Dienstag, 29. September 2015

Und es gibt ihn doch noch.


Grad dieser Tage hat Manfred Frank in der Frankfurter Allgemeinen einen großen Aufsatz über den Niedergang der philosophischen Lehre in Deutschland veröffentlicht. "Ein Gespenst geht um an Deutschlands philosophischen Seminaren: das Gespenst eines Weltsiegs der analytischen Philosophie und eines Massenexodus der geschlagenen kontinentalen Philosophie", heißt es da gleich eingangs. "Wer kontinentale Philosophie studieren will, sollte nach China oder Brasilien gehen. In Deutschland liegt das Erbe des deutschen Idealismus am Boden. Seine gedankliche Wucht versandet im Kleinteiligen." Kontinentale Philosophie, müssen Sie wissen, heißt in Amerika alles, was im Abendland - von Thales bis Husserl - vor Wittgenstein gedacht wurde. Allenthalben setzt sich die sogenannte angelsächsische, in Wahrheit amerikanische "Analytische Philosophie" fest, durch die man durch Worte zu Worten gelangt.

"Ja, es begann in jüngerer Zeit eine neue Scholastik, eher: ein neuer Wolffianismus an Deutschlands Philosophischen Seminaren. So nannte man die Philosophie, die im achtzehnten Jahrhundert im Anschluss an Christian Wolff aus Leibnizens genialen Aperçus eine zusammenhängende, eine systematische 'Schulphilosophie' - eben eine Scholastik - zu errichten versuchte und flächendeckend die deutschen Universitäten beherrschte. Schon damals gab es eine allgemein anerkannte Terminologie, man stritt sich um Tüttelchen von Wortdefinitionen, man spaltete die dünnsten Begriffshärchen; aber man war sich einig im Dissens, weil man die gleichen Verfahren und dieselben Definitionen benutzte. 

Vielfach tönt die Klage, dass es so wieder an vielen unserer philoso-phischen Seminare aussieht. Der scholastische Trend wird durch die Uniformierung und Verschulung der Studiengänge nach Bologna fast alternativlos. Statt großer Themen, statt Forschungen mit großem Atem ist eine Mikrologie von Argumentanalysen um ihrer selbst willen in die philosophischen Debatten eingezogen, die das Interesse gerade auch der anschlussfähig geglaubten Naturwissenschaftler verspielt, die Philosophie isoliert und das Gros der Studenten abschreckt oder ins Ausland vertreibt."


Christian Wolff - das war der Mann, dessen pedantisches Definitionssystem vor Kants koperni-kanischer Wende überall das Denken beherrscht hatte, auch das von Kant. Und sowas soll nun wieder unsere Universitäten einschläfern?

Doch passend dazu bringt die heutige NZZ einen Bericht von Uwe Justus Wenzel:


aus nzz.ch, 19. 9. 2015

Internationaler Kant-Kongress in Wien
Das Gehirn und die Schraubenwindungen 
Immanuel Kant (1724 bis 1804) ist unser ältester philosophischer Zeitgenosse. Die Unerschöpflichkeit seines Denkens dokumentierte der Internationale Kant-Kongress in Wien.

von Uwe Justus Wenzel

«Der unwiderstehliche Drang zum Philosophieren ist wie der Brechreiz bei Migräne, der etwas auswürgen will, wo nichts ist.» – Der unfreundliche Satz stammt von dem Physiker und Mathematiker Ludwig Boltzmann und ziert eine der vielen Schautafeln, die derzeit in einer Ausstellung in der Universität Wien zu sehen sind. Die geistesgeschichtliche Exposition ist dem Wiener Kreis gewidmet, einer in den zwanziger und frühen dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zur Blüte gekommenen Denkschule des «logischen Empirismus», zu deren Ahnen Boltzmann für gewöhnlich gezählt wird. Deren Mitglieder waren, was das Philosophieren angeht, vielleicht nicht ganz so rigoros wie ihr Vorfahr, aber sie wollten doch (mit einem Körnchen Salz) aus der Philosophie ein wissenschaftliches Unternehmen machen, das Kopfschmerzen nicht verursacht, sondern heilt. Wie es so kommt, hat jedoch der vergebliche Versuch (namentlich Rudolf Carnaps), in der Welt der Sprache einen undurchlässigen Zaun zwischen dem Reich sinnvoller und dem Reich sinnloser Sätze zu errichten, zu erneutem und nicht geringem Kopfzerbrechen – und zu Kopfschütteln – geführt.

Die Vernunft belästigt sich

Immanuel Kant, zu dem zwar einige Verbindungslinien vom Wiener Kreis zurückführen, wusste es anderthalb Jahrhunderte früher besser. Unser ältester philosophischer Zeitgenosse, in dessen Namen in der vergangenen Woche in der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis etwa sechshundert Philosophinnen und Philosophen aus über vierzig Ländern zum 12. Internationalen Kant-Kongress zusammenkamen, eröffnet sein erstes Hauptwerk, die «Kritik der reinen Vernunft» (1781), mit einem unvergesslichen Diktum über das «besondere Schicksal» der menschlichen Vernunft: Sie werde «durch Fragen belästigt [. . .], die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben; die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.» Anders gesagt: Metaphysik ist ein unvermeidliches Bedürfnis, das sich nicht befriedigen, aber auch nicht austilgen lässt.

Das zu wissen, ist selbstredend auch kein Rezept gegen Kopfschmerzen, wie ein anderes Zitat auf einer anderen Tafel einer anderen Ausstellung in der Wiener Universität dokumentieren mag. Die Schau, im Foyer der Universitätsbibliothek aus Anlass des Kongresses eingerichtet, ist nicht ganz so ansehnlich wie diejenige zum Wiener Kreis: «Umwege. Annäherungen an Immanuel Kant in Wien, in Österreich und in Osteuropa». (Dafür aber ist ihr ein zweibändiges «Lesebuch» von beträchtlichem Umfang zur Seite gestellt.) Das Zitat, Robert Musils Roman «Die Verwirrungen des Zöglings Törless» (1906) entnommen, beschreibt, was der Protagonist erlebt, als er ebenjene erste «Kritik» Kants zu lesen versucht: «. . . vor lauter Klammern und Fussnoten verstand er kein Wort, und wenn er gewissenhaft mit den Augen den Sätzen folgte, war ihm, als drehe eine alte, knöcherne Hand ihm das Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopfe.» Kant-Forscherinnen und -Forscher sind in aller Regel längst über das Törlesssche Anfangsstadium hinaus: Sie drehen sich, um im Bild zu bleiben, das Gehirn selbst aus dem Kopf. Rahmenthema des «grössten philosophischen Ereignisses in Österreich im Jahre 2015», wie die in leicht ridikülem PR-Ton gehaltene Ankündigung den Fachkongress vorab rühmte, war «Natur und Freiheit» – ein zuverlässiger Klassiker, der in Abständen auch in der öffentlichen Diskussion Widerhall findet; zumeist freilich dann, wenn von weltanschaulich wirken wollenden Naturwissenschaftern angebliche Beweise für die Unfreiheit des menschlichen Willens herumgeboten werden.

Leistungsschau

Die Hirnforschung, die seit gut zehn Jahren – allmählich allerdings abflauenden – Wind macht, spielte in Wien jedoch, soweit ersichtlich, keine grosse Rolle mehr. Auch wenn Kant einst den «Widerstreit» zwischen Natur und Freiheit, Determinismus und Selbstgesetzgebung, als Entzweiung der Vernunft mit sich selbst dramaturgisch höchst effektvoll in Szene gesetzt hat, wurde das Begriffspaar in Wien überwiegend eher im Modus undramatischen Normalbetriebs bearbeitet – eines Modus, der Erkenntnisgewinne keineswegs ausschliesst, ebenso wenig indes Langeweile. Normalität herrschte auch sonst, ausserhalb des Rahmenthemas. Wie bei der alle fünf Jahre an wechselnden Orten stattfindenden Leistungsschau der Kant-Deutung üblich, wurde in den (etwa vierhundertfünfzig) Vorträgen das gesamte – breite – Spektrum des Königsberger Philosophen aufgefächert: von der Erkenntnistheorie bis zur Religionstheorie, von der Naturphilosophie bis zur Ethik, von der Anthropologie bis zur Metaphysik. Ein Ende der Interpretation und der Interpretationsmöglichkeiten ist nicht abzusehen. (Das gilt, beiläufig, für alle zu Recht kanonisierten Werke der Philosophiegeschichte.)

Das Schaulaufen des akademischen Nachwuchses war, obgleich bisweilen in sehr spärlich besetzten Hörsälen stattfindend, nicht der unwichtigste Teil des Geschehens. Inzwischen scheinen «analytischer» Stil und «metaphysischer» Inhalt wie selbstverständlich Hand in Hand zu gehen – Migräneanfälle löst das nur selten aus.


Nota. - Ich fasse zusammen: Er lebt wohl immer noch; doch in seinem Heimatland nur noch eben so, schon sind sie dabei, ihn zum Klassiker einzubalsamieren. Der Witz ist: Gerade in Amerika, dem Mutterland des analytischen Heuschreckenschwarms, ist Kant, ist die Kritische Philosophie so prominent wie noch wie, und wird immer prominenter. Selbst mein Fichte-Blog hat ein Gutteil seiner Leser in den USA
JE  


Dienstag, 22. September 2015

Gesellige Jäger.

aus Die Presse, Wien, 19. 9. 2015

Killer und Kooperator
Wie hat es der Homo sapiens geschafft, die ganze Erde zu erobern? Eine neue Theorie sieht zwei Faktoren: Gruppenbildung und Waffentechnologie.

von Thomas Kramar

Der Mensch ist kein Tier, weil er weiß, dass er eins ist“, definierte Hegel hübsch dialektisch. Das Zitat fiel schon am Anfang des derzeit laufenden Philosophicums Lech mit dem Thema „Neue Menschen!“. Es geht, wie der Untertitel sagt, um „bilden, optimieren, perfektionieren“, um das also, was der Mensch werden kann, will, soll. Oder nicht werden soll. Ein „Mängelwesen“ nannte ihn Arnold Gehlen: Er sei so schlecht an die Natur angepasst, dass er sich eine zweite Natur schaffen müsse, die Kultur. Das ist nicht ganz gerecht, der Mensch kann auch ohne Kultur schon einiges, er bewegt sich an Land und im Wasser passabel fort, er hält Hitze und Kälte ganz gut aus, er hört und sieht nicht schlecht, er kann jagen und sammeln. All das kann freilich nicht erklären, wieso er das Wesen geworden ist, das die Erde beherrscht wie kein anderes. Und das einzige, das über sich nachdenken kann.
Wenn man – wie derzeit die Philosophen in Lech – darüber nachdenkt, was der Mensch noch werden könnte, passt es ganz gut dazu, zu reflektieren, wie er geworden ist, was er ist. Nicht fertig jedenfalls, das hat uns Darwin gelehrt, jede Art ist, so betrachtet, nur eine Zwischenform, ein Übergangszustand. Und doch suchen die Anthropologen nach Faktoren, die die (bisherige) Entwicklung zum Homo sapiens geprägt haben. Das Werfen etwa: Kein Affe kann so effektiv Steine schleudern wie wir. Diese Jagdtechnik könnte die Entstehung des aufrechten Gangs begünstigt haben, auf den wir uns so viel einbilden. Er ist freilich schon bis zu vier Millionen Jahre alt. Viel später kam das Feuer, vor einigen hunderttausenden Jahren. Dass wir es machen und hüten, war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass unser Gehirn weiter wachsen konnte. Es ist nämlich ein gefräßiges Organ, das viel Energie braucht. Gekochtes Fleisch bringt viel Energie, mehr als rohes, das man erst mühsam kauen muss. Auch stärkehaltige Pflanzen – die, wie jeder Diätwillige weiß, viel Energie enthalten – sind gekocht besser verwertbar.
Das Feuer spielt auch eine Rolle in einer neuen Theorie, die erklären soll, wieso eine Spezies der Gattung Homo die ganze Erde erobern konnte – und dann als einzige übrig blieb: der Homo sapiens. „How we conquered the world“ lautete jüngst die Titelzeile des „Scientific American“. Der Evolutionsbiologe Curtis W. Marean (Arizona State University) sieht zwei Faktoren: die intensive Kooperation auch mit nicht verwandten Individuen und eine neue Waffentechnologie.
Mareans Erzählung beginnt vor ca. 160.000 Jahren an der Südküste von Südafrika, am Pinnacle Point, dort hat er jahrelang gegraben. Dort fand man die ältesten Zeugnisse für die Verwendung von Farbstoffen durch Menschen. Und man fand Muschelschalen. Als in einer Abkühlungsperiode andere Nahrung rar wurde, verlegte man sich dort auf Meeresfrüchte, sagt Marean: „Das war das erste Mal, dass Menschen eine reiche, voraussagbare und hochwertige Ressource zum Ziel nahmen.“ Zumindest die ersten beiden Adjektiva hätten auf jagbare Säugetiere oder Vögel nicht zugetroffen. Die revolutionäre marine Nahrung habe eine neue Intensität von Kooperation begünstigt: von Gruppen gegen andere Gruppen, die auch nach den Meeresfrüchten gierten.
Speerspitzen. 

So wurden wir zu einem ultrasozialen Wesen, wie's der Anthropologe Michael Tomasello nennt, allerdings mit Tendenz zur Xenophobie. In der Verteidigung von Ressourcen gegen konkurrierende Gruppen hat sich laut Marean die Entwicklung neuer Speere bewährt, mit kleinen Steinklingen, befestigt an gekerbten Schäften. Auch solche Speerspitzen wurden am Pinnacle Point gefunden, sie werden aber deutlich jünger datiert – das ist eine Schwäche von Mareans Theorie.
Unstrittig ist, dass sich solche Speertechnologie – weiter verbessert durch den Einsatz von Feuer zur Bearbeitung der Klingen – auch bei der Jagd bewährt haben muss. Die alten Südafrikaner hätten wohl auch gelernt, die Spitzen in Gift zu tauchen und die angeschossenen Tiere so schneller zu schwächen, spekuliert Marean.
So gerüstet, dazu nach innen kooperativ und nach außen feindselig, hätte Homo sapiens dann seine Welteroberung angetreten, sei vor 45.000 Jahren nach Westeuropa gekommen (und hätte dort die Neandertaler ausgerottet) und vor 55.000 Jahren nach Südostasien (wo ihm eine andere Homo-Art, der Denisova-Mensch, zum Opfer gefallen sei). „Keine Beute – und kein menschlicher Feind – war vor ihm sicher“, schwärmt Marean von der „seltsamen Mischung aus Killer und Kooperator“.
Er glaubt auch, dass die Entwicklung der Kooperation eine genetische Basis hatte. Doch man kennt bisher kein Gen, das die Kooperation begünstigt, geschweige denn eines, das sich just in der fraglichen Zeit geändert hat. Denkbar wäre, dass ein „Sprachgen“ die Kooperativität vorangetrieben haben könnte. Hier kennt man immerhin das FoxP2-Gen, das es bei fast allen Tieren gibt, das aber just bei Tieren, die sich akustisch verständigen – Zebrafinken, Fledermäusen – eine besondere Rolle spielt. Vor ca. zwölf Jahren errechneten Genetiker, dass sich die FoxP2-Variante der heutigen Menschen (die sich nur in zwei Basen von jener des Schimpansen unterscheidet) vor 200.000 bis vor 100.000 Jahren durchgesetzt habe: Das würde schön zur Theorie passen, dass menschliche Sprache und Kooperativität damals entstanden seien.
Aber leider: 2007 erklärten Paläogenetiker, dass auch die Neandertaler die moderne FoxP2-Variante hatten. Bleibt die Möglichkeit, dass solche Einschnitte in der frühesten Kulturgeschichte ohne Veränderung der genetischen Basis passiert sind. Das ist Genetikern heute vielleicht nicht so sympathisch, aber sie sollten sich einmal in die Zukunft versetzen: Wenn ihre Kollegen in 100.000 Jahren den Siegeszug elektromagnetischer Technologien im 19. und 20.Jahrhundert analysieren, werden sie dann schließen, dass nur eine genetische Veränderung für diesen Sprung verantwortlich gewesen sein könne?

Nota. - Manch andre sind Rudeltiere: Sie gehören sowieso zusammen, nämlich mittels einer Hierarchie, die alle Unteren einem Oberen unterordnet - bis der zu alt und schwach ist... Die Menschen aber stammen aus einer Entwicklungslinie, in der die Hierarchie nur mehr schwach ausgeprägt ist, wo alle, wenn sie wollen, schonmal ihre eigenen Wege gehen; so wie bei Schimpansen und erst recht bei Bonobos. Die jagen auch nicht regelmäßig, sondern nur gelegentlich, wenn die Bedingungen günstig sind - und dann arbeiten sie mitunter gar zusammen.

Als unsere Vorfahren ihre angestammten Urwälder verließen und in die Savanne überliefen, wurde aber das Jagen regulär und der gelegentliche zweckmäßige Zusammenschluss zur Regel. Das ist nicht mehr eine urwüchsige Gemeinschaft, sondern schon eine Frühform von Gesellschaft. Jagen, kämpfen und kooperieren gehören darum beim Homo sapiens ab ovo zusammen.
JE 

Montag, 21. September 2015

Kausalität ist Anschauungssache.

aus scinexx

Gehirn fühlt kausale Zusammenhänge
Bewertung von Ursache und Wirkung geschieht ohne höhere Denkvorgänge

Wenn wir ein Auto sehen, das gegen eine Laternen fährt und dann eine deformierte Laterne, wissen wir instinktiv: Die Kollision ist schuld. Ein internationales Forscherteam hat nun festgestellt, dass wir solche kausalen Zusammenhänge schon beim grundlegenden Sehprozess erkennen – ohne Beteiligung von höheren kognitiven Vorgängen. Das zeigt sich daran, dass beim wiederholten Betrachten von kausalen Zusammenhängen ein ähnlicher Gewöhnungseffekt eintritt wie bei der Wahrnehmung der Größe, Farbe oder Distanz eines Objektes, wie die Forscher im Fachmagazin " Current Biology" berichten.

Ein Dominostein fällt um und reißt auch alle weiteren mit sich. Eine Hand stößt ans Glas, es fällt um und die Milch ergießt sich über den Küchentisch. Für den Beobachter ist sofort klar: Das Fallen des Dominos und das ungeschickte Berühren des Milchglases mit der Hand hat das Malheur bewirkt. Bislang waren sich Wissenschaftler uneins darüber, ob höhere Gehirnprozesse wie logisches Schlussfolgern dieses Kausali-tätsurteil begründen – oder ob das Urteil bereits bei der Sinneswahrnehmung entsteht, ähnlich der Ein-schätzung von Größe, Distanz oder Bewegung eines Objektes. Eine internationale Forschergruppe um Martin Rolfs am Bernstein Zentrum Berlin, Michael Dambacher an der Universität Konstanz und Patrick Cavanagh an der Universität Paris Descartes hat nun die Antwort auf diese Frage gefunden: Schnelle Kausalitätsurteile werden bereits auf der Stufe der einfachen visuellen Wahrnehmung gefällt.

Rollende Scheiben als Kausalitätstest

Für die Untersuchung schauten Probanden wiederholt einen Animationsfilm an, in dem sich eine Scheibe auf eine andere zubewegt und letztere sich nach einer Berührung in Bewegung setzt. Anstatt die erste Scheibe anhalten und danach die nächste Scheibe anrollen zu sehen, werden beide Vorgänge als eine kontinuierliche Handlung wahrgenommen, bei der die erste Scheibe die zweite ins Rollen bringt – ähnlich zweier kollidierender Billardkugeln. Doch beim mehrfachen Beobachten solcher Scheiben-Kollisions-Szenen tritt interessanterweise eine Gewöhnung ein, wie Rolfs und seine Kollege herausfanden.

Die Probanden schätzten nach längerem Betrachten solcher Szenen die Berührungen der Scheiben plötzlich weniger häufig als Grund für die Bewegung der zweiten Scheibe ein. Stattdessen meinten sie, dass es zwar um zwei aufeinanderfolgende, aber kausal unabhängie Ereignisse handeln müsse. Ähnliche Adaptations-nacheffekte sind bekannt bei andauernder Wahrnehmung einfacher visueller Eigenschaften von Objekten, wie etwa der Farbe: Nach längerem Betrachten eines orangen Lichts erscheint ein hellblauer Punkt, wenn man anschließend auf eine weiße Wand schaut. Diese visuellen Nacheffekte lassen auf eine Ermüdung der Nervenzellgruppen in den Hirnbereichen schließen, die die spezifischen Merkmale des Objektes analysie-ren.

Den Wissenschaftlern zufolge zeigen diese Ergebnisse, dass wir die Kausalität eines Ereignisses nicht erst in nachgeschalteten, auswertenden Hirnbereichen bewerten, sondern bereits in Strukturen, die sehr früh im Sehprozess aktiv sind. „Das Forschungsergebnis verlagert Funktionen, die bisher für Leistungen kognitiven Denkens gehalten wurden, in den Bereich der einfachen Wahrnehmung und hat daher Auswirkungen auf verschiedenste Gebiete wie Philosophie, Psychologie, und Robotertechnik“, so Studienleiter Rolfs. (Current Biology, 2013; doi: 10.1016/j.cub.2012.12.017)

(Nationales Bernstein Netzwerk Computational Neuroscience, 11.01.2013 - NPO)


Nota. - Post hoc heißt nicht propter hoc; dass wir es dennoch regelmäßig so auffassen, sei "nichts als Gewohnheit", meinte David Hume - und dagegen entwickelte Immanuel Kant seine Lehre von den zwölf Kategorien und dem Apriori der Erkenntnis. Doch wie wir nun sehen, hatte Hume mehr Recht, als Kant ahnte. Das Rätsel der Kausalität wird dadurch aber nicht klarer.
JE



Sonntag, 20. September 2015

Ob der Mensch sich selbst entwirft?


 aus nzz.ch, 20. 9. 2015

Bilden, optimieren, perfektionieren
Über neue Menschen, Bioingenieure und Transhumanisten
Wollen wir überhaupt noch Menschen sein? – Diese Frage drängt sich angesichts einiger wissenschaftlich-technischer Bestrebungen und Visionen der Gegenwart auf.

von Konrad Paul Liessmann

Alles wird besser. Auch der Mensch. Schon vor der Geburt beginnen die Optimierungsprogramme, die dafür sorgen sollen, dass später umfassend Kompetenzen angeeignet, Begabungen erkannt und Höchstleistungen erbracht werden können. Der Körper wird trainiert und modelliert, richtige Ernährung, leistungssteigernde Nahrungsergänzungsmittel und eine langfristigeAnti-Aging-Strategiesorgen für effiziente Nutzung der physischen Ressourcen, kleine Defizite und Verfallserscheinungen werden durch die ästhetische Chirurgie, grössere durch künstliche Implantate und intelligente Prothesen korrigiert. Das Hirn wird umfassend gefördert, mit chemischen Substanzen gedopt, mit digitalen Informations- und Kommunikationsmedien kurzgeschlossen, die Seele wird durch Psychopharmaka von allen Irritationen befreit und durch permanente Kontrolle im Gleichgewicht gehalten. Am Ende solcher Optimierungsprozesse steht die Version eines perfekten, transhumanen Wesens, das reibungslos funktioniert und dem alles Menschliche fremd geworden ist.

Giovanni Pico della Mirandola

Noch sind wir nicht so weit. Aber unser Bild vom Menschen hat sich grundlegend gewandelt. Was der Mensch ist, wissen wir in einem ontologischen oder anthropologischen Sinn heute weniger denn je. Begriffe wie «Exzentrizität» oder «Mängelwesen» haben ihre Plausibilität verloren, im Grunde lässt sich Menschsein nur als offenes Projekt beschreiben. An die Stelle vermeintlicher anthropologischer Gewissheiten treten Modelle und Konzepte, die den Menschen immer wieder neu denken. Aktuell arbeiten wir am Entwurf des perfekten Menschen. Es geht um die Verbesserung und Veränderbarkeit des Menschen in einem neuen Sinn: Nicht durch Erziehung und Bildung, nicht durch Moral, Aufklärung und eine humanistische Kultur soll die Verbesserung des Menschengeschlechts erreicht werden, wohl aber durch Technik und Genetik.


Am Beginn jener Bilderkette, die den Menschen als das Wesen zeigt, das sich selbst überhaupt erst entwerfen und gestalten muss, steht die Renaissance-Anthropologie des Humanisten Giovanni Pico della Mirandola, der die universelle Autoplastizität des Menschen gelehrt hatte. In seiner grandiosen Rede über die Würde des Menschen aus dem Jahre 1486 lässt Pico della Mirandola Gottvater zu seinem Geschöpf sagen: «Den übrigen Wesen ist ihre Natur durch die von uns vorgeschriebenen Gesetze bestimmt und wird dadurch in Schranken gehalten. Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehemmt, sondern du sollst nach deinem eigenen freien Willen sogar jene Natur dir selbst vorherbestimmen.»

Man mag das als Beginn der neuzeitlichen Hybris des Menschen zur Selbstermächtigung und auch Selbstschöpfung deuten oder als vertiefte Reflexion jenes Verdachts, der den Menschen umtreibt, seit er über sich nachdenkt: dass er dasjenige Wesen ist, das sich selbst immer erst herstellen muss. Zumindest seit Nietzsches Bemerkung, dass der Mensch das «nicht festgestellte Tier» sei, gehört die Annahme einer fundamentalen Plastizität und Weltoffenheit des Menschen zu den Grundüberlegungen der modernen philosophischen Anthropologie. Vergessen wird, dass Nietzsche diese Offenheit als Symptom einer «krankhaften Entwicklung» gewertet hat. Günther Anders allerdings, der Autor der «Antiquiertheit des Menschen» und einer der schärfsten Kritiker der technischen Zivilisation, hatte diesen Befund in jungen Jahren auf den Punkt gebracht, als er von der «Pathologie der Freiheit» des Menschen sprach und diese mit dem eleganten Satz charakterisierte: «Künstlichkeit ist die Natur des Menschen, und sein Wesen ist Unbeständigkeit.»*

Die Möglichkeiten des Menschen, sich selbst immer wieder neu zu bestimmen und zu entwerfen, das nicht zuletzt von Nietzsche propagierte Pathos der Selbstschöpfung – «Wir sind die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden» – hatte nicht nur eine stark ästhetische Ausrichtung, sondern fand im Ich auch den entscheidenden Massstab: «Wir aber wollen die werden, die wir sind.» Man kann diesen Anspruch des modernen Menschen auf permanente «Selbsterfindung» als ein Projekt der «Autoinvenienz» bezeichnen; der Akzent läge dabei aber auf dem poetisch-kreativen Umgang mit den Möglichkeiten der Selbstgestaltung.

«Human Enhancement»

Die aktuellen Debatten, die weniger das ästhetische Potenzial als vielmehr die technischen Möglichkeiten der Veränderung des Menschen sehen, sprechen denn auch lieber von «Human Enhancement» und zielen ebenso auf die Optimierung des menschlichen Körpers und seiner Leistungsfähigkeit wie auf die Möglichkeiten, geistige und emotionale Dispositionen zu verbessern. Mithilfe technischer, chemischer, chirurgischer oder auch genetischer Veränderungen, Eingriffe und Ergänzungen sollen vorhandene Fähigkeiten verbessert und vor allem beschleunigt werden: Das Gedächtnis soll leistungsfähiger werden, mehr Informationen sollen in kürzerer Zeit verarbeitet werden, der Mensch soll sich schneller bewegen und ausdauernder werden, er soll seine Gesundheit, das heisst die entsprechenden Werte – Puls, Blutdruck, Fettablagerungen usw. – optimieren, er soll überhaupt länger leben, weniger schlafen und sich richtig ernähren.

Während Nietzsches Prozess der Selbstschaffung noch den kreativen Überschuss, die Verausgabung, die Verschwendung und den dionysischen Rausch kannte, dominieren im Konzept der Selbstoptimierung das rational verbrämte Kalkül der Effizienz und der olympische Gedanke: citius, altius, fortius – schneller, höher, stärker. Es wundert so wenig, dass der Sport auch als Experimentierfeld für die Möglichkeiten des Human Enhancement betrachtet werden kann. Doping in all seinen Varianten zeigt, wie weit wir es bringen können.

Geht es um die Verbesserung des Menschengeschlechts, sind unserer Phantasie schon seit langem wenig Grenzen gesetzt. Den meisten dieser Konzeptionen liegt die Überzeugung zugrunde: Der Mensch, wie er ist, soll oder wird verschwinden. Wie dies zu bewerkstelligen ist – darüber gehen die Phantasien allerdings auseinander. Grob lassen sich zwei «Denkschulen» unterscheiden: Einmal die der Bioingenieure, denen es um die Verbesserung des genetischen Ausgangsmaterials des Menschen geht, zum anderen die der Transhumanisten, die vor allem mithilfe der künstlichen Intelligenz den Menschen überhaupt durch Maschinen ablösen wollen.

Die Konzeptionen einer biologischen und genetischen Optimierung des Menschen erinnern natürlich an die eugenischen Projekte der jüngeren Vergangenheit. Anders als in den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts setzt eine moderne liberale Eugenik allerdings nicht auf zentrale Steuerung und gewaltsame Durchsetzung genetischer Züchtungsutopien, sondern der Einzelne, vor allem also die Eltern, sollen nach dem Modell eines freien Marktes jene Optionen ergreifen und zur Optimierung ihrer Kinder nutzen, die durch die biomedizinischen Technologien schon bereitgestellt worden sind bzw. in naher Zukunft noch bereitgestellt werden könnten. Die Medizin hört auf, in erster Linie Krankheiten zu therapieren und Defizite oder Mängel auszugleichen, sondern wird zu einer Technik, der es wesentlich um die Optimierung des gesunden Menschen geht, um die Steigerung seiner Fähigkeiten: Das gesunde Auge wird nun geschärft, das gesunde Gehirn gedopt, der gesunde Körper perfektioniert, die gesunde Seele auf zusätzliche Belastbarkeit programmiert, das gesunde Leben verlängert, weit über bisher bekannte Lebensspannen hinaus, vielleicht bis zur physischen Unsterblichkeit.

Funktionale Unsterblichkeit

Die andere Fraktion setzt demgegenüber auf die Ablösung der biologischen Evolution durch die Weiterentwicklung der Maschinen. Das Konzept des Cyborgs, des durch implantierte komplexe Technologien optimierten Mensch-Maschine-Mischwesens, wird dabei zunehmend überboten von der Vision transhumaner Wesen, die entweder aus den von Menschen entwickelten Robotern entstehen sollen oder aus der Möglichkeit, Bewusstsein und damit die Identität des Menschen vollständig digital abzubilden, zu speichern und so einer neuen Existenzform zuzuführen, die, ganz nebenbei, das Malaise der Leiblichkeit und die damit verbundene Endlichkeit des Menschen überwinden soll.

Dass gerade unter Vertretern der sogenannten Zukunftstechnologie die ganz alte Vorstellung einer möglichen Trennung von Geist und Körper wieder in den Vordergrund rückt, mag verwundern, entspricht aber nur der Beobachtung, dass wir auch mit avanciertesten technischen Möglichkeiten immer wieder auf historisch verbürgte Konzeptionen zurückgreifen. Die Idee, Bewusstsein lasse sich maschinell reproduzieren und einer funktionalen Unsterblichkeit zuführen, wie sie von dem aus Österreich stammenden amerikanischen Computerwissenschafter Hans Moravec formuliert wurde, liesse sich auch als säkularisierte gnostische Erlösungssehnsucht lesen. Hinter den Träumen vom Cyborg, gar von der reinen Maschine, der virtuellen «Superintelligenz», steht womöglich dieselbe Leibfeindlichkeit, für die das Christentum – zu Recht oder zu Unrecht – gegeisselt worden war.

Am Ende dieser Optimierungsphantasien steht also die Ablösung des Menschen durch von ihm geschaffene perfekte Entitäten, von denen nicht gesagt werden kann, ob sie als Vollendung oder Überwindung des Projektes «Mensch» gedacht werden sollen. Die von Ray Kurzweil, zurzeit Forschungsdirektor bei Google, propagierte «Menschheit 2.0» deutet nicht nur durch die modisch gewordene Versionsnummer an, dass der Mensch in seiner durch die Evolution hervorgebrachten Form als ein fehlerhaftes Programm gedeutet wird, das seine Optimierung erst im transhumanen Raum erfahren wird.

Schöpfungsphantasien

Das Warten der technophilen Transhumanisten auf die «Singularität», also jenen Moment, in dem der rasante technische Fortschritt vor allem im Bereich der Computer- und Nanotechnologie zum Entstehen von «nichtbiologischen, dem Menschen überlegenen Intelligenzformen» führen wird – Formen einer Intelligenz, die schliesslich das ganze Weltall durchdringen und «Gott ziemlich nahe» kommen werden –, demonstriert allerdings weniger technischen Sachverstand als eine naive Allmachtsphantasie. Dass manch einem Verkünder solch einer strahlenden transhumanen Zukunft dann dabei doch etwas mulmig zumute wird, zeigt sich an jener Konzeption der «Superintelligenz», die der schwedische Philosoph und Enhancement-Theoretiker Nick Bostrom mit Angstlust entworfen hat und zu deren Eigenschaften es durchaus zählen könnte, unter der Perspektive der eigenen Selbstoptimierung alle dabei störenden Faktoren wie etwa die Menschen auszurotten.

Abgesehen von der Frage, wie realistisch in einem technischen Sinn diese Szenarien sind, verbergen sich, wenn auch im Gewand einer technizistischen Rhetorik, dahinter mitunter uralte Sehnsüchte des Menschen: nicht nur im Sinne Pico della Mirandolas zum Schöpfer seiner selbst zu werden, sondern zum Schöpfer eines anderen, überlegenen Wesens. Von den belebten Statuen der Antike über die Automaten des mechanischen Zeitalters bis zur Kreatur, die der junge Frankenstein schuf, reichen die mythischen und literarischen Antizipationen, die den Menschen in zutiefst ambivalenten Situationen zeigen: Schöpfer eines Geschöpfs zu sein, dessen er nicht mehr Herr wird.

Wer heute nach dem Menschen fragt, fragt immer auch danach, ob wir überhaupt noch Menschen sein wollen. Sein Glück, so liesse sich pointiert formulieren, findet der rezente Mensch nur in den Bildern seines Nichtmenschseins. Das Bild, das der moderne Mensch von sich zeichnet, ist also immer schon durchgestrichen. Die zeitgenössische Antwort auf die Frage «Was ist der Mensch?» lautet: «Das, was nicht sein soll.» – Vielleicht ist es an der Zeit, den Menschen, dieses fragile und fragliche Wesen, das nach älteren Lesarten immer zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Geist und Körper, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwischen Natur und Kultur schwanken muss, zumindest gegenüber den Gebildeten unter seinen Verächtern zu verteidigen.

Konrad Paul Liessmann hat eine Professur am Institut für Philosophie der Universität Wien inne. Beim vorliegenden Text handelt es sich um das gekürzte Manuskript des Vortrags, den der Autor zur Eröffnung des 19. Philosophicum Lech am 17. September 2015 in Lech am Arlberg gehalten hat.

*) "La nature de L'homme est l'artificiel." Emmanuel Mounier


Nota. - Alles richtig, nur leider auf den Kopf gestellt. Human enhancement ist keine historische Fortent-wicklung des Selbsterfindungs-Plans von Pico, Fichte, Nietzsche und den Existenzialisten, sondern der Gegenentwurf dazu. Was immer die Enhancer ihren Homunculis einbauen mögen - das spezifische Huma-num, das poietische Vermögen, wird nicht darunter sein. Ihr technokratisches Menschenbild wird nicht scheitern an Liessmanns heimlich resignierendem Modell vom zu-voll-geschriebenen Blatt, sondern, wenn überhaupt, am Bild des Homo poieticus.
JE



Freitag, 18. September 2015

Missverständnisse vermeidet man durch Rückfrage.

AP
aus scinexx

Sprache: 
Ein System gegen Missverständnisse
"Reparatur" von Kommunikation verläuft in allen Sprachen gleich

Alle Menschen auf der Erde beheben Missverständnisse im Gespräch auf dieselbe Weise – egal welche Sprache sie sprechen. Das grundlegende Prinzip dabei: Gespräch unterbrechen und nachfragen. Im Durchschnitt geschieht dies alle 90 Sekunden. Doch nur wir Menschen sind zu einer solchen "Reparatur" in der Lage, obwohl auch andere Arten zu komplexer Kommunikation fähig sind. Die Forscher hoffen, mit ihren Erkenntnissen unsere Kommunikation verbessern zu können – mit Computern, aber auch untereinander.

Wenn Menschen miteinander sprechen, kommt es leicht zu Verständnisproblemen. Manchmal hört man einzelne Worte nicht richtig, ein andermal sind die Zusammenhänge unklar, oder man ist sich nicht sicher, das Wesentliche verstanden zu haben. Glücklicherweise lassen sich solche Missverständnisse normalerweise schnell klären – im Durchschnitt tun wir das alle 90 Sekunden. "Ohne ein solches System würde unsere Kommunikation ständig fehlschlagen", sagt Mark Dingemanse vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen.

Ein Team von Sprachwissenschaftlern unter der Leitung von Dingemanse hat nun untersucht, ob es weltweit Unterschiede in diesem System gibt. Dazu haben die Forscher Videoaufzeichnungen von Gesprächen in zwölf verschiedenen Sprachen aus fünf Kontinenten ausgewertet. Das Spektrum reichte von Englisch, Russisch und Hochchinesisch bis zu Cha’paa in Ecuador, Siwu in Ghana und argentinischer Gebärdensprache. All diese Sprachen unterscheiden sich in ihrer Phonetik und ihrer Grammatik grundlegend voneinander.

Ein System, drei Strategien

Der Vergleich ergab, dass überall das gleiche grundlegende System für sprachliche Unklarheiten und deren Behebung verwendet wird. Die "Reparatur" der Kommunikation erfolgt also völlig unabhängig von Sprache oder Kultur. Das Prinzip besteht darin, den Gesprächsverlauf zu unterbrechen und durch Nachfragen um Klarstellung des gerade Gesagten zu bitten. Dabei identifizierten die Forscher drei grundlegende "Reparatur"-Strategien, die die Sprechenden regelmäßig anwendeten.
Zwölf Sprachen mit sehr unterschiedlicher Phonetik und Grammatik wählten die Linguisten für ihre Untersuchung aus.

Die erste ist eine offene Nachfrage, beispielsweise ein simples "Häh?". Sie signalisiert ein grundlegendes Verständnisproblem und erfordert den größten Klärungsaufwand. Das gesagte muss vollständig wiederholt und vielleicht sogar erklärt werden.

In der zweiten Strategie kommen konkrete Fragen wie "Wer?" oder "Wo?" zum Einsatz. Es geht also nur um bestimmte Angaben oder genauere Details, die unklar geblieben sind.

Die dritte Möglichkeit ist, dass der Zuhörer das gerade Gesagte wiederholt oder in eigenen Worten formuliert und um Bestätigung zu bittet, also in etwa "Habe ich richtig verstanden, dass…" Dies erfordert den geringsten Klärungsaufwand, im besten Fall ein bestätigendes "Ja".

Sprache als Gesprächsthema

Auffällig ist dabei, dass die meisten Leute dieses "Reparatur"-System uneigennützig einsetzen: Der Zuhörer wählt zumeist eine Strategie, die das Verständigungsproblem mit möglichst geringem Aufwand für den Sprecher löst. So stellen Zuhörer eher konkrete Nachfragen als eine einfachere Form wie "Häh?" zu verwenden. Das zeigt den Forschern zufolge den zutiefst sozialen Charakter des menschlichen Sprachgebrauchs.

Diese Reparaturmechanismen machen die menschliche Sprache zu etwas Besonderem: Zwar haben auch andere Spezies komplexe Kommunikation entwickelt, wie etwa die Gesänge von Walen oder die Tänze der Bienen zeigen. Die Kommunikation zu unterbrechen und Missverständnisse zu klären ist jedoch nur beim Menschen bekannt. Nur Menschen seien in der Lage, ihre Sprache selbst zum Thema des Gesprächs zu machen, erläutern die Forscher.

Meister der Kommunikations-Reparatur

Menschen zeichnen sich zudem dadurch aus, dass sie den Erfolg der gegenseitigen Verständigung überprüfen. "Wir sind Meister der Art von Zusammenarbeit, wie sie für eine 'Reparatur' in der Kommunikation benötigt wird", fasst Koautor Nick Enfield zusammen.

Die Wissenschaftler hoffen, dass ihre Erkenntnisse in Zukunft dazu beitragen, Computer "menschlicher" reagieren zu lassen, wenn sie gesprochene Anweisungen nicht verstehen. Weitere Anwendungsmöglichkeiten sieht das Forscherteam im Sprachenunterricht oder bei der Zusammenarbeit über verschiedene Sprachen und Kulturen hinweg. (PLOS ONE, 2015; doi: 10.1371/journal.pone.0136100)

(Max-Planck Gesellschaft, 17.09.2015 - AKR)


Nota. - Hätten Sie's gedacht? Missverständnisse klärt man am besten durch Nachfrage.

Nein, das ist nicht wirklich eine Nachricht. Eher schon die: Tieren können das nicht. Doch genau betrachtet hat auch das keinen Informationswert. Zum Fragen gehört nämlich Sprache im strengen Sinn: digitale Sprache. Logisch lässt die jede Frage - auch: "Dieses oder jenes?" - zurückführen auf die Grundstruktur Ja oder nein? Das Nein lässt sich aber in einem analogen Darstellungsmodus nicht ausdrücken, sondern nur in einem digitalen. Nur in einer Zeichen-Sprache. Und das läuft hinaus auf eine gesprochene Sprache: Gebär- densprachen sind in Analogie dazu entstanden. 

Nicht dagegen die Verständigungssysteme von Tieren, die können Natur-gemäß nur analog sein. Und weil sie den Verneinungsmodus nicht darstellen können, können sie auch den Fragemodus nicht zum Ausdruck bringen. Anders gesagt, ab einem gewissen Grad benötigt Zusammenarbeit die Möglichkeit, Kommunika- tionsstörungen zu beheben; ab einem gewissen sozialen Komplexitätsniveau bedarf die Kommunikation einer Zweiten semantischen Ebene; bedarf das Denken der Reflexion.

Das wussten wir vorher; obige Forschung hat es nochmal illustriert; schaden kann das nicht.
JE



Mittwoch, 16. September 2015

Verblöden durch Domestikation.

aus scinexx

Hunde: Dümmer durch Domestikation?
Haushunde schneiden beim selbstständigen Lösen von Problemen schlechter ab als Wölfe

Hunde haben durch ihre enge Beziehung zum Menschen offenbar einiges an Grips und Selbstständigkeit eingebüßt. Denn wenn sie allein ein Problem lösen sollen, verlieren sie schnell die Lust und blicken stattdessen hilfesuchend zum Menschen. Wölfe dagegen knobeln solange, bis sie es geschafft haben, wie ein Experiment belegt. Das Versagen der Hunde spricht dafür, dass die starke Ausrichtung auf uns Menschen ihre Problemlöse-Fähigkeiten hemmt, wie Forscher im Fachmagazin "Biology Letters" berichten.

Hunde sind echte Menschenkenner: Sie folgen unseren Blicken, erkennen unser Lächeln und entnehmen unserer Tonlage selbst feine Nuancen unserer Stimmung. Doch diese Anpassung an den Menschen scheint nicht ohne Kosten zu sein. Bereits 2014 fanden Forscher heraus, dass Hunde schlechter zählen können als ihre wilden Verwandten, die Wölfe.

Monique Udell von der Oregon State University in Corvallis und ihre Kollegen haben nun ein weiteres Indiz dafür gefunden, dass Domestikation die Hunde in gewisser Hinsicht eher dümmer machte. In ihrem Experiment testeten sie, wie gut Wölfe und Hunde eine knifflige Aufgabe lösten. Dafür legten die Forscher im Beisein des Hundes eine Wurst in eine durchsichtige Plastikbox. Ihr Deckel ließ sich jedoch nur abziehen, wenn die Tiere an einem daran befestigten Seil zerrten.

Wölfe schaffen es, Hunde nicht

Wie sich zeigte, lösten acht von zehn Wölfen die Aufgabe problemlos. Sie zerrten und bissen so lange an der Box herum, bis sie den Deckel erfolgreich abgezogen hatten. Nicht so die Hunde: Schon nach kurzer Zeit gaben sie auf und blickten sie hilfesuchend zu dem im Raum anwesenden Menschen. "Die Hunde verbrachten signifikant mehr Zeit damit, zum Menschen hinzusehen, als die Wölfe", berichten die Forscher.

Wölfe tüfteln solange, bis sie die Aufgabe gelöst haben.

Die magere Erfolgsbilanz: Von den zehn Haushunden schaffte es keiner, die Box zu öffnen, unter den zehn Hunden aus dem Tierheim gelang dies nur einem. Und dies änderte sich auch kaum, als der Mensch den Hunden Rückmeldung gab und sie aktiv zum Weitermachen ermunterte. Zwar beschäftigten sie sich dann länger mit der Box, von den 20 Hunden schafften es aber selbst dann nur vier Tierheimhunde und ein Haushund, an die Wurst heranzukommen.

Hilfe suchen statt selbstständig handeln

Nach Ansicht von Udell und ihren Kollegen zeigt dies, dass Wölfe besser darin sind, unabhängig Probleme zu lösen. Diese Fähigkeit scheinen Hunde zumindest zum Teil eingebüßt zu haben. "Hunde sind hypersozial, verglichen mit ihren wilden Gegenparts", erklärt Udell. "Ihre erhöhte soziale Sensibilität könnte ihre Fähigkeiten zum unabhängigen Problemlösen stören."

Oder anders ausgedrückt: Hunde haben sich daran gewöhnt, sich auf den Menschen und seine sozialen Signale zu verlassen. Vor ein Problem gestellt, suchen sie daher bei ihm Hilfe, beispielsweise in Form einer erhellenden Geste. "Hunde könnten gelernt haben, in Abwesenheit klarer menschlicher Hinweise eher vorsichtig zu sein", meint Udell. "Das ist langfristig beim Zusammenleben mit Menschen sicher ein Vorteil."

Die Kehrseite ist allerdings, dass die Hunde auf sich allein gestellt weniger gut klarkommen als ihre wilden Verwandten. Wenn darum geht, Probleme selbstständig zu lösen, verlieren sie schnell die Lust. (Royal Society Biology Letters, 2015; doi: 10.1098/rsbl.2015.0489)

(Royal Society, 16.09.2015 - NPO)

Montag, 14. September 2015

Keine Angst vor Intuition und Einfachheit.

Tatiana Trouvé, Untitled 2007

Sybille Anderl berichtet in der gestrigen FAZ (13. 9. 15) über eine wissenschaftliche Tagung zum Andenken des unlängst verstorbenen Nobelpreisträgers für Physik Charles H. Townes. Sie schreibt:

...Der Eröffnungsvortrag der Tagung lieferte einen Überblick sowohl über die wissenschaftlichen Errungenschaften als auch über die menschliche Seite dieses Ausnahmewissenschaftlers. Paul F. Goldsmith vom Jet Propulsion Laboratory beschrieb seinen verstorbenen Doktorvater als inspirierenden, ungewöhnlich vielseitigen Wissenschaftler mit erstaunlichem Verständnis für plausible Fragestellungen und mögliche Lösungen. Goldsmith endete seinen Vortrag mit einer Aufzählung von drei Dingen, die er aus der Arbeit mit Townes gelernt hatte. Neben den Fähigkeiten, andere mit eigenen Ideen wissenschaftlich zu inspirieren (“bounce ideas off other people”) und wissenschaftlichen Problemen mit Optimismus zu begegnen, stolperte ich beim Zuhören über folgende Lektion Townes:

„Always try to find the simplest model or picture of the problem on which you are working. Don’t be embarrassed by having a simple idea. But don’t be intimidated if you have to go to something more complicated, as long as you understand what is going on and why the simple model does not work.“  

Man sollte nach Townes also immer versuchen, das einfachste funktionierende Modell oder Bild für das Problem zu finden, an dem man grade arbeitet. Heißt das also mit anderen Worten, dass das einfachste Modell meist das beste ist? Ist es nicht vielmehr so, dass die einfachsten Modelle diejenigen sind, die sich am meisten von der komplexen Realität unterscheiden? Je einfacher das Bild, desto mehr Vereinfachungen und Idealisierungen sind schließlich am Werk, desto “falscher” ist in diesem Sinne das Modell. Mit der sprichwörtlich für ein zu einfaches Modell stehenden “sphärischen Kuh” kommt man bekanntlich nicht weit, wenn man wissen will wie man eine Kuh melkt. Ist man in unseren heutigen Zeiten der leistungsstarken Großrechner wirklich noch darauf angewiesen, einfache Modelle zu finden, wenn man auf der anderen Seite physikalische Systeme in aufwändigen Simulationen im Detail modellieren kann?

Charles Townes und der erste Maser
Im obigen Zitat ist allerdings gleich auch der Hinweis darauf enthalten, warum die Dinge vielleicht nicht ganz so einfach sind, und warum komplexere Modelle nicht automatisch immer besser sein müssen als einfache: es hat mit dem Anspruch zu tun, verstehen zu wollen, “was los ist”. Damit ist zunächst natürlich gemeint, dass man versteht, warum sich ein physikalisches System in einer bestimmten Weise verhält. Es ist aber auch gemeint, dass man versteht, wann welches Modell angemessen ist, was ein Modell leisten kann und was nicht, wann ein Modell an seine Grenzen stößt und warum. Dass man zum Beispiel die Kuh vielleicht noch als Kugel modellieren kann, wenn man allgemein an Herden-Bewegungen interessiert ist, aber eben nicht, wenn es darum geht, einen Kuhstall zu planen. Ein Grund, warum Charles Townes ein so außergewöhnlicher Physiker war, scheint zu sein, dass er dieses Verständnis in hohem Maße besaß. Paul Goldsmith bezog sich in seinem Vortrag wiederholt auf Townes besondere physikalische Intuition. So hatte Townes beispielsweise ein untrügliches Gefühl dafür, wann das Verhalten quantenmechanischer Systeme in einem klassischen Formalismus beschrieben werden kann, und wann dieser Formalismus an seine Grenzen stößt und eine volle quantenmechanische Rechnung notwendig ist.



...Als ich Goldsmith in der Kaffeepause auf die Verwendung einfacher Modelle ansprach, bestätigte er, dass er als ein Merkmal physikalischer Intuition genau dieses tiefe Verständnis eines Physikers ansieht, zu wissen wann ein einfaches Modell anwendbar ist und wann nicht. 

...Das besondere Talent Townes, das so viele große Physiker besaßen und besitzen, scheint also weniger ein explizites, in Worte fassbares Wissen zu sein, als vielmehr eine Fähigkeit, eine Intuition im eigentlichen Wortsinn. Was ist also physikalische Intuition und woher kommt sie? Diese Frage ist alles andere als trivial und Goldsmith schlug in unserer Pausenkonversation vor, diese Frage empirisch zu klären, indem man die Physiker selber fragt. 

Leider war die Konferenz zu kurz, um die Kollegen in wissenschaftstheoretische Gespräche zu verwickeln. In jedem Fall scheint physikalische Intuition aber zumindest teilweise ein Talent wie viele andere zu sein, ein Talent, das man haben kann oder auch nicht. Trotzdem scheint es Wege zu geben, diese Intuition zu trainieren. Tatsächlich macht dieses Training einen großen Teil des Physikstudiums aus. Mit jedem Experiment das man macht, mit jeder Übungsaufgabe, die man rechnet, bekommt man ein besseres Gefühl dafür, wie sich unsere Welt physikalisch verhält und welchen Gesetzen sie folgt. ...

*

Dieser Beitrag ist, wie eigentlich alles von Frau Anderl, dringend zu empfehlen, und hätte es mir die FAZ nicht seinerzeit ausdrücklich untersagt, würde ich nicht zögern, ihn hier vollständig wiederzugeben. So kann ich Ihnen leider nur diesen Link ans Herz legen:




Donnerstag, 10. September 2015

Homo naledi.


aus nzz.ch, 10.9.2015, 16:45 Uhr

Entdeckung einer neuen Menschenart
Spekulationen über Bestattungsrituale früher Menschen
Wissenschafter haben in einer Höhle in Südafrika die fossilen Überreste einer bisher unbekannten Menschenart entdeckt. Es gibt auffällige Parallelen zum modernen Menschen.

von Stephanie Lahrtz

Erneut muss der Stammbaum des Menschen erweitert werden: Homo naledi heisst die am Donnerstag in den Zeitschriften «eLife» und «National Geographic» präsentierte neue Verwandtschaft. Gemäss ihren Entdeckern, einem internationalen Forscherteam unter Leitung von Lee Berger von der University of Witwatersrand in Südafrika, waren die Angehörigen der neuen Menschenart rund 1 Meter 50 gross, wogen durchschnittlich 45 Kilogramm – hatten aber «nur» ein Gehirn von der Grösse einer Orange. Seit der Erstentdeckung 2013 sorgen die Knochen immer wieder für Aufregung nicht nur in der Fachwelt.

Fast intakte Hände und Füsse

Gefunden wurden die Fossilien nämlich in einer abgelegen, völlig lichtlosen und nur durch einen 18 Zentimeter schmalen Spalt erreichbaren Kammer des «Rising Star»-Höhlensystem, einem Unesco-Weltkulturerbe nordwestlich von Johannisburg. Der Fundort deute daraufhin, dass es sich um eine Grabkammer handeln könne, schreiben die Forscher. Das wäre sehr erstaunlich, denn Bestattungen gelten als Erfindung und auch Fähigkeit des modernen Menschen.



Ebenso sensationell wie der Fundort ist auch die Menge der geborgenen Fossilien. Denn man hat bisher über 1550 Knochen und Knöchelchen von insgesamt 15 Individuen, von einem Neugeborenen bis hin zu einem Greis, eingesammelt. Jeder Knochen komme mehrfach vor, so dass man ausschliessen könne, bei Homo naledi handele es sich um eine pathologische Variante bereits bekannter Hominiden betonen die Forscher. Weitere Knochen liegen noch in der Höhle. Für Anthropologen ein äusserst seltenes Glück ist zudem die Tatsache, dass man fast komplette Fuss- sowie Handskelette gefunden hat, die teilweise noch original zusammenlagen.



Die genaue Analyse der Fossilien hat ergeben, dass Homo naledi eine zuvor nie gesehene Mischung unterschiedlichster Merkmale ist. Er ähnelt nämlich in manchen körperlichen Charakteristika den modernen Menschen, in anderen hingegen sehr frühen Hominiden. So konnte Homo naledi dank seines «modernen» Fusses längere Strecken aufrecht gehen. Seine Hände waren allem Anschein nach für den Werkzeuggebrauch geeignet. Allerdings waren seine Finger gekrümmt, Homo naledi kletterte also vermutlich immer wieder längere Zeit in den Bäumen herum. Und seine Schultern ähneln denen von Menschenaffen.

Keine Altersbestimmung

Für Experten ist die neue Art ein weiterer Beweis, dass die Entwicklung des Menschen allem Anschein nach keineswegs linear von einem Menschenaffen-ähnlichen Individuum bis hin zum Homo sapiens verlaufen ist. Offenbar entwickelten sich immer wieder neue Homo-Varianten. Manche erwiesen sich als Irrweg und starben aus, andere hingegen besassen neue Merkmale, die für das Überleben einen enormen Vorteil darstellten und somit im Genpool erhalten blieben. Die Tatsache, dass H. naledi zwar ein sehr kleines Gehirn besass, aber offenbar Werkzeuge nutzte, widerlegt laut den Autoren die Lehrmeinung, dass manche kognitive Fähigkeiten und gewisse körperliche Entwicklungen sich gegenseitig bedingen und parallel entwickelt haben.



Allerdings kann das Forscherteam bis anhin nicht sagen, wie alt die Fundstücke sind. Dies ist ein grosses Manko. Denn so bleiben alle Versuche der Deutung und Einordnung spekulativ.


Kletter- & Greifhand

Dienstag, 8. September 2015

Erinnern.

aus nzz.ch, 6.9.2015, 08:30 Uhr

Hirnforschung
Auf den Spuren des Erinnerns
Den Nobelpreis erhielt er für eine Entdeckung in der Immunologie, nun erforscht Susumu Tonegawa das Gedächtnis. Über seine faszinierenden Erkenntnisse in diesem Bereich berichtet er im Gespräch.

Interview von Nicola von Lutterotti

Was hat Sie dazu bewogen, in die Hirnforschung zu wechseln?

Nach insgesamt 15 Jahren in der Immunologie wollte ich meine molekularbiologischen Kenntnisse dazu nutzen, einige der interessantesten Fragestellungen in den Lebenswissenschaften genauer zu beleuchten. Und was ist faszinierender als das Gehirn? Daher habe ich mich der Hirnforschung zugewandt, obwohl ich davon zunächst keine Ahnung hatte.

Es kann durchaus Vorteile haben, ganz unvoreingenommen an eine neue Fragestellung heranzugehen.

Absolut. Bei mir kommen noch zwei weitere Dinge dazu: Zum einen kann ich mich sehr rasch in neue Gebiete einarbeiten, und zum anderen stört es mich nicht, etwas nicht zu wissen. Wenn man etwas Neues lernt, sind Wissenslücken völlig normal. In der Forschung kommt es ja vor allem darauf an, grosse Zusammenhänge zu verstehen. Wenn meine Studenten mich auf etwas hinweisen, das mir nicht bekannt ist, können sie mich damit nicht in Verlegenheit bringen. Ich sage dann nur: «Erkläre es mir, ich möchte gern dazulernen.»

Zu den faszinierendsten Erkenntnissen Ihrer jüngsten Forschung zählt, dass sich Gedächtnisinhalte manipulieren lassen. Hierzu muss man freilich erst wissen, wo sich diese genau befinden. Kann man Erinnerungen denn lokalisieren?

Ja, jede Art von Erinnerung wird von ganz bestimmten Zellgruppen gespeichert. Erinnerung A in Zellgruppe A, Erinnerung B in Zellgruppe B und so weiter. Dabei handelt es sich um eine Vielzahl von Zellpopulationen, die hintereinander geschaltet sind. Beispielsweise besteht eine bestimmte Erinnerung A aus den Untereinheiten A1, A2, A3 und so weiter. Das Gleiche gilt für andere Erinnerungen, etwa B, C, D und so fort. Die Spezifität des Gedächtnisses wird dabei von den Querverbindungen zwischen den einzelnen Zellpopulationen, in denen die unterschiedlichen Erinnerungen abgespeichert sind, bestimmt. So kann es sein, dass zwischen A1 und B2 eine Verknüpfung besteht, aber nicht zwischen A1 und B1. Im Tierversuch lassen sich solche Querverbindungen gezielt erzeugen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Gut illustrieren lässt sich dies mit der Angstkonditionierung bei Mäusen. In unseren Versuchen setzen wir eine Maus in einen bestimmten Käfig, etwa Käfig A, wo sie frei herumrennen kann. Nach einigen Minuten, wenn sie sich die Charakteristika des Käfigs gemerkt hat, verpassen wir ihr einen leichten elektrischen Schock an einer Pfote. Für die Maus heisst das: Im Käfig A droht Gefahr. Setzen wir das Tier am nächsten Tag wieder in denselben Käfig, verfällt sie sofort in eine Angststarre. In einem anderen Umfeld, etwa Käfig B, legt sie kein ängstliches Verhalten an den Tag.

Wie Ihre Untersuchungen zeigen, lässt sich dies aber ändern.

Das stimmt. Wenn sich eine neue Erinnerung bildet, werden die Synapsen (die Kontaktstellen zwischen den einzelnen Nervenzellen) kräftiger und zahlreicher. Behandelt man die Maus kurz nach der Schmerzerfahrung mit einem Wirkstoff, der die Herstellung neuer Proteine unterdrückt, kommt das Synapsenwachstum nicht in Gang. In der Folge kann sich die Maus das bedrohliche Erlebnis nicht merken und verfällt daher auch nicht in Angststarre, wenn man sie in Käfig A placiert. Entscheidend war für uns dabei Frage: Ist die Erinnerung verschwunden oder lediglich die Fähigkeit, sie wachzurufen? Wie wir entdeckt haben, ist Letzteres der Fall. Nachweisen konnten wir dies mit molekulargenetischen Tricks, die es erlauben, das verlorene Gedächtnis zu reaktivieren. Denn damit war es möglich, die Assoziation von Käfig A mit Gefahr wiederherzustellen.

Das gelingt doch nur mit bereits vorhandenen Gedächtnisinhalten – oder lassen sich auch neue Erinnerungen erzeugen?

Nein, das ist richtig, das geht nicht.

Sind Ihre Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar?

Ein vergleichbares Phänomen beim Menschen sind falsche Erinnerungen: Wenn eine Person ein erschütterndes Erlebnis mit etwas kurz vorher Gesehenem oder Gehörtem assoziiert und die Ereignisse fälschlicherweise miteinander verknüpft – ähnlich wie die Maus den Elektroschock mit dem falschen Käfig verbindet. Ein solches Phänomen beobachtet man etwa im Zusammenhang mit Gewaltverbrechen. Bevor es DNA-Tests gab, haben auf falschen Erinnerungen beruhende Zeugenaussagen viele Unschuldige ins Gefängnis gebracht.

Vielleicht haben die Zeugen ja gelogen?

Das lässt sich natürlich schwer ermitteln. An der Existenz von falschen Erinnerungen besteht allerdings kein Zweifel. In den USA gab es einmal einen berühmten Fall: Eine Frau, die in ihrer Wohnung überfallen und vergewaltigt wurde, belastete vor Gericht einen bekannten Psychologen. Dieser hatte zur Tatzeit allerdings eine bekannte Fernsehsendung moderiert, und das in weiter Entfernung zum Tatort. Wie sich später herausstellte, hatte die Frau diese Sendung zum Zeitpunkt der Attacke gesehen – eine Tatsache, die zu der Verwechslung führte.

Wie kommt es zu solchen falschen Erinnerungen?

Sie entstehen vornehmlich in Situationen, in denen etwas Dramatisches passiert. Bei Tieren kommen falsche Erinnerungen natürlicherweise übrigens nicht vor. Dieses Phänomen scheint etwas typisch Menschliches zu sein. Anders als bei Tieren laufen im menschlichen Gehirn unzählige Aktivitäten ab, die keine unmittelbare Reaktion auf die Aussenwelt darstellen. Menschen besitzen ein hohes Mass an Imagination und denken beständig über vieles nach. Wir gehen als einzige Lebewesen Tätigkeiten nach, die auf Vorstellungskraft und Kreativität beruhen. Die Kehrseite dieser Gabe ist, dass sich Einbildung und Wirklichkeit mitunter vermischen.

Falsche Erinnerungen sind das eine, ein Gedächtnisschwund das andere. Sehen Sie denn Möglichkeiten, den alters- oder auch demenzbedingten Verlust des Erinnerungsvermögens aufzuhalten?

Dazu kann ich momentan noch nichts Genaues sagen. Denn wir haben gerade eine wissenschaftliche Arbeit zu diesem Thema bei einem hochrangigen Wissenschaftsjournal eingereicht. Was jedoch schon bekannt ist: Mit dem Alter werden unsere Synapsen immer schwächer und zahlenmässig spärlicher. Daher fällt es uns zunehmend schwer, Erinnerungen abzurufen. Das beobachte ich auch bei mir. Manchmal fällt mir der Name einer Person, die ich schon seit 30 Jahren kenne, einfach nicht mehr ein. Erhalte ich dann weitere Gedächtnishilfen, kommt er plötzlich zurück. Er ist also noch im Gehirn gespeichert, für mich aber schwerer erreichbar. Ähnliches, nur weitaus schlimmer, spielt vermutlich bei der Demenz eine wichtige Rolle. Die von uns demnächst publizierte Arbeit dürfte hier für ein Umdenken sorgen.

Das Gedächtnis ist andererseits nicht die einzige Körperfunktion, die mit dem Alter nachlässt?

Ja, unser Körper ist wie eine Maschine, die sich mit den Jahren immer mehr abnutzt: Das Gehör, die Augen, der Geruchssinn, alles wird schlechter. Wenn Sie älter werden, realisieren Sie überdies nicht mehr alles, was um Sie herum geschieht. Meiner Meinung nach ist das von der Natur so gewollt. Denn der Übergang vom aktiven Leben zum Tod ist auf diese Weise sanfter. Mit dem Alter lösen wir uns immer mehr von der Wirklichkeit und leiden daher weniger, wenn wir am Lebensende angekommen sind.