Montag, 21. Dezember 2015

Dein Wille ist freier als du denkst, III.

aus scinexx

Wie frei ist unser freier Wille?
"Fernsteuerung" durch unbewusste Hirnprozesse reicht weniger weit als gedacht
Unser freier Wille reicht weiter als bisher angenommen: Selbst wenn unser Unbewusstes schon eine Entscheidung gefällt hat, können wir sie noch umstoßen, wie ein Experiment nun belegt. Unser Bewusstsein hat demnach doch noch ein Vetorecht und wird nicht einfach von unbewussten Prozessen ferngesteuert, wie es einige Studien andeuteten. Allerdings: Es gibt trotzdem einen Punkt, ab dem es kein Zurück mehr gibt, wie die Forscher herausfanden.

Wie frei sind wir in unseren Entscheidungen? Werden wir von unserm Gehirn bloß ferngesteuert? Diese Frage beschäftigt Hirnforscher, Psychologen und Philosophen schon seit den 1980er Jahren. Denn damals zeigte ein Experiment, dass unser Gehirn Entscheidungen vorwegnimmt: Noch bevor wir uns bewusst sind, wie unsere Wahl ausfallen wird, aktiviert das Gehirn Schaltkreise für eine der beiden Möglichkeiten – dies ist an Messungen der Hinströme ablesbar.


Wie aber kann es sein, dass unser Gehirn schon vorab weiß, wie wir uns entscheiden werden – bevor es bewusst passiert? Der Nachweis dieser Hirnreaktion gilt seither als Argument dafür, dass der freie Wille eine Illusion ist. Denn offenbar werden unsere Entscheidungen durch unbewusste Hirnmechanismen erzeugt und nicht durch unser bewusstes Ich gesteuert – oder doch nicht?

Wer ist am Steuer: das Ich oder das Unbewusste?

Hirnduell mit Computer: Proband während des ExperimentsJohn-Dylan Haynes vom Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité in Berlin und seine Kollegen haben diese Frage nun neu aufgerollt. "Unser Ziel war herauszufinden, ob mit dem Auftreten der frühen Hirnwellen eine Entscheidung automatisch und unkontrollierbar erfolgt, oder ob sich der Proband noch umentscheiden kann, also ein Veto ausüben ", erklärt Haynes.

Hirnduell mit Computer: Proband während des Experiments 

Für das Experiment saßen Probanden vor einem Bildschirm, auf dem zuerst ein grünes Licht leuchtete, dann nach einem unberechenbaren Zeitraum auf Rot wechselte. Aufgabe war es, irgendwann im grünen Zeitraum auf einen Fußschalter zu treten, auf keinen Fall aber im roten Zeitraum. Während des Versuchs trugen die Teilnehmer eine Elektrodenkappe, über die ihre Hirnströme abgeleitet wurden.

Ein Veto geht trotzdem noch

Der Sinn dahinter: Die Forscher wollten herausfinden, ob die Teilnehmer die Bewegung noch stoppen konnten, nachdem in ihrem Gehirn bereits das typische Muster der Bereitschaft aufgetreten war. Um diese Umentscheidung möglichst oft herbeizuführen, trickste der Computer die Probanden aus: Er schaltete absichtlich immer dann auf Rot, wenn das EEG anzeigte, dass sich im Gehirn der Teilnehmer die Entscheidung für die Bewegung angebahnt hatte.

Und tatsächlich: Mit dem plötzlichen Umschlag des Lichts von grün nach rot konfrontiert, schafften es die Probanden, ihre Entscheidung noch zu ändern. Selbst wenn ihr Gehirn bereits Vorbereitungen für die Fußbewegung anzeigte, blieb die Bewegung aus. "Sie waren dazu in der Lage, aktiv in den Ablauf der Entscheidung einzugreifen und eine Bewegung abzubrechen", erklärt Haynes. "Die Probanden sind den frühen Hirnwellen demnach nicht unkontrollierbar unterworfen."

Ab 200 Millisekunden gibt es kein Zurück mehr

Allerdings gibt es trotzdem einen "Point of no return": Erfolgte die Umentscheidung weniger als 200 Millisekunden vor Beginn der Bewegung, dann konnten die Probanden ihre Bewegung nicht mehr stoppen. Ab diesem Punkt läuft die Kaskade der Befehle an die Muskeln vollautomatisch ab und kann nicht mehr unterbrochen werden. Die einzige Einflussmöglichkeit, die wir dann noch haben, ist eine Modifikation, indem wir beispielsweise den Fuß neben den Schalter treten statt darauf.

Dennoch sehen die Forscher ihre Ergebnisse als wichtiges Zeichen dafür, dass wir keineswegs von unserm Gehirn ferngesteuert sind: "Dies bedeutet, dass die Freiheit menschlicher Willensentscheidungen wesentlich weniger eingeschränkt ist, als bisher gedacht", betont Haynes. Bis unmittelbar vor dem bewussten Ausdruck der Entscheidung können wir uns noch anders entscheiden als unser Gehirn es vorgibt. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2015; doi: 10.1073/pnas.1513569112)

(Charité – Universitätsmedizin Berlin / PNAS, 21.12.2015 - NPO)



Nota. - "...können wir uns noch anders entscheiden, als unser Gehirn es vorgibt" - woll'n sie uns verblöden? Bin ich ein anderer als mein Gehirn? Wer entscheidet sich da 'anders', wenn nicht 'mein Gehirn' selbst? Die Hype um die Hirnforschung dauert nun schon anderthalb Jahrzehnte, und im Wissenschaftsmagazin scinexx kann immer noch solcher Blödsinn erscheinen!

Es gibt keinen Homunculus im Kopf, keinen Chefdirigenten, keine höchste Instanz. Was in unserm Zen-tralorgan vor sich geht, ist ein systemischer Prozess, da greifen viele Impulse ineinander, sie alle sind 'Ich', aber ich bin der, der schließlich übrigbleibt und sagen muss: Das habe ich getan.
JE



Sonntag, 20. Dezember 2015

Das Auge des Rotkehlchens und das Grinsen von Schrödingers Katze.

SCHROeDINGERS KATZE - FOTOGRAFIERT MIT SPUKHAFTER FERNWIRKUNG

















Schrödingers Katze, in einem Wiener Experiment: Es gelang, dieses Objekt mit Licht abzubilden, das gar nicht mit ihm in Berührung gekommen ist. 
aus Die Presse, Wien, 20. 12. 2015

Quanten als Feenstaub
Spielen seltsame Effekte der Quantenphysik fürs Leben eine Rolle? Prägen sie gar das Hirn? Eine Gratwanderung zwischen Physik, Biologie und Fantasie.

von Thomas Kramar

„Your Quantum Brain“ titelte der New Scientist unlängst, die Unterzeile las sich noch wilder: „Does Weird Physics Control Your Thoughts?“ Das mag verdächtig nach dem Schindluder klingen, den Esoteriker mit der Quantenphysik treiben, wenn sie etwa Telepathie oder Wunderheilungen mit ihr erklären wollen. Doch der englische New Scientist, nach dem Scientific American die bekannteste populärwissenschaftliche Zeitschrift der Welt, liebt zwar knallige Titel und knackige Formulierungen, ist aber durchaus seriös. Und so nähert er sich der geschilderten These – das Hirn macht sich spezielle Quanteneffekte zunutze – mit Skepsis. Anders gesagt: mit dem bewährten Instrument namens Ockhams Rasiermesser.

Dieses Prinzip geht auf den Spätscholastiker Wilhelm von Ockham zurück und sagt: Man ziehe die einfachste Erklärung vor, für die man möglichst wenig Zusatzannahmen braucht! In unserem Fall: Begnügen wir uns doch mit den ganz klassischen Möglichkeiten eines komplizierten Geflechts von Milliarden Nervenzellen! Allgemeiner: Begnügen wir uns doch mit der ganz normalen Chemie, sie ist erstaunlich genug. Und sie fußt, was wir oft vergessen, auf der Quantentheorie. Mit klassischer Physik könnte man nicht einmal erklären, dass Atome stabil sind, eine rein klassische Welt wäre farblos – weil die Farben von Stoffen darauf beruhen, dass nur bestimmte Quantensprünge erlaubt sind – und formlos: ein fades Gas. Um die ganz alltäglichen chemischen Reaktionen zu erklären, braucht man erst recht die Quantentheorie.

Doch deren Interpretation strapaziert unseren Verstand ähnlich wie die Relativitätstheorie unsere Anschauung. So wie wir uns einen in sich gekrümmten dreidimensionalen Raum nicht vorstellen können, so können wir nur akzeptieren, nicht begreifen, dass z. B. ein Elektron zwar ein Teilchen, aber auch eine Welle ist – und als solche an zwei Orten zugleich sein kann. Dass ein Atom, solange man es nicht beobachtet, sich in einer Überlagerung aus den Zuständen „zerfallen“ und „nicht zerfallen“ befinden kann. (Schrödingers Katze heißt das Fabeltier, das entsprechend in einer Überlagerung aus den Zuständen „tot“ und „lebendig“ sein kann.) Oder dass zwei weit voneinander entfernte Objekte so miteinander verbunden – „verschränkt“ – sind, dass sie einander ohne Verzögerung beeinflussen, anscheinend (oder scheinbar?) das Gesetz verletzend, dass keine Information schneller als mit Lichtgeschwindigkeit übertragen werden kann.

Lithium für Ratten. 

Matthew Fisher, theoretischer Physiker in Santa Barbara, glaubt, dass genau diese Verschränkung in der Wechselwirkung der Nervenzellen eine Rolle spielt. Dazu beruft er sich auf ein Experiment aus dem Jahr 1986, dessen Ergebnis tatsächlich verblüfft, wenn's denn stimmt. Ratten wurden mit Lithium – das ja bei Menschen als Psychopharmakon, z. B. gegen Depressionen dient – gefüttert. Und zwar einmal als Isotop 6Li und einmal als 7Li: Die Wirkung sollte sich eigentlich nicht unterscheiden, sie tat's angeblich doch: Mit 6Li gefütterte Ratten wirkten viel aktiver. Das kann, meint Fisher, nur an den unterschiedlichen Spins der Atomkerne liegen – und an deren Verschränkung. Ähnliches traut er den Phosphoratomen in bestimmten (anorganischen) Molekülen zu, und hier wird die Sache schon sehr fantastisch.

Fisher steht damit in den Fußstapfen eines großen Kollegen, des theoretischen Physikers Roger Penrose, der 1994 das Buch „Schatten des Geistes“ veröffentlicht hat und seither das Bewusstsein aus – noch dazu durch Gravitation bewirkten – Quanteneffekten in den Mikrotubuli der Zellen erklären will. Diese röhrenartigen Strukturen finden sich freilich in Zellen aller Organe und aller Lebewesen. „Feenstaub in den Synapsen ist eine ähnlich gute Erklärung wie Quantenkohärenz in den Mikrotubuli“, urteilte die Neurophilosophin Patricia Churchland scharf.
In diesem Gebiet ernster zu nehmen als Penrose ist der Physiker Jim al-Khalili. Er hat jüngst mit dem Molekulargenetiker Johnjoe McFadden ein Buch namens „Life on the Edge“ veröffentlicht. Auf Deutsch heißt es „Der Quantenbeat des Lebens“ und wird mit diesem Titel wohl auch in Buchläden landen, wo sonst Literatur über Chakren und Einhörner aufliegt. Doch vom ins Esoterische abdriftenden Biologen Rupert Sheldrake etwa distanziert sich al-Khalili gleich, er nennt ihn einen „umstrittenen Parapsychologen“.
Unter Sheldrakes Ideen ist das nicht mess- und fassbare „morphische Feld“, das Zugvögel leiten soll. Die Orientierung von Tieren ist al-Khalilis überzeugendstes Beispiel dafür, dass Quanteneffekte in Lebewesen eine besondere Rolle spielen können. Rotkehlchen etwa orientieren sich am Magnetfeld der Erde, etwas in ihnen misst offenbar den Winkel zwischen den Feldlinien der Erde und der Erdoberfläche.
Aber was? Das Magnetfeld der Erde ist viel zu schwach, um eine chemische Reaktion in irgendeinem Sinnesorgan der Vögel zu induzieren. Also kamen Physiker auf die Idee, es könne auf den Spin (eine originär quantenphysikalische Eigenschaft also) einer Überlagerung (auch typisch Quantenwelt!) der Zustände zweier verschränkter (!) Elektronen im Augenpigment Cryptochrom wirken. Das, sagen die Physiker, funktioniert, und die Rotkehlchenforscher geben ihnen recht. Entscheidend dabei, wie bei anderen Quanteneffekten, ist, dass der fragliche Zustand lang genug hält, und das ist gar nicht selbstver-ständlich. Denn Quantenzustände sind wie scheue Rehe: Kaum beobachtet man sie oder schreckt sie sonst, verschwinden sie auch schon, ihre Wellenfunktion bricht zusammen, wie die Physiker drastisch sagen.
Eine besondere Feindin der Überlagerungen und Verschränkungen ist die thermische Bewegung der Atome und Moleküle – darum wird nur bei tiefsten Temperaturen an Quantencomputern gebastelt. Und das Leben findet im Warmen und Feuchtem statt, seine Ordnung wird dauernd vom Rauschen der Thermodynamik bedroht.
Doch es kann sich just dieses Rauschen zunutze – und aus der Not eine Tugend – machen, meint al-Khalili: Das passiere bei der Fotosynthese, bei ihr seien Quantenschwebungen wichtig. Hier wird al-Khalili etwas undeutlich und poetisch: „Statt sich vor den Stürmen zu verstecken, nimmt das Leben sie an und nutzt ihre molekulare Winde und Böen, die seine Segel füllen und das Schiff aufrechthalten, sodass sein schmaler Kiel die thermodynamischen Gewässer durchdringt und mit der Welt der Quanten in Verbindung tritt.“
Und so fort. Bei allem Respekt vor den Quanten: Hier meint man Schrödingers Katze grinsen zu sehen.

Freitag, 18. Dezember 2015

Serendipität, oder Professor Zufall.

Wie Bertold Schwarz vor zwei Sekunden / Des Pulvers große Kraft erfunden.
aus derStandard.at, 16. Dezember 2015, 17:33 

Serendipity: Der Zufall macht die Wissenschaft 
Lang ist die Liste der Entdeckungen von Dingen, die gar nicht gesucht wurden – ob Flemings Penicillin, Post-its oder Quantenphysik 

von Peter Illetschko

Alexander Fleming war einer jener Wissenschafter, die sich über mangelndes Glück in ihrer Forschung nicht beklagen konnten. Der schottische Bakteriologe bemerkte 1928 zufällig in Staphylokokken-Kulturen geratene Schimmelpilze der Gattung Penicillium notatum, die die Keime töteten. Er hatte die Kulturen angelegt, um die Verursacher der Lungenentzündung genauer zu untersuchen. Fleming soll daraufhin erfreut "That's funny" gerufen haben. Kein Wunder: Er entdeckte damit Penicillin, was mittlerweile wohl unzähligen an bakteriellen Infektionen erkrankten Menschen das Leben rettete. 

Flemings Geschichte zeigt die Bedeutung von Serendipity für die Wissenschaft auf. Die zufällige, uner-wartbare Entdeckung von etwas, das gar nicht gesucht wurde, geht auf das persische Märchen Die drei Prinzen von Serendip zurück, die viele derartige Überraschungen erleben. Der US- amerikanische Soziologe Robert Merton hat für die Verbreitung des Begriffs in der Wissenschaft gesorgt. Heute weiß jeder Grundlagenforscher, was Serendipity ist und was es bedeutet: "Es ist ein wichtiger Verbündeter für alle Wissenschafter", sagt zum Beispiel die Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny. 

Die ehemalige Präsidentin des Europäischen Forschungsrats (ERC), derzeit unter anderem Mitglied des österreichischen Forschungsrats, hat kürzlich ihr neuestes Buch vorgelegt, in dem sie ihre Untersuchungen und Einsichten zum Thema Zufall in der Wissenschaft zusammenfasst. "The Cunning of Uncertainty" ist mittlerweile von der "Financial Times" unter die fünf besten Science-Bücher des Jahres gewählt worden. 

Was wäre wenn 

Es hätte auch anders kommen können: Nowotny schreibt in ihrem Buch, wie wichtig diese Erkenntnis angesichts zahlreicher Entdeckungen ist. Der Schimmelpilz hätte sich auch nicht ansetzen können. Viel-leicht hätte Fleming eine andere Möglichkeit entdeckt, die gefährlichen Bakterien zu bekämpfen. Vielleicht wäre aber auch ein anderer Wissenschafter zufällig auf den Schimmelpilz gestoßen. Serendipity bedeutet nicht nur, auf nicht erwartbare Entdeckungen bei Experimenten zu stoßen. Man muss auch in der Lage sein, diesen glücklichen Zufall und seine Bedeutung als solchen zu erkennen – nicht nur intellektuell. 

"Da spielt auch die Tagesverfassung eine große Rolle" , sagt Nowotny. Sie nennt Beispiele von Serendipi-ty, die nicht als solche erkannt wurden, und sieht dafür einen triftigen Grund: Die Wissenschafter waren auf das von ihnen erwartete Ergebnis fokussiert, "sodass sie nicht sahen, was am Rande geschah". So weiß man zum Beispiel, dass das Phänomen der Hochtemperatur-Supraleitung schon vor der Entdeckung durch Johannes Georg Bednorz und Karl Alexander Müller von einer französischen Gruppe beobachtet wurde. Allerdings haben sie die Bedeutung ihrer Entdeckung nicht erkannt. Nowotny: "Das ist bitter, kommt aber immer wieder vor." 

Neue Kombinationen 

Es muss wohl auch nicht immer etwas Originäres sein, das mithilfe des Zufalls entdeckt wird. Es geht auch darum, eine neue Kombinationsmöglichkeit von bereits existierenden Dingen zu erkennen – vielleicht sogar notgedrungen. "Wir leben in einer Zeit, in der es schwieriger wird, etwas völlig Neues zu entdecken", sagt Nowotny. Eines der berühmtesten Beispiele für Serendipity ist in diesem Fall die Erfindung des Post-its Anfang der 1970er-Jahre. Arthur Fry, Wissenschafter beim Technologiekonzern 3M, grübelte bei einer Chorprobe über Lesezeichen, die aus dem Gesangsbuch herausfallen – und erinnerte sich an eine Erfindung seines Firmenkollegen Spencer Silver. Dieser hatte sechs Jahre zuvor einen Klebstoff entwickelt, der auf einer glatten Fläche angebracht werden konnte, um Papierzettel daran zu heften, sie aber auch wieder leicht entfernen zu können. Fry hatte die spontane, für sein Lesezeichenproblem beste Eingebung, den Klebstoff auf das Papier selbst aufzutragen. Die Klebezettel waren erfunden. 

Einflüsse der Umwelt 

Schließlich scheint auch das Setting eines Experiments wichtig zu sein, wenn man dem Zufall eine Chance geben möchte. Wird man abgelenkt? Werden die Ergebnisse möglicherweise von der Umwelt beeinflusst? Eines der amüsantesten Beispiele in diesem Zusammenhang: Otto Stern und Walther Gerlach, die beide starke Zigarren rauchten, gelang 1922 ein Meilenstein der Quantenphysik. Sie beobachteten erstmals die Richtungsaufteilung durch die Quanteneigenschaft Spin. Die Wissenschafter haben Silberatome durch ein Magnetfeld geleitet, wobei jeweils die Hälfte der Teilchen nach oben und die andere nach unten abgelenkt wurde. 

Zwar konnten auch andere Wissenschafter, die keine starken Raucher waren, diese "Quantelung" nach-vollziehen, aber in diesem besonderen Fall scheint der Rauch positiven Einfluss gehabt zu haben. Der Schwefel des Rauches verknüpfte sich nämlich mit dem Silber, sodass die beiden Wissenschafter einen sichtbaren Nachweis bringen konnten. Die Wissenschafter Bretislav Friedrich und Dudley Herschbach, damals an der Harvard University, haben das 2003 mit einem Paper nachgewiesen. "Stern and Gerlach: How a bad cigar helped reorient atomic physics" wird bis heute in Vorlesungen zitiert. 

Ein Plädoyer 

Es könnten noch viele derartige Beispiele genannt werden. Sie würden alle ein Plädoyer für die Grundla-genforschung sein – wie Nowotnys Buch "The Cunning of Uncertainty". Die Wissenschaftsforscherin meint, es gebe zweierlei Trends in der gegenwärtigen Forschung: Die Forschungsförderer würden inter-national mehr denn je in Richtung Anwendung gehen, "weil sie dem Druck der Regierungen nachgeben müssen, ergebnisorientierte Forschung zu fördern". Andererseits habe man mit Open Innovation, der Einbindung von Laien in wissenschaftliche Arbeit, wieder mehr Platz für Serendipity geschaffen. Die Grundlagenforschung an den Unis würde mittendrin stehen. 

Läuft sie Gefahr unterzugehen? Nowotny verneint und sieht die Chance auf zufällige Entdeckungen als Grundvoraussetzung für diese Wissenschaft. "Hier kann es keine Vorhersage geben, ob Versuche zum angenommenen Ergebnis kommen – selbst wenn es die Geldgeber noch so gern hätten."

Helga Nowotny The Cunning of Uncertainty John Wiley & Sons 2015 220 Seiten, 24,90 Euro  


Nota. - Aber solche Zufälle ergeben sich nur, wenn es Wissenschaft als Instanz oder zumindest als Institution schon gibt: wo systematisch und nach den Regeln der Kunst geforscht wird. Geniale Beobachtungen macht vielleicht auch der Schuhmacher oder Zimmermann in seinem Berufsalltag. Doch wenn und wo sie nicht auf einen schon beackerten Boden fallen, gehen sie verloren.

Hätte Böttcher nicht Gold machen wollen, hätte er nicht das Porzellan erfunden: Immerhin hat er die Rezep-tur notiert. Und dass Einstein die glücklichen Einfälle hatte, die wir dieser Tage feiern, war schließlich auch nur ein Zufall; allerdings hatte er ihn gründlich vorbereitet.
JE



Donnerstag, 17. Dezember 2015

Dein Wille ist freier, als du denkst; II.


Wie frei ist der Wille wirklich?institution logo






Manuela Zingl
GB Unternehmenskommunikation
Charité – Universitätsmedizin Berlin

Berliner Wissenschaftler prüfen Grundmuster von Entscheidungen

Unser Wille ist freier als bislang angenommen. In computergestützten Experimenten haben Hirnforscher der Charité – Universitätsmedizin Berlin Entscheidungsabläufe am Beispiel von Bewegungen untersucht. Die entscheidende Frage: Lassen sich Prozesse im Gehirn wieder stoppen, wenn sie einmal angestoßen sind? Die Forscher kommen zu dem Schluss: Ja, bis zu einem gewissen Punkt, dem „point of no return“. Die Ergebnisse der Studie sind im aktuellen Fachmagazin PNAS* veröffentlicht.

Hintergrund der neuen Untersuchungen: Spätestens seit den 1980er Jahren diskutieren Hirnforscher, Psychologen, Philosophen und Öffentlichkeit über die Bewusstheit und Vorbestimmtheit menschlicher Entscheidungen. Seinerzeit studierte der amerikanische Forscher Benjamin Libet Hirnprozesse von Probanden, während sie einfache freie Entscheidungen fällten. Er zeigte, dass das Gehirn Entscheidungen bereits unbewusst vorwegnahm. Noch bevor sich eine Person willentlich entschieden hatte, war ein sogenanntes „Bereitschaftspotenzial“ in ihren elektrischen Hirnwellen zu erkennen.


Wie aber kann es sein, dass das Gehirn vorab weiß, wie sich ein Proband entscheiden wird, obwohl es diesem selbst noch gar nicht bewusst ist? Die Existenz der vorbereitenden Hirnwellen galt bis dato oft als Beleg für den sogenannten „Determinismus“. Demnach ist der freie Wille eine Illusion – unsere Entscheidungen werden durch unbewusste Hirnmechanismen erzeugt und nicht durch unser „bewusstes Ich“ gesteuert. Die Forscher um Prof. Dr. John-Dylan Haynes vom Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité haben die Thematik gemeinsam mit Prof. Dr. Benjamin Blankertz und Matthias Schultze-Kraft von der Technischen Universität Berlin neu aufgerollt. Mit aktuellen Messtechniken sind sie der Frage nachgegangen, ob Menschen geplante Bewegungsabläufe stoppen können, nachdem das Bereitschaftspotential für eine Handlung ausgelöst worden ist.



„Unser Ziel war herauszufinden, ob mit dem Auftreten der frühen Hirnwellen eine Entscheidung automatisch und unkontrollierbar erfolgt, oder ob sich der Proband noch umentscheiden, also ein „Veto“ ausüben kann“, erklärt Prof. Haynes. Dazu haben die Wissenschaftler Probanden in ein „Hirnduell“ mit einem Computer geschickt und während des Spiels die Hirnwellen per Elektroenzephalographie abgeleitet. Ein speziell „trainierter“ Computer versuchte anhand der Hirnwellen vorherzusagen, wann sich ein Proband aufgrund von Anreizen bewegen würde und sollte den Probanden überlisten: Sobald die Hirnwellen Anzeichen dafür gaben, dass sich der Proband in Kürze bewegen würde, wurde das Spiel zugunsten des Computers manipuliert.

Wenn es Probanden möglich ist, aus der Falle der Vorhersagbarkeit ihrer eigenen Hirnprozesse zu entkommen, wäre dies ein Anzeichen dafür, dass sie über ihre Handlungen noch weit länger Kontrolle haben, als bisher angenommen. Genau das konnten die Forscher nun aufzeigen: „Die Probanden sind den frühen Hirnwellen nicht unkontrollierbar unterworfen. Sie waren dazu in der Lage, aktiv in den Ablauf der Entscheidung einzugreifen und eine Bewegung abzubrechen“, sagt Prof. Haynes. „Dies bedeutet, dass die Freiheit menschlicher Willensentscheidungen wesentlich weniger eingeschränkt ist, als bisher gedacht. Dennoch gibt es einen Punkt im zeitlichen Ablauf von Entscheidungsprozessen, ab dem eine Umkehr nicht mehr möglich ist, den ‚point of no return’.“ In weiteren Studien werden die Berliner Wissenschaftler komplexere Entscheidungsabläufe untersuchen.

*Matthias Schultze-Kraft, Daniel Birman, Marco Rusconi, Carsten Allefeld, Kai Görgen, Sven Dähne, Benjamin Blankertz and John-Dylan Haynes. Point of no return in vetoing self-initiated movements. Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA, Dec. 2015. doi/10.1073/pnas.1513569112.

Kontakt:
Prof. Dr. John-Dylan Haynes
Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging (BCAN)
Bernstein Center for Computational Neuroscience 
Charité – Universitätsmedizin Berlin
t: +49 1525 463 9421
E-Mail: john-dylan.haynes@charite.de


Weitere Informationen: http://www.charité.de
https://sites.google.com/site/hayneslab/

Mittwoch, 16. Dezember 2015

Verkalkung bei Wikipedia, oder Wissenschaft ist öffentliches Wissen.

aus Süddeutsche.de, 16. 12. 2015

Wikipedia: Über hundert Fehler, super!
Immer weniger Menschen schreiben für Wikipedia. Wer selbst dabei war, weiß, warum. 

Von Thomas Urban

"Wikipedia stirbt", verkündete unlängst ein deutsches Lifestyle-Magazin. Der Grund: Immer weniger Autoren wollen bei der Internetenzyklopädie mitmachen. Noch sind die Exitus-Meldungen verfrüht und übertrieben: Wikipedia zählt mittlerweile fast 35 Millionen Artikel in rund 280 Sprachen, jeden Tag nutzen Millionen Menschen das Lexikon. Am größten ist die englischsprachige Version mit knapp fünf Millionen Artikeln, die deutschsprachige liegt mit fast 1,9 Millionen auf dem zweiten Rang, kann dafür aber im Durchschnitt mit den ausführlichsten Darstellungen aufwarten. Doch die Begeisterung, eigenes Wissen mit aller Welt zu teilen, erfasst immer weniger Menschen. 2007 war dabei der Gipfel erreicht, seitdem geht es kontinuierlich bergab.

Wissenschaftler der Universitäten von Berkeley, Washington und Minnesota haben in der Studie "The Rise and Decline of an Open Collaboration System"zwei Hauptgründe für diese abfallende Kurve ausgemacht: Da ist zum einen das abschreckend komplizierte Regelwerk der Wikipedia. Wer dagegen verstößt, dessen Textbeiträge werden "revertiert", also gelöscht. Zum anderen mangelt es an Willkommenskultur: zwar gibt es viele Empfehlungen, wie neue Autoren zu behandeln sind - doch das klappt selten.


Der Grundton auf den Diskussionsseiten, die es zu jedem Artikel gibt, ist gereizt, die in den Wikipedia-Regeln vorgeschriebene Freundlichkeit eher die Ausnahme. Die amerikanischen Wissenschaftler haben dem Gesamtphänomen einen Namen gegeben: "Calcification" - Verkalkung. Wikipedia leidet an fortschreitender bürokratischer Erstarrung, die den verzweifelt gesuchten "goldenen Autoren", die sowohl guten Willen als auch profundes Fachwissen mitbringen, das Mitmachen verleidet.

Ein Fußballexperte klagt

Besonders schwer von den rückläufigen Zahlen der Autoren ist die deutschsprachige Version des Lexikons betroffen. Die Zahl der aktiven Wikipedianer ist auf mehrere Tausend zurückgegangen. Manche der langjährigen Aktivisten begründen ihren Ausstieg, so wie etwa der Fußballexperte mit dem Pseudonym Ureinwohner. Auf seine Profilseite hat er den Spruch gestellt: "Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder ... die Wikipedia auch".


Der Italienexperte Hans-Jürgen Hübner merkt auf seiner Seite an: "Leider hat die unangemessene Diskussionskultur sehr viele Autoren verprellt - und noch viel mehr von vornherein abgeschreckt." Hinzu kommt, dass von den verbliebenen Aktivisten nur ein Bruchteil zur inhaltlichen Erweiterung und Verbesserung beiträgt. Die meisten sind Häkchenmacher: Sie beschränken sich auf die Korrektur von Komma- und Tippfehlern, vereinheitlichen Textformate, verlinken Textelemente. Dies ist kein Kleinkram, sondern Kärrnerarbeit, damit die Enzyklopädie überhaupt funktioniert.

Doch bei den Inhalten ist man im Kriechgang angelangt. Um die WP-User zu mehr Aktivität und Kreativität zu verleiten, werden einige interne Auszeichnungen ausgelobt, vom "Wikikranz mit Stern" über den "Artikel des Tages" bis zum "Schreibwettbewerb". Der Erfolg ist überschaubar: nur wenige Dutzend beteiligen sich daran. Und die Ergebnisse sind mitunter angreifbar, wie ein sich seit drei Jahren hinziehender bizarrer Streit um den "Schreibwettbewerb 2011" zeigt, bei dem der Artikel "Das Massaker von Katyn"siegte. In der Nähe dieses russischen Dorfes hat Stalin 1940 mehr als 4000polnische Offiziere und Fähnriche, überwiegend Reservisten mit Hochschulbildung, erschießen lassen. Der 75. Jahrestag war Anlass für eine Gruppe junger Historiker, Publikationen dazu zu untersuchen, darunter auch den preisgekrönten Wikipedia-Artikel. Das Ergebnis: Er enthält mehr als 130Sachfehler, darunter einige schwere Brocken, und er ignoriert die neue Fachliteratur vollkommen.

Ein mangelhafter Text erhält einen Preis

Nun ist es das Prinzip von Wikipedia, dass Autoren Fehler in einem Artikel verbessern und den Inhalt ergänzen. Doch der Sieger des Schreibwettbewerbs blockiert jede Korrektur und Ergänzung. Dutzende von Korrigierversuchen, an denen sich anfangs auch der Autor dieses Textes beteiligte, hat er revertiert - mit der Begründung, die Wikipedia-Gemeinschaft habe den Katyn-Artikel ja als "exzellent" bewertet. Dabei haben an der Bewertung nur ein paar Dutzend Wikipedianer teilgenommen. Diese kuriose Kontroverse - erst wird ein von Fehlern strotzender Artikel ausgezeichnet, dann wird deren Verbesserung verhindert - mag ein Extremfall sein. Doch lassen sich an ihm die Mechanismen aufzeigen, die zur "Verkalkung" Wikipedias führen. Denn es handelt sich um eine klassische Konfrontation zwischen Power-Usern, wie es im Wiki-Slang heißt, die aber Amateure sind, und "goldenen" Fachautoren, die indes weder Zeit noch Ehrgeiz haben, in der inneren Hierarchie der großen digitalen Gemeinschaft aufzusteigen.


Wie die amerikanischen Wissenschaftler darlegen, neigen die Power-User zur Vereinsmeierei. Oft betrachten sie neue Autoren als Eindringlinge in ihre Welt, in der zudem ein für Außenstehende unverständlicher Techno-Slang gesprochen wird. Hinzu kommt ein Konstruktionsfehler: Die tragende Säule im System sind gewählte "Administratoren", die auf die Einhaltung der Regeln achten und Konflikte schlichten sollen. Sie sind in Streitfällen gleichzeitig Untersuchungsführer, Ankläger und Richter. Sie können Autoren sperren.

Konstruktion mit Konfliktstoff

Nun sind Administratoren zunächst einmal Menschen, die sich ehrenamtlich für eine große Sache einsetzen. Doch birgt die Konstruktion viel Konfliktstoff in sich: Seiten, auf denen die Nutzer diskutieren, können, sind voll von Klagen über Selbstherrlichkeit und Willkür von Administratoren. Da gegen ihre Entscheidungen in der Praxis kaum anzukommen ist, erlauben sich manche von ihnen Verstöße gegen die Regeln, über deren Einhaltung sie eigentlich wachen müssen. So ist es auch im Streit um den Katyn-Artikel: Die offenkundig als störend empfundene Liste mit den 130 Fehlern, die auch genaue Quellenhinweise enthält, hat ein permanent genervt klingender Administrator ohne inhaltliche Begründung schlicht aus der Diskussionsseite entfernt und den Protest dagegen ebenfalls. Mehrere andere Administratoren sind ihm beigesprungen - man schließt sich in der Power-User-Sekte, wo man sich oft persönlich kennt, gegen Besserwisser von außen zusammen. Der Grundgedanke von Wikipedia, eine offene Plattform zu sein, bleibt dabei auf der Strecke. Und alle Vorurteile über Qualitätsmängel werden bestätigt.

Eigentlich hat man bei den Wikipedianern keine Illusionen darüber. Die Statistik für 2014 weist ganze 2,09 Prozent der Gesamtzahl der deutschsprachigen Artikel als "lesenswert" aus - nach den Kriterien, die die Wiki-Community selbst definiert hat. Eine der tieferen Ursachen für diese niedrige Zahl liegt im Profilierungsdrang vieler Power-User: Sie sehen die eigentlich auf kollektive Arbeit angelegte Interaktion als Dauerduell an. Dass auf diese Weise "goldene Autoren" vergrault werden, ist längst Alltag geworden: 85 Prozent steigen nach weniger als einem Jahr wieder aus.


Nota. - Wissenschaft ist öffentliches Wissen: das heißt Wissen, das jedermann jederzeit überall zugänglich ist; zugänglich ist, um es sich anzueignen, und zugänglich, um es zu kritisieren. Das heißt natürlich, dass die Kritik, nachdem sie selbst geprüft wurde, in den Wissensbestand Eingang findet. 

Was ist der Wissensbestand? Das, was die scientific community zu einem gegebenen Zeitpunkt als gesichertes oder immerhin der ernsthaften Prüfung wertes Wissen ansieht. Warum diese Einschränkung? Weil sie es ist, die das Wissen in ihren Bibliotheken und Zeitschriften bewahrt und zugänglich hält.

Manch einer, der mit seinen Propositionen nicht durchgedrungen ist, beklagt sich, dass es in der scientific community nicht gerecht und zumindest nicht durchsichtig abgehe, dass Klüngel zu Werke sind und Privilegien kultiviert werden. Ob die Klage zutrifft oder nicht, kann wiederum nur die scientific community selbst entscheiden, und das kann dauern; so lange dauert gegebenenfalls auch das Unrecht. Aber früher oder später wird für wissenschaftliche Sauberkeit gesorgt, da kann man sicher sein, weil eine Jeder einen neidischen Mitbewerber hat, der ihm missgünstig auf die Finger sieht.

Entstanden ist die scientific community aus der scholastischen Gelehrtenrepublik, res publica eruditorum, die war klein und überschaubar, und wenn einer aus Salamanca, der Sorbonne oder Pavia kam, wusste man ihn zu schätzen und einzuschätzen. Die Eifersucht war schon damals der Garant wissenschaftlicher Rechtschaffenheit, und wer auf der einen Hochschule nicht reüssierte, war auf der anderen womöglich gerade darum willkommen.

Zu einer Zeit, wo der Leuchtturm der Wissenschaft in Bologna steht, ist das nicht mehr selbstverständlich. Alle Zertifikate gelten gleich, in der Masse und der bürokratischen Mühle geht vieles unter. Genau genommen kann man sagen: Es ist Öffentlichkeit verloren gegangen! 

Im Vergleich dazu schneidet das Projekt Wikipedia schlecht ab. Sie stammt nicht aus einer auratischen Gelehrtenrepublik, nicht aus einer handverlesenen Ersten Liga, sondern aus einem Häuflein Verschworener, die sich die Idee in den Kopf gesetzt hatten, Schwarmintelligenz könne können ein ganzes Jahrtausend Wissenschaftsbetrieb aufwiegen. Das war kein Irrtum, sondern ein richtiger Fehler, und führte nur darum nicht zum Desaster, weil eine Menge Leute, die wirklich was von ihrer Sache verstanden, mit ihrem Wissen nicht geizen, sondern auch was zu einem Unternehmen beitragen wollten, wo die Anonymität der Einträge die Eitelkeit der Autoren in Grenzen hält.

Das klappte solange, wie sich die In-group der Power-User mit der Kärrner-Arbeit des Formatierens, Editierend und Korrekturlesens begnügten. Aber der Pioniergeist der frühen Jahre ermüdet, die wirklich was wissen, wenden sich wieder ihren akademischen Standardgeschäften zu, den Veteranen unter Power-Usern ist der Kamm geschwollen und das Bewusstsein ihrer Unersätzlichkeit zu Kopf gestiegen. 

Mit andern Worten, Wikipedia ist nach vielen Jahren das passiert, was noch fast jedem andern Online-Forum schon nach wenigen Monaten passiert.ist. Es ist ein systemischer Prozess, und man muss befürchten, dass er sich nicht umkehren lässt. Das fängt schon bei der Frage an: Wer sollte denn die Initiative ergreifen?
JE


Dienstag, 15. Dezember 2015

Algorithmen und Naturvorgänge.


V. I. Surikov Tanz um das goldene Kalb
aus derStandard.at, 12. Dezember 2015, 17:4

Evolutionäre Prozesse ahmen Aspekte der Informatik nach 
Unterschiedliche Komplexitätsklassen: Nicht jeder Vorgang ist mit einer einfachen Formel lösbar 

Klosterneuburg – In der Informatik werden Probleme, die sich durch Handlungsvorschriften, also algorith-misch, lösen lassen, in Komplexitätsklassen eingeteilt. Über unerwartete Verbindungen zwischen diesem Informatikgebiet und der Biologie berichten Forscher des Institute of Science and Technology (IST) Austria im Fachjournal PNAS. Sie können damit für biologische Fragen klären, ob sie effizient berechenbar sind. Im Informatik-Teilgebiet der "Komplexitätstheorie" werden Probleme in Komplexitätsklassen zusammen-gefasst, die einen bestimmten Aufwand von Ressourcen haben, etwa Berechnungsschritte oder Speicher-platz. 

Rasmus Ibsen-Jensen und Krishnendu Chatterjee vom IST in Klosterneuburg haben gemeinsam mit dem österreichischen Biomathematiker Martin A. Nowak von der Harvard Universität mittels dieser klar defi-nierten Komplexitätsklassen einige fundamentale Fragen der theoretischen Biologie untersucht, konkret die ökologische und evolutionäre Dynamik innerhalb von strukturierten Populationen. 

Formeln und Algorithmen 

Sie konnten dabei diese Fragen exakten Komplexitätsklassen zuordnen und damit mit Sicherheit sagen, ob sie mittels Algorithmen lösbar sind. Es scheint ganz so, als "würden die evolutionären Prozesse Aspekte der Informatik nachahmen", berichten die Forscher in einer Aussendung des IST. Dem entsprechend emp-fehlen sie, "dass sich die Forschung zu bestimmten Fragestellungen in der ökologischen und evolutionären Dynamik auf jene Aspekte fokussieren sollte, die rechnerisch mit einer einfachen Formel lösbar sind". So konnten sie zeigen, dass etwa die Fragen, wie man die Wahrscheinlichkeit dafür bestimmen, dass sich eine neue genetische Mutation in einer Population durchsetzt, nicht mit einer einfachen Formel lösbar sind. 

Auch die Frage, ob eine invasive Art eine ökologische Nische erobert, lässt sich nicht mit einem Algorith-mus effizient lösen. Dagegen stellten sie fest, dass es für zwei Fragestellungen effiziente Lösungen zur Be-rechnung geben muss: Zum einen für die "Molekulare Uhr", einer Methode, bei welcher der Zeitpunkt der Aufspaltung zweier Arten von einem gemeinsamen Vorfahren abgeschätzt wird. Und zum anderen die Fi-xierungswahrscheinlichkeit, also die Chance einer genetischen Variation, sich in einer gut durchmischten Population durchzusetzen. (APA

Abstract PNAS: "Computational complexity of ecological and evolutionary spatial dynamics"


Nota. - Das ist natürlich ein Witz: 'Naturvorgänge ahmen Algorithmen nach'; will ich doch hoffen! Wenn dadurch bewusster würde, dass in den theoretischen Sätzen der pp. exakten Wissenschaften nur einge-fangen ist, was der Forschungspraxis zugänglich geworden ist, wäre es ein Sieg der kritischen über die dogmatische Auffassung der Wissenschaft. Doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Statt der Begriffe werden nunmehr die Algorithmen zu den unhintergehbaren Wesenheiten der unerschütterlichen Realisten. Der Berliner sagt: Da stehste machtlos vis-à-vis.
JE


Freitag, 11. Dezember 2015

Logische Probleme sind mitunter unentscheidbar, aber in der Physik ist manches nicht wissbar.

aus Der Standard, Wien, 10. Dezember 2015, 18:19 

Unlösbarkeit eines fundamentalen Problems der Physik 
Die Quantenmechanik kann weniger beschreiben als gedacht, zeigen Forscher aktuell in "Nature" 

London/Wien – Ungelöste Probleme gibt es in der modernen Physik zuhauf. Erstmals wurde nun aber die prinzipielle Unlösbarkeit eines fundamentalen Problems der Physik gezeigt. Damit gewinnt ein zentraler Satz der Logik, der auf den österreichischen Logiker Kurt Gödel zurückgeht, auch jenseits der Mathematik Relevanz. 

Nach Gödels Unvollständigkeitssatz kann es in logischen Systemen Sätze geben, die von außen zwar wahr sind, innerhalb des Systems aber nicht bewiesen werden können. Eine derartige Einschränkung scheint auch in der Quantenphysik zu gelten: Wie Wissenschafter nun im Fachblatt "Nature" berichten, reicht sogar eine vollständige Beschreibung der mikroskopischen Eigenschaften eines Materials nicht aus, um sein makroskopisches Verhalten vorherzusagen. 


Konkret geht es in der Studie um die Beschreibung von Elektronen in Festkörpern. Halbleiter zeichnen sich dadurch aus, dass nur wenig Energie – die sogenannte spektrale Lücke – benötigt wird, um ein Elektron aus dem niedrigsten Energiezustand in einen angeregten Zustand zu befördern. Schließt sich die spektrale Lücke, können Festkörper sprunghaft zu einem völlig anderen Verhalten übergehen und etwa plötzlich zu Leitern werden. 


Unerwartetes Ergebnis 

Wie die Wissenschafter zeigen, ist die Existenz einer solchen spektralen Lücke ein prinzipiell unlösbares Problem. "Es kann keine allgemeine Methode geben, um festzustellen, ob ein quantenmechanisch beschriebenes Material eine spektrale Lücke hat oder nicht", sagt Studien-Mitautor Toby Cubitt vom University College London. "Dies begrenzt die Möglichkeiten, das Verhalten von Quantenmaterialien vorherzusagen, entscheidend – möglicherweise sogar grundlegende Aussagen in der Teilchenphysik." 


Dass es prinzipiell unentscheidbare Probleme gibt, ist seit Gödels Arbeiten der 1930er bekannt. "Bisher fanden sich solche jedoch nur in sehr abstrakten Winkeln der Informatik und Logik", sagt Mitautor Michael Wolf, Professor an der Technischen Universität München. "Niemand hätte so etwas mitten im Herzen der theoretischen Physik erwartet." (trat


Abstract:  Nature: "Undecidability of the spectral gap"  


Nota. –  Ergänzung zu gestern. Kritisch zu bemerken ist aber, dass die beiläufigen Bemerkung, "damit gewinnt ein zentraler Satz der Logik auch jenseits der Mathematik Relevanz", den Anschein erweckt, als gäbe es einen sachlichen oder materialen Übergang zwischen Logik und Physik. Die Physik lässt sich in mathematischen Formulierungen darstellen  weitgehend, jedenfalls so weit gehend, wie sie bis heute reicht. Das ist eins. Die Annahme, dass in der Realität, die von den physikalischen Modellen auf mathe-matische Weise wiedergegeben wird, ihrerseits mathematische Regeln wie Gesetze 'wirken', ist ganz etwas anderes. Es ist ein metaphysischer Glaubenssatz, der mit Naturwissenschaft sachlich nichts zu tun hat (wenn sie auch historisch durch ihn erst entstanden ist).
JE 


Mittwoch, 9. Dezember 2015

Physik: Unentscheidbare Probleme, ja die gibt es.


Bändermodell: Flächen konstanter Energie für die Halbleiter Ge, Si und GaAs. Die Symmetrie der Energieflächen der indirekten Halbleiter Si und Ge ist sehr viel komplizierter als für den direkten Halbleiter GaAs; aus spektrum.de

aus Die Presse, Wien, 10. 12. 2015

Eine offene Lücke in der Physik
Aus der quantenmechanischen Beschreibung eines Systems kann man weniger schließen, als man bisher dachte.

Von Thomas Kramar

So viele Atome, so viele Elektronen, das Gitter schwingt wild: In der Physik der Festkörper ist alles sehr kompliziert. Zu ihren intuitivsten – und populärsten – Konzepten zählt das Bändermodell: Die Elektronen eines Festkörpers sind in Energiebändern daheim, das Valenzband ist vollständig mit Elektronen besetzt, das Leitungsband nicht. Dazwischen ist bei Nichtleitern eine Bandlücke (auf Englisch: gap), bei Leitern keine, bei Halbleitern eine kleine. Exakter mathematisch zu definieren ist das spectral gap: als Energie-differenz zwischen dem Grundzustand und dem ersten angeregten Zustand eines Elektrons.

Kann man, wenn man die mikroskopische Struktur eines Systems mit vielen Elektronen kennt und die einschlägigen quantenmechanischen Rechenmethoden beherrscht, vorhersagen, ob es eine solche Energielücke hat oder nicht? Ja, würden wohl die meisten Festkörperphysiker sagen. Doch Mathematiker um Toby Cubitt (Cambridge) und Michael Wolf (München) zeigten in Nature (9. 12.): Man kann es nicht, und zwar grundsätzlich nicht. „Es ist ein unentscheidbares Problem“, sagt Cubitt. „Das heißt, dass eine allgemeine Methode nicht existieren kann, mit der man bestimmen kann, ob Materie, die von der Quantenmechanik beschrieben wird, eine spektrale Lücke hat oder nicht.“

Unentscheidbare Probleme kennt man aus den ganz abstrakten Regionen der Mathematik, etwa von Kurt Gödel, der nachwies, dass es in formalen Systemen wie der Arithmetik Aussagen geben muss, die man formal weder beweisen noch widerlegen kann. „Niemand hat sich bisher ernsthaft überlegt, dass es so etwas auch im Herzen der theoretischen Physik geben könnte“, sagt Wolf: „Unsere Ergebnisse ändern dieses Bild.“

Millennium-Problem unlösbar?

Eine spektrale Lücke spielt auch im Herzen der Teilchenphysik eine Rolle: in der Yang-Mills-Theorie, die die starke und die schwache Kraft beschreibt. Zu zeigen, dass in ihr eine solche Lücke existiert, ist sogar Teil eines der sieben Millennium-Probleme der Mathematik, für deren Klärung das Clay Mathematics Institute im Jahr 2000 je eine Million Dollar ausgelobt hat.

Heißt das, dass niemand die Million bekommen kann? Nicht unbedingt, erklärt Cubitt: „Es ist möglich, dass besondere Fälle eines Problems lösbar sind, auch wenn das allgemeine Problem unentscheidbar ist.“


Nota. - Trauen Sie nicht dem Augenschein! Dass es in der Physik, und zwar ganz unten im elementarsten Bereich, Probleme gibt, die sich grundsätzlich nicht entscheiden lassen, nie und nimmer, ist für den gesun-den Menschenverstand nicht besorgniserregend, sondern im Gegenteil tief beruhigend: Denn wäre es an-ders, ließen sich alle Rätsel der Welt lückenlos auflösen, wenn die Intelligenz restlos Alles durchschauen könnte – dann führte kein vernünftiger Weg an der Annahme vorbei, dass diese Welt von einem intelligen-ten Designer ausgedacht worden ist. Und das wäre allerdings der Tod des gesunden Menschenverstandes, denn es übersteigt allen Verstand.
JE

Dienstag, 17. November 2015

King Of Paranoia.


Unter Paranoia versteht man die charakteristische Verbindung von Größen- und Verfolgungswahn.

Größenwahn bei sonst klarem Verstand kann die Augen nicht verschließen vor der Diskrepanz zwischen Selbstwahrnehmung und dem Urteil der Welt. Erklären kann er sie, wenn er richtig gut ist, durch allgemeine Verschwörung.

Das führt uns zum nächsten charakteristischen Merkmal der Paranoia: dem Beziehungswahn. Da er der Größte ist, kann sich der Paranoiker nicht vorstellen, dass auf der Welt etwas passiert, das ohne Bezug auf IHN wäre.

Dazu bedarf er einer großen Mühe, des weiteren Merkmals der Paranoia: des Interpretationswahns. Alles ist Zeichen, doch Zeichen wofür? Für den geheimen Bezug auf IHN, den die Verschwörer leugnen und den nur der Betroffene erkennt. Das pausenlose Interpretieren kostet viel geistige Energie. Nicht jeder kann sich eine echte Paranoia leisten, nur die Klügeren.

*

Hinzu kommt im klinischen Befund, ohne dass es eine logische oder genetische Verbindung gäbe, die typische Erotomanie des Paranoikers: Bei ihm geht nichts ohne Sex.*

Sie merken es, lieber Leser: Ich spreche vom Wahnsystem des Professors Freud.**


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*) Viele Paranoiker sind außerdem Säufer. Ist das Zufall oder liegt es in der Sache selbst? Säufer war Freud wohl nicht, oder? Gestorben ist er immerhin an Kehlkopfkrebs, der mit Nikotin- und Alkoholmissbrauch in Verbindung gebracht wird.

**) Aber ich will schon noch ein gutes Haar an ihm lassen: "Wer Trinken, Rauchen und Sex aufgibt, lebt auch nicht länger. Es kommt ihm nur so vor", wird ihm zugeschrieben, und das klingt wieder nach gesundem Men-schenverstand.





Samstag, 14. November 2015

Konsonanten bevorzugen gemäßigtes Klima.

aus Die Presse, Wien, 5. 11. 2015

Je heißer das Land, umso mehr Vokale?
Linguisten sehen einen Zusammenhang zwischen dem Klima und dem Sound menschlicher Sprachen.

Warum klingen die Sprachen so verschieden? Warum gibt es just in slawischen Sprachen so viele gehäufte Konsonanten? Warum verzichtet das Chinesische, aber auch das Italienische weitgehend auf geschlossene Silben? Warum kommen die Klick- und Schnalzlaute fast nur in den Khoisansprachen des südlichen Afrika vor? Wieso ist im Türkischen das Ü und im Schwedischen das Ö so häufig?

Man wird wohl nie alle Charakteristika von Sprachen erklären können, weder aus kulturellen Eigenheiten noch aus naturräumlichen Faktoren. Doch schon länger grassiert eine simple, aber einleuchtende These darüber, wie das Klima die Sprachen prägen könnte: Menschen in warmen Gegenden verbringen mehr Zeit draußen, kommunizieren dort über weitere Distanzen. Sie sollten also Lautkombinationen bevorzugen, die auch unter schlechten Bedingungen gut über große Strecken übertragen werden.

Linguisten um Ian Maddieson (University of New Mexico) präsentierten nun bei der Tagung der Acoustical Society of America in Florida eine Theorie, die diese Idee verfeinert. Maddieson beruft sich dabei explizit auf eine Parallele aus der Zoologie: Singvögel verwenden eher Frequenzen, die in ihren Habitaten gut übertragen werden, so singen Waldvögel tiefer als Vögel in offenen Arealen. Denn Bäume lenken die Schallwellen ab.

Mehr Bäume, weniger Konsonanten

In menschlichen Sprachen sind Konsonanten besonders anspruchsvoll, was den Frequenzbereich anbelangt; das ist ein Grund, warum alte Leute, die die hohen Frequenzen nicht mehr hören können, Sprache so schlecht verstehen. „Das könnte erklären, warum Sprachen in Gegenden mit größerer Baumdichte dazu neigen, weniger konsonantenreich zu sein“, meint Maddieson. Aber nicht nur die Vegetation beeinflusse die bevorzugten Laute von Sprachen, sondern auch die Temperatur: Warme Luft könne kleine Wellen bilden, die die Übertragung hoher Frequenzen stören. Tatsächlich fand Maddieson eine Korrelation der Konsonantendichte von Sprachen mit der Gegend, wo sie gesprochen werden: mit Baumdichte, Niederschlag, Temperatur. Sprachen in feuchteren und heißeren Gebieten seien weniger „consonant-heavy“, fasst er zusammen.

Für ihre Analyse verwendeten die Linguisten immerhin 633 Sprachen, dabei schlossen sie aber Weltsprachen wie Spanisch, Englisch und Mandarin aus: Deren Verbreitung hat gewiss nichts mehr mit den Naturräumen zu tun, in denen sie einst entstanden sind. (tk)



Donnerstag, 12. November 2015

Prosodie und Bedeutung.

Pfarrer Ray Kelly
aus scinexx

Vom Tonfall zur Bedeutung
Unser Gehirn erkennt subtile Unterschiede im Tonfall über verschiedene neuronale Pfade

Der Ton macht die Musik: Forscher haben herausgefunden, wie unser Gehirn subtile Veränderungen im Tonfall eines Sprechers wahrnimmt und verarbeitet. Dabei stießen sie auf Überraschungen: Beim Interpretieren des Tonfalls spielt unser Gehirn die Kehlkopfbewegungen nach, mit denen die Töne entstanden. Außerdem liegen die dazu nötigen komplexen Netzwerke von Nervenzellen in einer anderen Hirnhälfte als diejenigen zur Erkennung von Sprache, beschreiben die Neurologen im Magazin "Current Biology".

Sprache ist mehr als nur aneinandergereihte Worte: Der Tonfall, in dem wir diese Worte aussprechen, trägt entscheidend zu deren Bedeutung bei. Oft verrät er sogar mehr über die Ansichten des Sprechers als die rein wörtliche Bedeutung des Gesagten. "Stellen Sie sich doch einfach mal ein leidenschaftlich, ein zögerlich oder ein ironisch gesprochenes 'Ja' in Antwort auf einen Heiratsantrag vor", schlägt Daniela Sammer vom Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig vor. "Da haben Sie ein anschauliches Beispiel für die wichtige Funktion des Tonfalls."

Auf die Verbindungen kommt es an

Diesen Aspekt der Sprache fassen Wissenschaftler unter dem Begriff Prosodie zusammen. Diese beinhaltet alle sprachlichen Eigenschaften wie Akzent, Intonation oder auch Sprechpausen. Wie das Gehirn diesen wichtigen Teil unserer Kommunikation verarbeitet, war jedoch bislang unklar.

Zwar ist bekannt, dass die reinen Wortlaute vor allem in den Sprachzentren der linken Gehirnhälfte entschlüsselt werden. Menschliches Verhalten und auch die Sprache lassen sich aber nicht nur auf einzelne Hirnregionen reduzieren – es kommt vor allem auf die Verbindungen zwischen den einzelnen Bereichen an. Solche existierenden Pfadmodelle lieferten bislang keine Anhaltspunkte über die Verarbeitung der Prosodie.


Aktive Hirnregionen in der rechten Hirnhälfte beim Entschlüsseln der Prosodie

Die Ergebnisse zeigten zunächst zwei Gruppen aktiver Regionen in der rechten Hirnhälfte. Die erste Gruppe besteht aus dem vorderen und hinteren superioren temporalen Sulcus, der obersten der drei Furchen im Schläfenlappen des Gehirns. Diese Areale könnten Stationen sein, die den charakteristischen akustischen Verlauf der Tonhöhen bei Fragen oder Aussagen heraushören und entsprechend interpretieren, sagen die Forscher.

Gehirn stellt Bewegung des Kehlkopfes nach

Die zweite Gruppe bilden aktive Gebiete im sogenannten inferioren Frontallappen (IFG) und dem prämotorischen Kortex (PMC) in dem Areal, welches die Bewegungen des Kehlkopfes steuert. "Der IFG unterstützt die Bewertung des Tonfalls, während der PMC an dieser Stelle die Vibration der Stimmbänder und somit die Tonhöhe einer Äußerung kontrolliert", erklärt Sammler. "Dieser Befund ist sehr interessant, da die Probanden die Stimuli lediglich hörten und nicht selbst sprachen."

Die Studienteilnehmer stellten offenbar die nötigen Kehlkopfbewegungen, die der Sprecher jeweils für ein Wort benutzte, intern nach. Das Gehirn übersetzt Gehörtes also auch in einen Bewegungsbefehl. Dies fördert das Verständnis von Sprache, indem der Hörer in sich selbst das Gehirn die Bewegungsprogramme rekonstruiert, die ein Sprecher für die Produktion des Gehörten selbst genutzt hat. "Bislang vermutete man diesen Aspekt nur für die nichtprosodische Sprachverarbeitung in der linken Hemisphäre", sagt Sammler. "Die vorliegenden Daten könnten aber für einen ähnlichen Mechanismus in der Wahrnehmung des Tonfalls sprechen."

Feine Untertöne über flexible Pfade unterscheidbar

Darüber hinaus bestimmten die Forscher die Bündel von Nervenfasern der weißen Substanz, die dem Informationsaustausch in diesem Netzwerk zugrunde liegen. Dafür berechneten die Forscher die anatomischen Verbindungen zwischen den aktivierten Gehirnregionen aus den Gehirnbildern der Studienteilnehmer.


Faserbündel-Pfade in der rechten Hirnhälfte für die Prosodie-Wahrnehmung.*

Die Ergebnisse zeigen deutlich zwei Faserbündel, die die beiden zuvor erkannten aktiven Gruppen in der rechten Hirnhälfte miteinander verbinden. Eines folgt dem sogenannten mittleren longitudinalen Fasciculus, das zweite dem folgt dem Verlauf des Fasciculus arcuatus beziehungsweise des superioren longitudinalen Fasciculus. Dieser ist in der linken Hemisphäre bereits als Verbindungsbahn zwischen den Sprachzentren bekannt.

Das Gehirn nimmt den Tonfall einer Sprache also entlang mehrerer Pfade wahr. Im Unterschied zu anderen Signalpfaden für Sprache liegen sie vor allem in der rechten Hirnhälfte. "Vermutlich lassen sich diese Pfade flexibel kombinieren und erfüllen so unterschiedliche Aufgaben", fasst Sammler zusammen. "Dadurch kann das Gehirn feine Untertöne in der Stimme des Gegenübers erkennen." Die genaue Kenntnis dieses Prosodie-Netzwerkes helfe auch beim Verständnis zwischenmenschlicher Kommunikation und ihrer Störungen. (Current Biology, 2015; doi: 10.1016/j.cub.2015.10.009)

(Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, 09.11.2015 - AKR) 

*) Faserbündel-Pfade in der rechten Hirnhälfte für die Prosodie-Wahrnehmung. Posteriorer (pSTS) und anteriorer (aSTS) superiorer temporaler Sulcus, inferiorer Frontallappen (IFG) und prämotorischer Kortex (PMC) sind entlang dem Fasciculus arcuatus (AF) beziehungsweise dem superioren longitudinalen Fasciculus (SLF) miteinander vernetzt.

Nota. - Das digit, das digitale Symbol schlechthin ist das Wort, daran ändert das binäre Darstellungssystem aus I und O nichts: denn die bedeuten eben sinnhaltige Worte mit ja oder nein. Und jetz muss man sagen: das geschriebene Wort. Denn nur dieses lässt sich mit I und O auszeichnen, nicht das gesprochene: denn das muss zusätzlich auf analoge Weise entschlüsselt werden, mit dem Ohr: hörend. Da lässt sich mit I und O nichts anfangen.

Das ist unter anderm theoretisch interessant. Aber praktisch (unter anderm) auch deshalb, weil es der Hype um die bildgebenden Verfahren der Hirnforschung einen deutlichen Dämpfer verpasst. Denn was diese Verfahren beobachten, sind zwar analoge (elektrochemische) Vorgänge zwischen den Hirnzellen. Aber sie halten sie auf digitale Weise fest. Die digitalen Chiffren werden dann zwar wieder in analoge Bilder umgesetzt. Aber sie können nur das analog umsetzen, was zwischendurch digital erfasst war; was sich der digitalen Erfassung eventuell entzog, ist verloren gegangen. - Es sei denn, man nähme an, das Gehirn habe den aus den analogen Signalen (re)konstruierten Sinn selber schon digital umgerechnet und als solchen behalten; was die digitalen Messinstrumente erfassen, sei daher der unverkürzte Sinn selbst!

Praktisch ist es insofern, als damit alle Phantasien über maschinelles Gedankenlesen bereits auf technischer Ebene der Boden entzogen ist; die semantischen Probleme bei der Umsetzung von Zeichen in Bedeutung ist da noch nicht einmal berührt.

(Hab ich mich verheddert? Egal: Sie können sicher sein, dass die heutigen Akkord-Forscher sich solche Fragen nicht einmal stellen. Und die Koriphäen, die das könnten und wollten, machen Grundlagenfor-schung, für Anderes haben sie keine Zeit.)
JE