ist etwas anderes als das, was es bedeutet.
JE