Mittwoch, 2. April 2014

Zum Tod von Jacques Le Goff.

aus nzz.ch, heute, 2. April 2014, 15:53

Geschichte als Wissenschaft und als Erzählung 
 
von Hans-Jürgen Heinrichs  

«Die Humanität liegt im Leben, und der Tod ist nur, das scheint offensichtlich, ein Aspekt des Lebens. Deshalb müssen wir das Leben zur Basis erheben. Ich glaube, dass alles Wissen, dass all unsere wissenschaftlichen Disziplinen, ob es sich dabei nun um die Geistes- und Sozialwissenschaften handelt, wie ich sie ausübe, oder um die Naturwissenschaften, versuchen müssen, die Entfaltung und das gute Funktionieren des Lebens zu verstehen und zu begünstigen.» – Dieser Überzeugung hat der 1924 in Toulon geborene und am 1. April in Paris verstorbene Jacques Le Goff sein Leben und sein Werk gewidmet. Mit Georges Duby war er einer der führenden Mediävisten. Vor allem mit seinen Büchern «Der Mensch des Mittelalters», «Die Intellektuellen im Mittelalter», «Die Geburt des Fegefeuers», «Die Geburt Europas im Mittelalter», des Weiteren mit seiner monumentalen Biografie Ludwigs des Heiligen, des Kreuzfahrers, Friedensstifters und Gegenspielers von Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen, mit der Beschreibung des Lebens von Franz von Assisi, mit seinen Arbeiten zur Geschichte der Stadt und vielem anderem mehr hat Jacques Le Goff sich, weit über die Fachwelt hinaus, einen Namen gemacht.

Eine Hauptfigur der «Annales»-Schule

Der mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen geehrte Gelehrte war eine der Hauptfiguren der dritten Generation der «Annales»-Schule. Die «nouvelle histoire», der er das Wort redete, hat, nach seiner Überzeugung, zwei Gefahren zu meiden: einerseits zu stark zu systematisieren, andererseits rein empirisch vorzugehen. Bei ihrem Versuch, die Geschichte des «ganzen Menschen» zu schreiben – eine Geschichte, die auch Alltag und Mentalitäten einbegreift –, wandten sich die Historiker schon der ersten beiden Generationen der «Annales»-Schule, Lucien Febvre, Marc Bloch und Fernand Braudel sowie Georges Duby, gegen den Positivismus des 19. Jahrhunderts. Das hiess freilich gerade nicht, dass sie bei ihrer Rekonstruktion historischer Längsschnitte («longue durée») quantifizierbare Daten aus Wirtschaft und Gesellschaft vernachlässigt hätten.

Wenn Jacques Le Goff den Historiker nicht auf den Dokumentaristen reduziert wissen wollte, dann hatte er das Schöpferische dieser Wissenschaft, die ihr eigene Poesie und Erzählform, im Blick. Es ging ihm um ein «Projekt der ‹totalen Geschichte›», um die Erneuerung des gesamten Arsenals der Geschichtswissenschaft, nicht bloss eines ihrer Spezialgebiete, wie er sagte. Es gibt, davon war Le Goff überzeugt, in den Humanwissenschaften keine reinen Tatsachen und keine gegeneinander isolierbaren Sachverhalte: Wissenschaft dürfe sich nicht vom Tatsachenglauben blenden lassen und dürfe nicht in den Grenzen einer Fachdisziplin erstarren. So verwundert es denn auch nicht, dass man Le Goff sowohl auf Fachkongressen als auch bei politisch-kulturellen Anlässen in ganz Europa traf, Veranstaltungen zumal, die der Besinnung auf die ethischen Grundlagen der Gesellschaft gewidmet waren. Seine Geschichtsauffassung und sein Bild von Europa versuchte Le Goff stets auch einem jungen Lesepublikum – zuvörderst seinen Enkelkindern – mit eigens auf es zugeschnittenen Büchern zu vermitteln.

Direktor der Ecole des hautes études en sciences sociales, Co-Direktor der Zeitschrift «Annales», Vizepräsident der Société d'ethnologie française und Mitglied vieler wissenschaftlicher Gesellschaften, war Jacques Le Goff auch wissenschaftlicher Direktor der internationalen, in mehreren Ländern, Verlagen und Sprachen erscheinenden Buchreihe «Faire l'Europe». – «Europa bauen», das hiess für ihn immer auch, das Mittelalter, dessen Lebenswelten, Mentalitäten und nicht zuletzt dessen Architekturen, zu verstehen; zu sehen, dass etwa die modernen Städte in ihrer Struktur viel mehr den Städten des Mittelalters als denen der Antike entsprechen: Ohne die Lebensform und den Geist der Städte hätte sich niemals die europäisch-abendländische Kultur und Zivilisation herausbilden können.
Geschichte für die Zukunft

Geschichtswissenschaft, so Le Goffs Credo, müsse dazu dienen, aus der Geschichte für die Zukunft zu lernen. Der Historiker sei ein Gedächtnisverwalter, der versuche, die Vergangenheit in die Zukunft zu verlängern. Er schaue wie durch Fernrohre in die Zeiten – aber er dürfe sich weder als blosser Notar des Gewesenen noch als Prophet missverstehen. Er befinde sich stets an den Schnittstellen von Geschichte und Geschichten, angewiesen auf die Erfahrungen, die in jeder einzelnen der Geschichten zum Ausdruck kämen. «Geschichte als Wissenschaft» und «Geschichte als Erzählung»: Das war die Doppelgestalt der Disziplin von Jacques Le Goff – einer erzählenden Wissenschaft, die er gegenüber anderen Disziplinen und gegenüber dem Literarischen, Künstlerischen, Symbolischen und Imaginären zu öffnen verstand.

aus derStandard.at,  1. 4. 2014

Französischer Historiker Jacques Le Goff gestorben
Revidierte in klarer und verständlicher Sprache das Bild vom Mittelalter

Paris - Der französische Historiker Jacques Le Goff ist tot. Der international bekannte Spezialist für die Geschichte des Mittealters starb nach Angaben seiner Familie vom Dienstag im Alter von 90 Jahren in Paris. Le Goff war auch Autor und Herausgeber der Zeitschrift "Annales", einer wichtigen Publikation französischer Historiker. Als Wissenschafter lehrte er unter anderem in Rom, Lille und Paris.

Die Geburt Europas hatte Le Goff ins Mittelalter verlegt, und daran, dass das Individuum in der Neuzeit "geboren" wurde, glaubte er auch nicht. Le Goff galt als einer der bedeutendsten europäischen Historiker der Gegenwart und als "Papst" der "Nouvelle Histoire", der Neuen Geschichte. Eine Schule, die auf die Erneuerung der Forschungsmethoden und Interdisziplinarität setzt. Le Goff gehörte zu den wenigen Historikern, denen es gelungen ist, das Mittelalter und die europäische Geschichte gegenwärtig zu machen.

Sein Forschungskonzept bestand aus einer Kombination aus Sozial-, Wirtschafts- und Mentalitäten- geschichte, die nach kollektiven Weltbildern und alltagsweltlich verankerten Orientierungsmustern fragt. Le Goff revidierte in klarer und verständlicher Sprache das Bild vom Mittelalter und stellt die Kontinuität von neuzeitlicher und vorneuzeitlicher Geschichte auf.

Der 1924 in Toulon geborene Franzose wurde international bekannt mit Werken über das Mittelalter, die Identität Europas und mit Biografien. Viel Anerkennung fand seine Biografie "Ludwig der Heilige" über den französischen König Ludwig IX (1214-1270), aber auch die Bände "Die Intellektuellen im Mittelalter", "Die Geburt des Fegefeuers", "Das alte Europa und die Welt der Moderne" und "Die Geschichte Europas" wurden viel gelobt.

Entdecker der Lehrenden und Denkenden

In seinen Werken über das Mittelalter deckt er Schicht um Schicht die Träume, Ängste, Fantasien und Vorstellungen der mittelalterlichen Menschen auf, was bedeutet, dass er stets die gesamte Geschichte im Blick hatte. Er interessierte sich nicht nur für die Welt der Arbeiter, sondern wird auch zum Entdecker der Lehrenden und Denkenden.

Für seine Arbeiten zog der Historiker auch Quellen heran wie Inventare, Predigten und Testamente. Mit seinem innovativen Forschungsansatz revolutionierte er die bisherige Historiographie. Denn seine Arbeiten belegen, dass das Mittelalter keine statische und rückschrittliche Zwischenzeit zwischen Antike und Neuzeit war. In Wahrheit erstreckten sich die tiefen Strukturen des Mittelalters vom 4. bis zum 19. Jahrhundert, so Le Goff.  

APA, 1.4.2014

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