Sonntag, 31. August 2014

Die falsche Positivität der Wissenschaft.

Falguière, Objet trouvé à Pompéi
aus derStandard.at,

Problematischer Publikationsbias
Her mit der Insignifikanz!
Stanford-Forscher untersuchten das wechselseitige Problem des Dranges nach signifikanten Studienergebnissen

von David Rennert

Stanford/Wien – Die Tendenz, nur "positive" bzw. signifikante Forschungsergebnisse zu veröffentlichen, nicht aber "negative" oder insignifikante, ist ein ernsthaftes Problem in der Wissenschaft. Die dadurch entstehende statistische Verzerrung der Datenlage bildet den tatsächlichen Forschungsstand eines Faches nur unzureichend ab und kann im schlimmsten Fall zu erheblichen Folgefehlern führen.

"Schubladenproblem"

Die Methoden, einen Publikationsbias aufzudecken, greifen jedoch häufig zu kurz: Metaanalysen aller veröffentlichten wie unveröffentlichten Studien zu einem Thema scheitern häufig am sogenannten "Schubladenproblem", nämlich daran, dass Forscher unschlüssige Studienergebnisse gar nicht erst zur Publikation einreichen, sondern in der "Schublade verschwinden" lassen. Der Ansatz, sogenannte "graue Literatur" – in dem Fall etwa unveröffentlichte Dissertationen, Arbeits- und Konferenzpapers und dergleichen – als Vergleichsmaterial zu verwenden, birgt wiederum die Gefahr, Insignifikanz und mangelnde Qualität miteinander zu vermischen.

Forscher der Universität Stanford untersuchten das Ausmaß dieses Phänomens nun genauer: Wie sie in "Science" berichten, griffen sie auf Daten eines Förderprogrammes der US-amerikanischen National Science Foundation (NSF) für junge Sozialwissenschafter zurück, bei dem Studien zur Unterstützung eingereicht werden können.

Die Einsendungen durchlaufen dabei bereits vor der Auswahl einen gründlichen Begutachtungsprozess. So verfügten die Forscher über insgesamt 221 begutachtete Studien mit Förderungszusage, und zwar unabhängig von späteren Ergebnissen und davon, ob sie anschließend veröffentlicht wurden oder nicht. Und tatsächlich zeigten sich große Unterschiede: Nur jede fünfte Studie, die ein Nullresultat erzielte, wurde später auch veröffentlicht – im Gegensatz zu fast 60 Prozent der signifikanten Studien.

Problematische Orientierung

Vieles deutet dabei wiederum auf das "Schubladenproblem" hin: denn nur 35 Prozent der Nullresultate wurden überhaupt eingereicht. Dabei beißt sich die Katze jedoch in den Schwanz, denn als Ursachen dafür identifizierten die Forscher sowohl die strukturelle Logik im Publikationsbetrieb als auch die Eigenmotivation von Wissenschaftern.

Gutachter und Verleger bevorzugen demnach aus naheliegenden Gründen aussagekräftige Ergebnisse, Wissenschafter orientieren sich aber auch primär daran: So erklärten in Befragungen die meisten Studienautoren, die zu keinen signifikanten Resultaten kamen und ihre Ergebnisse auch nicht einreichten, sie hätten das Interesse an dem Projekt verloren. Der Hauptgrund: Die fehlende Aussicht auf Veröffentlichung.
 

Samstag, 30. August 2014

Die Messbarkeit des Glücks.

Falguière, Objet trouvé à Pompéi
aus Die Presse, Wien, 30. 8. 2014

Psychologie: 
Wie die Wissenschaft das Glück erforscht
Mehr als 1000 Wissenschaftler diskutierten in Innsbruck über „Glück und Wohlbefinden in der Gesundheitsvorsorge“. Die Suche nach dem Glück lohnt jedenfalls, denn eines steht fest: Wer glücklich ist, lebt länger.

 

Macht es einen Unterschied für das Glücksempfinden, ob jemand im Lotto gewinnt oder im Rollstuhl sitzt? Eine auf den ersten Blick vielleicht etwas drastische Gegenüberstellung, die aber schon wissenschaftlich untersucht wurde.


„Es macht kaum einen Unterschied“, sagt Stefan Höfer vom Department für Medizinische Psychologie der Medizinischen Universität Innsbruck. Denn: „Jeder Mensch definiert Glück anders.“ Demnach könne ein Lottogewinner zwar zum Zeitpunkt des Gewinns besonders glücklich oder ein Mensch, der nach einem Unfall körperlich beeinträchtigt ist, besonders unglücklich sein. Längerfristig komme es aber darauf an, wie man sein Leben führt.

Der subjektive Charakter des Themas macht es besonders komplex, darin liegt auch die Herausforderung für die Forschung. Dort stoßen Glücksfragen offenbar auf großes Interesse: Über 1000 Wissenschaftler aus 61 Staaten folgten der Einladung Höfers nach Innsbruck. Sie diskutierten von Dienstag bis heute über „Glück und Wohlbefinden in der Gesundheitsvorsorge“. Die meisten Teilnehmer kommen aus der Gesundheitspsychologie, denn die Wissenschaft vom Glück gibt es nicht: „Viele Disziplinen sind beteiligt“, sagt Höfer. Auch Ärzte und Pfleger seien dabei, die Tagung sei außerdem offen für Soziologen, Philosophen oder Ökonomen.

Glück als subjektiver Wert

Einer der prominentesten Teilnehmer ist Ruut Veenhoven. Der niederländische Soziologe befasst sich seit mehreren Jahrzehnten wissenschaftlich mit dem Thema Glück, das er als „subjektive Bewertung des Lebens insgesamt, kurz der Lebenszufriedenheit“ sieht. Diese Definition ist die Basis für seine umfassenden Untersuchungen: Veenhoven hat die bis heute umfangreichste Datensammlung zum Thema Glück angelegt (siehe Beitrag unten). „Nach der Zufriedenheit der Menschen kann man fragen, das macht das Thema messbar“, so der Soziologe.

Was aber macht Menschen nun glücklich? Grundsätzlich bestimmend sind nach Veenhoven drei Bereiche: die Genetik, die Umwelt – und dabei Soziales genauso wie etwa die Luftverschmutzung – und das eigene Verhalten. Bei Letzterem liegt auch der Gestaltungsspielraum für den Menschen.
Die Erwartungen, was glücklich macht, unterscheiden sich rund um den Globus. Sie müssen auch nicht stimmen. Die tatsächlichen Einflussfaktoren hingegen sind eher universell: „Die größte Überraschung war für mich, zu sehen, dass eine funktionierende öffentliche Verwaltung entscheidend ist“, sagt Veenhoven. „Wer hätte gedacht, dass Bürokratie glücklich macht? Aber genau das zeigen die Daten.“

Den größten Unterschied beim Glücksempfinden gibt es zwischen Simbabwe und Dänemark. Auf einer zehnstelligen Zufriedenheitsskala klaffen die Mittelwerte der beiden Länder mit 2,8 (Simbabwe) zu 8.3 (Dänemark) deutlich auseinander, wobei ein niedriger Wert für große Unzufriedenheit steht. Gleichzeitig zeigten Daten der Weltbank, dass die Qualität der Verwaltung in Simbabwe am schlechtesten und in Dänemark am besten ist. „Die Verwaltung ist sogar wichtiger für das Glück als der materielle Wohlstand“, so Veenhoven.

Macht Geld also nicht glücklich? Doch, meint der Sozialforscher: Mehr Reichtum gehe in allen Ländern klar mit mehr Glück einher. Allerdings sei dieser Effekt in ärmeren Staaten weit ausgeprägter als in Ländern, wo es eine gewisse Grundsicherung gibt, also auch in Österreich. Auch soziale Sicherheit spiele in reicheren Ländern eine weit geringere Rolle. Selbst Einsparungen hätten hier in den vergangenen 20 Jahren keinen Unterschied gebracht.

Ein weit wichtigerer Faktor ist die Freiheit: „In Ländern, in denen die Menschen nicht über ihr eigenes Leben bestimmen können, nicht heiraten dürfen, wen sie lieben, sondern wen der Pastor oder die Mutter aussucht, in denen man seinen Beruf, seine Religion nicht frei wählen kann, sind die Menschen besonders unglücklich“, so Verhooven. In den westlichen „Wahlgesellschaften“ lebten die Leute deutlich zufriedener.

„Wir sind so glücklich, weil wir unsere eigene Wahl treffen können.“ In der Entscheidungsfreiheit liegt aber zugleich das Risiko: „Wir können natürlich auch die falsche Wahl treffen: den falschen Partner oder den falschen Beruf wählen. Falsche Entscheidungen sind ein Rezept fürs Unglücklichsein.“
Eine entscheidende Rolle spielen jedenfalls die Mitmenschen. Rund um den Globus zeige sich, dass diejenigen, die gute Sozialbeziehungen haben, glücklicher sind: „Wir sind soziale Tiere, allein können wir kaum glücklich sein.“ Zugleich würde es glücklichen Menschen leichter fallen, soziale Kontakte einzugehen, sie hätten bessere Chancen auf eine funktionierende Ehe und seien sogar bessere Eltern.

Entscheidender als Gesundheit

Die Mitmenschen seien sogar entscheidender als die Gesundheit, sagt der Innsbrucker Tagungsleiter Stefan Höfer – immerhin ein Gesundheitspsychologe: „Jeder wird krank. Niemanden zu haben verschlimmert die Situation.“ Das Wichtigste zum Glücklichsein sind demnach Familie, Freunde und auch das Pflegepersonal.

Glück ist aber auch für die Lebenserwartung entscheidend. Höfer hat dazu 432 Herz-Kreislauf-Patienten über mehrere Jahre untersucht: vor und nach Eingriffen am Herzen. Die Personen wurden etwa gefragt, wie sie sich fühlen, wie es ihnen in ihren Beziehungen oder bei körperlichen Aktivitäten geht. „Es zeigt sich klar, dass eine zuversichtliche Einschätzung zum eigenen Wohlbefinden, die die Personen rund um den Eingriff äußerten, eine entscheidende Rolle für den weiteren Krankheitsverlauf spielt.“

Als die Befragung nach vier Jahren wiederholt wurde, waren einige Patienten bereits verstorben. „Faktoren wie das Alter oder Werte wie Blutdruck oder Gefäßdurchfluss waren zwar statistisch bedeutsam. Die Selbsteinschätzung der Patienten und die Einstellung, die sich daraus widerspiegelt, sind aber für eine Vorhersage weit aussagekräftiger“, so Höfer.

Auch der Niederländer Ruut Veenhoven hat nachgewiesen, dass glückliche Menschen länger leben. Das habe sich in Langzeitstudien über dreißig Jahre statistisch gezeigt – ein Zeichen für die hohe Relevanz des Tagungsthemas zur Rolle von Glück und Wohlbefinden in der Prävention.

Gibt es Tipps des Wissenschaftlers zum Glücklichsein? Nein. Es liege an jedem Einzelnen, eine passende Lebensweise zu finden. Man müsse mit Fallen und Wiederaufstehen dazulernen und so Lebensweisheit sammeln. Dabei helfe eine positive Einstellung: „Denn wenn man nicht positiv ist, versucht man ja gar nicht, ein besseres Leben zu finden.“



("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2014)

Freitag, 29. August 2014

Big Science: Wissenschaft als Massenerwerbsweise.

Über 3000 Mitarbeiter und 10 000 Gastwissenschafter sind an den Experimenten im Cern beteiligt.
aus nzz.ch, 29.8.2014, 11:30 Uhr             Über 3000 Mitarbeiter und 10 000 Gastwissenschafter sind an den Experimenten im Cern beteiligt.

Ein Trend und seine Probleme
Das Zeitalter der «Big Science»

Naturwissenschaftliche Forschung, einst Berufung für wenige, ist heute ein ökonomisch und politisch bedeutsamer Berufszweig. Diese Entwicklung, die nicht nur durch einzelne Grossprojekte vorangetrieben wird, wirft Fragen auf, die dringend einer Antwort harren.

«Ich hab den Job!», rief mein Kollege Ron triumphierend, als er mit einem geöffneten Brief in der Hand in unser Laboratorium stürmte. Der «Job» war eine Assistenzprofessur an der renommierten Princeton University, Grund genug für uns Postdoktoranden, ihm zu gratulieren. Dennoch schien uns sein Erfolg nicht aussergewöhnlich, hatte doch Ron zwei Jahre lang in der berühmten Arbeitsgruppe des Biochemikers Efraim Racker gearbeitet und in dieser Zeit vier wissenschaftliche Arbeiten publiziert. Da Racker ihn überdies seinen Kollegen in Princeton auf das Wärmste empfohlen hatte, war Rons wissenschaftliche Ausbeute mehr als ausreichend. Tatsächlich war er ein hervorragender Wissenschafter, der schon bald darauf ein weltweit führender Forscher wurde.

Der Takt der Verdoppelung

Das war 1965 – Erinnerung für mich, Steinzeit für junge Biologen von heute, denen Rons jour de gloire wie ein Märchen aus «1001 Nacht» erscheinen muss. Um sich gegen die hundert oder mehr Bewerber für eine prestigeträchtige Universitätsstelle durchzusetzen, braucht es heute meist eine mindestens vierjährige Postdoktoranden-Ausbildung und mehr als ein halbes Dutzend Publikationen über «heisse» Themen in «exklusiven» wissenschaftlichen Zeitschriften. Und wer die begehrte Assistenzprofessur dann in der Tasche hat, muss sich auf einen unbarmherzigen Kampf um Forschungsgelder und weltweite Anerkennung gefasst machen. – Dies ist nicht verwunderlich, hat sich doch seit Rons Triumph die Zahl der Wissenschafter mindestens verzehnfacht. Dies bedeutet, dass achtzig bis neunzig Prozent aller Wissenschafter, die je gelebt haben, heute leben – und dass jedes Jahrzehnt so viele Wissenschafter «produziert» wie die gesamte Menschheitsgeschichte zuvor. Eine so dramatische quantitative Veränderung bedingt stets auch eine qualitative, sei dies in der Biosphäre, der Ökonomie – oder der Wissenschaft. «Little Science» – die von Neugier getriebene Forschung Einzelner oder kleiner Gruppen – hat sich zur «Big Science» gemausert.


Diese Entwicklung gründet nicht in bestimmten Ereignissen oder politischen Entscheiden, sondern im Anwachsen der Wissenschaftsgemeinde und wissenschaftlicher Informationen. Wie fast jede Evolution, so verlief auch diese exponentiell, was bedeutet, dass sich die Geschwindigkeit des Wachstums laufend erhöhte. Dieses Wachstum setzte um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein und nähert sich seit etwa 1920 mit Verdopplungszeiten von zehn bis fünfzehn Jahren der Präzision eines empirischen Gesetzes. Das Wachstum schien anfangs unbedeutend, hat aber nun das berüchtigte «Knie» der exponentiellen Kurve erreicht, in dem jedes weitere Wachstum nicht nur das Wesen wissenschaftlicher Forschung, sondern auch die öffentlichen Ressourcen vor neue Herausforderungen stellt.

Der Wissenschaftsbetrieb wächst derzeit schneller als die Weltbevölkerung oder die Bruttosozialprodukte, die sich jeweils in fünfzig bzw. zwanzig Jahren verdoppeln. Exponentielles Wachstum schafft neue Probleme meist schneller, als man sie lösen kann, und stösst früher oder später an seine Grenzen. Für viele Bereiche der Naturwissenschaft, besonders für die Biologie, scheint dies nun der Fall zu sein. «Big Science» verschlingt heute einen signifikanten Teil öffentlicher Ressourcen; Wissenschafter schliessen sich zu Berufsverbänden zusammen und kämpfen gegen eine Flut von Regeln und politischen Verordnungen; in manchen Ländern fordern Studierende und Postdoktoranden formale Lehrvereinbarungen; und Universitäten lehren Fakten, Methoden sowie «Berufsethik», aber nur selten, was Wissenschaft ist, was sie von uns fordert und wie sie unsere Sicht der Welt verändert. Ergebnis dieser Entwicklung ist der gut ausgebildete, ungebildete Wissenschafter.

«Big Science» bedroht auch die wissenschaftliche Grundforderung, die eigenen Resultate kritisch zu hinterfragen. Laut einer neueren Untersuchung lassen sich mindestens zwei Drittel aller biomedizinischen Ergebnisse nicht reproduzieren, was nicht nur Zeit und Geld verschwendet, sondern auch den Erfolg klinischer Versuchsserien beeinträchtigt. Der Biologe und Statistiker John P. A. Ioannidis hat behauptet, dass die meisten biomedizinischen Forschungsresultate zumindest teilweise falsch sind. Die Gründe dafür sind vielschichtig: steigende Komplexität der untersuchten biologischen Systeme, mangelnde Sorgfalt wegen des Konkurrenzdrucks; der unbarmherzige Publikationszwang; von Netzwerken geförderter, unbewusster Konformismus; mangelnde statistische Auswertung; finanzielle Interessen – und nicht zuletzt bewusste Fälschung.

Fragwürdige Masszahlen sind ein weiteres Problem. Die jährlich publizierte Rangordnung von Universitäten, die Häufigkeit, mit der Publikationen eines Autors von Fachkollegen zitiert werden, sowie der «Impaktfaktor» einer wissenschaftlichen Zeitschrift überschatten zunehmend den Forscheralltag. Der Impaktfaktor – die Häufigkeit, mit der die Artikel einer Zeitschrift von anderen durchschnittlich zitiert werden – gilt weithin als Qualitätsmassstab für die wissenschaftliche Zeitschrift und sogar für die darin publizierenden Wissenschafter. Wissenschaftssoziologen haben dies von Anfang an angeprangert, doch der Bürokratie liefert der Faktor eine willkommene Zahl, um Wissenschaft zu organisieren und zu koordinieren. Organisation ist jedoch der Feind von Innovation – und Koordination der von Motivation. Vor zwei Jahren blies die Wissenschaftsgemeinde endlich zum Gegenangriff und erklärte den Impaktfaktor als ungeeignet, um über Anstellung, Beförderung oder finanzielle Unterstützung eines Forschers zu entscheiden. Alte Gewohnheiten halten sich jedoch hartnäckig, und so wird es wohl eine Weile dauern, bis diese pseudowissenschaftliche Messzahl im Abfallkorb der Geschichte landet.

Wissenschaft braucht nicht nur Kooperation, sondern auch Konkurrenz. Diese ist jedoch heute so mörderisch, dass manche Forschungsgebiete Kriegsschauplätzen gleichen. In meiner Tätigkeit als Redaktor für «prominente» wissenschaftliche Zeitschriften entsetzt mich immer die Feindseligkeit, mit der viele Gutachter die zur Veröffentlichung eingereichten Manuskripte ihrer Kollegen in Grund und Boden verdammen. Anstatt hilfreiche Vorschläge zu unterbreiten, scheinen sie alles daranzusetzen, dem Manuskript ihres Konkurrenten den Todesstoss zu versetzen. Noch dazu fordern einige Zeitschriften von ihren Redaktoren, mindestens zwei Drittel der eingereichten Manuskripte abzulehnen, ohne sie von Experten begutachten zu lassen. Die Hektik des heutigen Wissenschaftsbetriebs lässt Forschern nur selten genügend Zeit, um ein Manuskript mit der nötigen Sorgfalt durchzukämmen, so dass laut neueren Studien anonyme Begutachtungen weder die Qualität noch die Reproduzierbarkeit publizierter wissenschaftlicher Resultate gewährleisten. Der Siegeszug elektronischer Zeitschriften eröffnet aber nun die Möglichkeit, wissenschaftliche Arbeiten nicht vor, sondern nach der Veröffentlichung zu kommentieren. Dies schüfe auch eine Plattform, um über erfolglose Experimente zu berichten, die für den Fortschritt der Wissenschaft ebenfalls wichtig sind.

Erfreuliche Aspekte

Manche Forschungsprojekte, wie die Entwicklung neuer Technologien aufgrund bereits vorhandener Erkenntnisse oder die Suche nach den Grundteilchen der Materie, erfordern den Einsatz grosser Gruppen, doch dies gilt nur sehr begrenzt für viele der Grossforschungsprojekte und organisierten Netzwerke der heutigen biomedizinischen Grundlagenforschung, die bis zu einer Milliarde Euro in ein einziges Forschungsziel investieren. Dieser Gigantismus übersieht, dass grundlegende Entdeckungen meist nicht organisierten Gruppen, sondern einzelnen Querdenkern zu verdanken sind. Um dieser Entwicklung die Stirn zu bieten, brauchte es eine Persönlichkeit, die als «Stimme der Wissenschaft» den politischen und bürokratischen Entscheidungsträgern das Wesen und die Anliegen langfristiger Grundlagenforschung nahebringt. Europa fehlt eine solche Stimme.

«Big Science» hat auch ein freundliches Antlitz. Zu ihren Geschenken zählen wirksame nationale Institutionen zur Forschungsförderung, Auslandsstipendien für junge Wissenschafter, fairere akademische Karrierestrukturen, vermehrte Beachtung von Geschlechtergleichheit sowie Kommunikationsmöglichkeiten, von denen ich als junger Forscher nur träumen konnte. Zudem scheint sich das exponentielle Wachstum der biologischen Forschung zu verlangsamen. Wissenschaftliche Evolutionen haben ihre eigenen Gesetze, die wir nur unvollständig kennen. Wir müssen sie besser verstehen, wenn wir «Big Science» in den Griff bekommen wollen.

Der Biochemiker Gottfried Schatz ist emeritierter Professor der Universität Basel. Bei NZZ-Libro sind erschienen: «Jenseits der Gene», «Zaubergarten Biologie» und «Feuersucher. Die Jagd nach den Rätseln der Lebensenergie».

Mittwoch, 27. August 2014

Aktive Anpassung.

Polypterus
aus Die Presse, Wien, 28. 8. 2014

Biologie
Wie Fische aus dem Wasser ans Land stiegen
Der große Umbau des Körpers und des Verhaltens fand vor 400 Millionen Jahren statt. Aber seine Prinzipien kann man heute noch erkunden, an einem Fisch, der in beiden Welten leben kann.


Vor etwa 400 Millionen Jahren stiegen die ersten Fische aus dem Wasser ans Land, sie wurden die Ahnen aller dortigen Vierfüßler (Tetrapoden), von den Amphibien über die Vögel bis zu Säugern, auch hin zu Schlangen, diese legten nur ihre Extremitäten wieder ab. Das Ganze war einer der Schlüsselschritte der Evolution, lange suchte man das Missing Link, anno 2006 war es gefunden: Es war ein zwei Meter langes Mischwesen aus Fisch und Tetrapod, hatte eine Rückenflosse, sah aber sonst ein wenig aus wie ein Krokodil. Es lebte im heutigen Alaska, man nannte es „Tiktaalik“, in der Sprache der Inuit heißt das „großer Fisch des flachen Wassers“.

Bald fand man einen noch älteren Ahnen im heutigen Polen – der hatte sogar etwas, was Tiktaalik noch nicht hatte: Zehen – und beiden sah man natürlich an, dass Fische auf dem Weg ans Land in vielfältigster Weise umgebaut werden mussten: Der bei Fischen fest mit dem Körper verbundene Schädel etwa musste frei beweglich werden, im Wasser ist das überflüssig, auf festem Boden ist es unentbehrlich; die Flossen brauchten einen Umbau zu Beinen mit Gelenken. Wie das im Detail vor sich gegangen war, das konnten die beiden Fossilien natürlich nicht zeigen, später gefundene auch nicht.

Aber lebende Fossilien können es, und eines sichtete Étienne Geoffroy Saint-Hilaire 1798/99 in Ägypten, er war im wissenschaftlichen Tross des Expeditionschors von Napoleon: Ihm fiel ein Fisch auf, der Lungen hatte und auch über das Land wandern konnte, er nannte ihn „Polyptère bichir“, heute heißt er Nil-Flösselhecht (Polypterus bichir). Saint-Hilaire machte sich damit bis zum heutigen Tag einen Namen als Anatom und ganz früher Erkunder der Evolution.

Der Nil-Flösselhecht hat einen kleineren Verwandten, Polypterus senegalus, der nicht nur im Senegal legt, sondern auch im Labor von Emily Standen (University of Ottawa). Die hat mit ihm experimentiert, so schlicht wie aufschlussreich: Sie hat zwei Gruppen acht Monate lang gehalten, die eine im Wasser, die andere an Land. Dabei zeigte sich rasch, was „phänotypische Plastizität“ kann, in der Physiologie wie im Verhalten: Die Fische am Land befreiten ihre Köpfe von den Körpern, sie zogen ihre Flossen enger an den Körper und brachten ihn damit vorne wie hinten in die Höhe. Auch die Bewegungsweise änderte sich, an Land verringerte sich der Takt, im Gegenzug wurden die Krümmungen des Körpers ausladender. Standen erklärt dies damit, dass Gehen mehr Energie erfordert als Schwimmen (Nature, 27. 8.).

Erst der Phänotyp, dann die Gene

All das waren schlichte – nein, höchst komplizierte – Anpassungen des Phänotyps an die neuen Herausforderungen, sie kamen nicht von Genvarianten. Standen formuliert es so: „Neue oder stressreiche Umwelten, vor allem solche, denen Tiere zuvor nicht ausgesetzt waren, sind Katalysatoren der Variation.“ Die optimale wurde später genetisch fixiert, dann war wieder Schluss mit der Plastizität, eine solche „genetische Assimilierung“ wurde schon in den 50er-Jahren postuliert.
 

Polypterus selbst war offenbar nicht der optimale Phänotyp – seine Innovationskraft brachte so wenig dauerhaften Erfolg wie Napoleons Invasion Ägyptens –, anderen muss das Landleben noch besser gelungen sein, von ihnen stammen die Tetrapoden ab.

Dienstag, 26. August 2014

Die Lehre vom Rückzug Gottes als dem Anfang der Welt.

aus nzz.ch, 23.8.2014, 05:30 Uhr                         Die Kontraktion von En Sof


Die kabbalistische Lehre vom «Zimzum»
Schöpfung durch Rückzug


Das hier anzuzeigende umfangreiche Buch handelt von Dingen, denen nachzugehen der Philosoph Immanuel Kant in seiner «Kritik der reinen Vernunft» untersagen wollte: nämlich vom Anfang der Welt, mehr noch: von dem, was war, bevor die Welt entstand. In «Zimzum. Gott und Weltursprung» setzt sich der an der Universität Potsdam wirkende Judaist und Philosoph Christoph Schulte mit einer gemeinhin als «jüdische Mystik» geltenden Metaphysik auseinander, nach der die Welt nicht durch einen Befehl Gottes aus dem Nichts entstanden ist, sondern dadurch, dass Gott sich in sich selbst zusammengezogen hat, um so Raum für die Welt zu schaffen: Der entstandene Raum wies Gefässe göttlichen Lichts auf, die schliesslich zerbrachen, so dass die Welt gleichsam eine Schutthalde darstellt, unter deren Trümmern sich verborgene Funken göttlichen Lichts finden.

Isaak Luria

Diese bis in die moderne Kunst fortwirkende Metaphysik entstand in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in einer Provinz des Osmanischen Reiches: in der galiläischen Stadt Safed, auf dem Territorium des heutigen Staates Israel. Dort sammelte der früh verstorbene aschkenasische Rabbiner Isaak Luria eine Reihe von Schülern um sich, um ihnen mündlich – und nur mündlich – die von ihm erdachte Theorie der Zusammenziehung Gottes, des «Zimzum» – so der hebräische Ausdruck –, zu präsentieren. Seine Schüler, unter ihnen vor allem Rabbi Chaim Vital, schrieben diese Lehre mit erheblichen Variationen auf; Variationen, die schliesslich bis in den modernen jüdischen Chassidismus reichen sollten.

Die Lehre von der Entstehung der Welt durch die Zusammenziehung Gottes kennt daher keine Ur-, sondern nur Nachschriften, die durch zwei radikal unterschiedliche Interpretationen auffallen. Die eine Lesart hält den «Zimzum» für eine Metapher, die andere für ein reales, kosmologisches oder ontotheologisches Geschehen. Die metaphorologische Lesart hält somit strikt an dem fest, was als biblisch begründetes Bilderverbot gilt: Was und wie Gott selbst ist, lässt sich seiner radikalen «Andersheit» wegen nicht ausdrücken – erkennbar sind allenfalls Gottes Wirkungen und Weisungen. Die kosmologische Lesart glaubt das Wesen Gottes erkennen zu können – was Schulte im Detail nachzeichnet.

Philosophiehistorisch sind mit dieser Lesart zwei Entwicklungen bedeutsam geworden: Erstens der Einfluss dieser Deutung auf Spinozas monistische Metaphysik. Diese Vermutung ist freilich umstritten. Zweitens die Überlagerung der Lehre vom «Zimzum» mit neuplatonischen Konzepten zur Emanation – obwohl beide Lehren einander entgegengesetzt sind: Es ist ein Unterschied, ob die Welt aus dem «Überfliessen» eines göttlich Guten entstand («emanierte») oder aus dem Rückzug Gottes in sich selbst. Jedenfalls diente die Übernahme der Idee des «Zimzum» in der frühen Neuzeit als Argument gegen den in der jüdischen und christlichen Religionsphilosophie verbreiteten aristotelischen Rationalismus, der Gott vor allem als «unbewegten Beweger» sah.

So kann Christoph Schulte anschaulich nachzeichnen, wie sehr diese Mystik in ihrer kosmologischen Lesart die Philosophie der Moderne, namentlich den Deutschen Idealismus und besonders das Denken Schellings, geprägt hat. War es doch Schelling, der in seinen «Stuttgarter Privatvorlesungen» sowie in seinen «Weltalter»-Fragmenten aus den Jahren 1813 bis 1815 diese Gedankenfigur bemühte, um Vorwürfen Hegels, seine – Schellings – Theorie des Ursprungs gleiche jener Nacht, in der alle Katzen grau seien, etwas entgegenzusetzen. «Contraktion», so Schelling, sei «der Anfang aller Realität». Tatsächlich lässt sich zeigen, dass Schelling und auch Hegel durch Vermittlung einiger ihrer Lehrer und Bekannten Kenntnisse der Kabbala hatten.
 
Inspiration und Trivialisierung

Es war der Pietist Friedrich Christoph Oetinger (1702 bis 1782), der protestantischen Theologen diese jüdische Tradition erschloss und vermittelte. Schulte sieht (mit dem frühen Jürgen Habermas) die kabbalistischen Motive vor allem in Schellings Werk. Aber auch Hegel kannte, wie aus seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion ersichtlich, diese kabbalistische Tradition. Daher wäre zu erwägen, ob nicht beispielsweise der Anfang von Hegels «Logik» («Sein, reines Sein, – ohne alle weitere Bestimmung . . .») eine Anverwandlung des «Zimzum»-Gedankens darstellt.

Doch belässt es Schultes panoramatisch detaillierte, stets flüssig zu lesende Darstellung nicht bei der Nachzeichnung philosophiegeschichtlicher Traditionslinien. Gezeigt wird auch – und das gehört zu den aufregendsten Abschnitten des Buches –, auf welchem Weg die Lehre vom «Zimzum» Eingang in die Kunst und die Literatur des 20. Jahrhunderts gefunden hat: sei es in Isaac Bashevis Singers Schriften, sei es in den abstrakten Expressionismus Barnett Newmans, sei es in das künstlerische Werk Anselm Kiefers, das zu einem grossen Teil der Auseinandersetzung mit der Kabbala gewidmet ist.

Indes sind auch erhabene Ideen nicht vor Trivialisierung geschützt. So glaubten auch Psychotherapeuten, ja sogar Betriebswirte, wie Christoph Schulte vorführt, die Lehre vom «Zimzum» anthropologisieren zu sollen, d. h. jede Form von Zurückhaltung oder indirekter Steuerung zu einem «Zimzum» zu erklären. Auch Schulte selbst ist nicht völlig gegen diese Versuchung gefeit, wenn er unter Rückgriff auf die Sozialontologie seines philosophischen Lehrers Michael Theunissen das «Geltenlassen des Anderen» in diesem Begriffsrahmen ansiedelt.

Unerachtet dessen jedoch liegt mit Christoph Schultes monumentalem Buch ein Werk vor, das in den besten Traditionen der Wissenschaft des Judentums steht. Es schöpft ganze Bibliotheken zur Kabbala aus und wird mit seinem stofflichen Reichtum und seiner Luzidität im deutschen Sprachraum auf Jahre hinaus das Standardwerk nicht nur zum «Zimzum», sondern zur Kabbala überhaupt sein.

Christoph Schulte: Zimzum. Gott und Weltursprung. Jüdischer Verlag im Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014. 501 S., Fr. 39.90.

Freitag, 22. August 2014

Zur Kenntlichkeit verzerrt.

aus nzz.ch, 21.8.2014, 05:30 Uhr

Conditio techno-humana
Brauchen Computer uns noch?
Eduard Kaeser ⋅ Seit Günter Ander's «Antiquiertheit des Menschen» suchen uns in wiederkehrenden Schüben Anfälle von Selbstverleugnung heim; tischen uns Zukunftsbeschwipste das Szenario eines Post- oder Transhumanismus in immer neuen Versionen auf. Die bekannteste lautet: Sollte der Computer ein bestimmtes Entwicklungsniveau erreicht haben – Dialog- und Lernfähigkeit, Sprach- und Mustererkennungsvermögen –, braucht er uns dann überhaupt noch? Koppelt er sich von der Koevolution Mensch-Maschine ab?

Der österreichische Autor Clemens Setz hat neulich mit dem Gedanken einer künstlichen Intelligenz gespielt, die eben gerade nicht unsere Intelligenz ist. «Intelligente Maschinen», so Setz, «sollen sich immer dem ‹vernünftigen Gespräch› annähern, man trainiert ihnen sogar mühevoll Humor und Ironie an. Durch diese seltsame Dressur können wir nur eines erreichen: unsere eigene menschliche Intelligenz zu entzaubern und transparent zu machen. Aber es bleibt ein Party-Trick, ein Stunt. Dabei existieren riesige Kontinente fremder Intelligenz, die wir erschaffen könnten, wenn wir darauf verzichteten, sie in menschliche Muster zu zwängen.»

Nun gut. Wir wären dadurch mit uns unbekannten Formen von Intelligenz und Subjektivität konfrontiert, quasi wie Ethnologen mit neuen Sitten und Bräuchen. Bereits gibt es Lingodroids, eine Spezies von Robotern, die sich miteinander in einer uns fremden artifiziellen Sprache verständigen. Eine Robo-Ethnologie würde also die kommenden künstlichen Generationen studieren, wobei wahrscheinlich deren Verständnis zunehmend den humanen Horizont überstiege. Der nächste Schritt wäre der emanzipatorische. Noch einmal Setz: «Ich glaube, die Zukunft der künstlichen Intelligenz liegt in der Emanzipation vom Menschlichen. Sprachroboter, die (. . .) sich selbst überlassen sind, bilden eine fremde reale Intelligenz, unabhängig von den absurden Anforderungen der altmenschlichen Kommunikationswelt. Sie müssen nicht so klingen, nicht so schlussfolgern und auch nicht so irren wie wir. Doch solange wir intelligente Wesen, auch wenn sie aus anorganischer Materie bestehen, vollständig an der kurzen Leine des Menschlichen halten, werden sie über das Niveau überzüchteter Haustiere nicht hinauskommen.»

Das ist nun freilich ein halbgarer Gedanke. Wie kann ich nur schon in Erfahrung bringen, dass das Artefakt vor mir auf fremde Weise schlussfolgert, wenn ich nicht auf meine «alt-menschliche» Vorstellung von Schlussfolgern zurückgriffe – und sei es auch nur, um festzustellen, dass die fremde Intelligenz eben nicht so ist wie die meine? Das Verständnis des Maschinenverhaltens und das menschliche Selbstverständnis sind, anders gesagt, auf eine innige Weise aneinandergekoppelt. Deshalb zwingt uns der Automat auf jeder Stufe der Entwicklung zur Rechenschaft darüber, was wir als unabdingbare Komponenten des Begriffs «Mensch» betrachten.

Es ist durchaus möglich, dass wir die neue Intelligenz nicht mehr verstehen werden. Aber wenn wir sie «einbürgern» wollen und wenn uns an einer Koexistenz mit ihr gelegen ist, sollten wir uns neu verstehen lernen. Das bedeutet Rückbesinnung auf «altmenschliche» Vermögen, solange im Bild, das wir von uns machen, nicht die intelligente Maschine das Diktat übernimmt. Es geht nicht um Maschinenbau, sondern um Anthropologie, genauer: um den letzten Akt im Drama mit dem Titel «Selbstentfremdung des Menschen».



Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE     

Mittwoch, 20. August 2014

Wann sind die Neanderthaler ausgestorben?

aus Der Standard, Wien, 21. 8. 2014

Als die letzten Neandertaler verschwanden
Schon lange wird gerätselt, wann die Neandertaler genau ausstarben. Ein internationales Forscherteam will nun die Antwort gefunden haben: vor spätestens 39.000 Jahren.

Oxford/Wien - Wie verbreitet er einst in Eurasien gewesen sein muss, wissen wir nicht zuletzt durch die Vielzahl erhaltener Fossilien und Artefakte: Der Neandertaler (Homo neanderthalensis) ist neben dem modernen Menschen (Homo sapiens) die am besten überlieferte Art der Homini.
 
Sicher ist, dass die beiden Menschenarten für geraume Zeit dieselben Gegenden bewohnten und - auch sexuell - miteinander in Kontakt kamen. Forschern ist bereits in den vergangenen Jahren die Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms und damit auch der Nachweis gelungen, dass der Genfluss der Neandertaler zum Genom der heutigen nichtafrikanischen Bevölkerung etwa zwei bis vier Prozent beträgt.

Neue Analysetechniken

Das größte Rätsel um diese Menschenart ist jedoch weiterhin ungelöst: Wann die letzten Neandertaler verschwanden und warum sie ausstarben, ist nach wie vor umstritten. Forschern um Tom Higham von der Universität Oxford könnte nun ein wichtiger Schritt zur Beantwortung des Wann gelungen zu sein: Geht es nach ihrer aktuell im Fachblatt "Nature" erschienenen Studie, verschwanden die letzten Neandertaler vor spätestens 39.000 Jahren aus Europa. Zu diesem Befund kommen die Wissenschafter mithilfe neuer massenspektrometrischer Techniken zur Verfeinerung der Radiokarbonmethode.
 
 
Unterkiefer eines Neandertalers aus Zafarraya in der spanischen Provinz Granada. 

Sie analysierten hunderte Proben von insgesamt 40 archäologischen Fundstätten in Eurasien, die entweder der Steinwerkzeugindustrie des mittelpaläolithischen Moustérien, der Übergangskultur Châtelperronien oder der Uluzzien-Kultur zugerechnet werden. Die Epoche des Moustérien wird eindeutig den Neandertalern zugeschrieben, die Uluzzien-Kultur dem frühen europäischen Homo sapiens. Die Einordnung der Châtelperronien-Kultur ist umstritten. Da das Ende dieser Phase aber in denselben Zeitraum wie das der Moustérien-Kultur falle, beeinflusse die Zuordnung das Ergebnis nicht, so die Forscher.

Aus den gewonnenen Daten errechneten sie, dass die Neandertaler vor rund 41.000 bis 39.000 Jahren vollständig verschwanden. Die Überschneidungsdauer mit Homo sapiens in Eurasien betrage demnach 2600 bis 5400 Jahre.
 
 
Armknochen mit Schnittspuren aus der El-Sidrón-Höhle im Norden Spaniens.

Fragezeichen bleiben

Unumstritten sind diese Ergebnisse freilich nicht. Genetiker datieren den größten Gen-Austausch zwischen den beiden Arten nämlich schon viel früher. Hinzu kommt, dass Teile Mittel- und Osteuropas in dem aktuellen Modell nicht berücksichtigt wurden. In jedem Fall aber haben Higham und seine Kollegen wortwörtlich neue Maßstäbe gesetzt, um dieses uralte Rätsel zu lösen. (David Rennert)
 

Abstract
Nature: "The timing and spatiotemporal patterning of Neanderthal disappearance"

Dienstag, 19. August 2014

Zampano philosophiert.

SPAIN CULTURE AWARDS
aus Die Presse, Wien, 20. 8. 2014

Für Sloterdijk ist Jesus ein Bastard 
In seinem neuen Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ geht der Ästhetik-Professor mit der Moderne ins Gericht. Er verteidigt das Erbe vor zu viel Freiheit.

 

Was haben Jesus, ein gewissenhafter Henker aus einer Geschichte Honoré de Balzacs, Lenin und die Dadaisten in Zürich, König Lear, Napoleon oder die Pompadour gemein? All diese legendären, fiktionalen und historischen Figuren dienen Peter Sloterdijk als Zeugen für seine These, dass neuerdings in der Geschichte der Menschheit, die in der Steinzeit über zehntausende Jahre so konstant ihr Erbe wahren konnte, alles den Bach runtergeht. In „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ (Suhrkamp) breitet der Ex-Fernseh-Philosoph auf 489 Seiten ein zivilisationskritisches Manifest aus, das die Irrwege der Moderne bedauert, indem es sie liebevoll illustriert.

Dieser wortreiche, elegante Groß-Essay erinnert fern an das versponnen Provokante von Sloterdijks „Kritik der zynischen Vernunft“, mit der er 1983 weit über die Geisteswissenschaften hinaus berühmt wurde. Es fällt jedoch noch schwerer, den Gedankengang dieses neuen Buches zusammenzufassen, das breites Wissen verarbeitet. Wie Don Quijote hat sich Sloterdijk exzessiver Lektüre hingegeben. Da wird schon mal ein Weltbild verrückt. Da macht sich einer auf, um im Feld der Kulturgeschichte originelle Abenteuer zu erleben und dabei vor allem gegen die Windmühlen des Fortschritts zu reiten.

Skeptische Leser könnten ihm wie Sancho Pansa mühsam folgen und irritiert fragen, ob dieser Autor, der Friedrich Nietzsche offenbar besonders schätzt, auch bereits eine philosophische Spätphase erreicht hat, in der das Fragment dominiert. Mehrfach wird ein Satz des tollen Menschen aus der Aphorismensammlung „Die fröhliche Wissenschaft“ zitiert: „Stürzen wir nicht fortwährend?“, fragt verzweifelt ein Gottsucher, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündet, der aus dem Gefühl der Abwesenheit den Vorwurf erhebt, wir alle hätten Gott getötet. Sloterdijk wirft sich mit Leidenschaft auf jene, die individuelle Freiheit über alles stellen, während doch Traditionsbewusste wissen, wie wichtig das Bewahren des Erbes sei.

„Nach uns die Sintflut!“

Kinder sind undankbar. Ein Satz der Pompadour genügt, um diese Aufsteigerin zu entlarven, die sich als einzige ihres Jahrhunderts total verwirklicht habe, indem sie sich Ludwig XVI. schnappte. „Nach uns die Sintflut!“, soll sie 1757 bei einem Fest gesagt haben, als sie von einer Niederlage Frankreichs erfuhr. Wir wissen nicht genau, was die Mätresse damit ausdrücken wollte. In diesem Buch aber dient der Satz als Erklärung aller Umstürze, die noch folgen. Das scheint doch ein wenig an den Haaren einer Perücke herbeigezogen zu sein. Sloterdijk spitzt zu. Sankt Augustinus? Eine Erbsünde der Kirche. Heinrich VIII.? Ein adipöser Womanizer und justizmörderischer Paranaoiker. Fürs Bonmot opfert der Ästhetik-Professor alle und schont keinen. Die Pietà, die dem „kleinfamiliären Dreieck“ aus Jesus, Maria und Josef den Rest gibt, wird zur „laptop-Szene im Absoluten“ – was immer das bedeutet.

Paradoxerweise stellt sich Jesus in einem zentralen Abschnitt als wesentlicher Verursacher neuzeitlicher Kalamitäten heraus: Der „Bastard Gottes“ untergräbt auf Erden die patriarchale Ordnung, er anerkennt nur den Vater im Himmel, dem er nachfolgt. Sloterdijk zitiert in diesem Essay über die „Jesus-Zäsur“ einen verstörenden Satz aus dem Lukasevangelium: „So jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sein Leben, der kann nicht mein Jünger sein.“

Die abschließende „große Freisetzung“ führt Bastardisierungen an, die das Zeitalter prägten: Franz von Assisi, Leonardo da Vinci, Papst Alexander VI., Elizabeth I. etc. – alles illegitime „Kinder des Abgrunds“? Sloterdijk bedauert zutiefst die zunehmende Aufhebung der genealogischen Differenzen.

Katastrophen: Malewitsch, Duchamp

Ach wie stabil war doch das frühe Mittelalter, als noch jeder wusste, wo sein angestammter Platz war! Selbst das Schöne unterliegt seither dem Neuen: „Namen wie Malewitsch und Duchamp markieren die evolutionäre ,Katastrophe‘ des Kunstsystems im 20. Jahrhundert.“ Man kann dieses Buch als reaktionäres lesen, das den „aufklaffenden Abgrund zwischen den Generationen“ fürchtet. Durch die in der Neuzeit manifeste Individualisierung komme dieser „Hiatus“ besonders stark zur Geltung. Sloterdijk sieht ihn allenthalben. Lauter Bastarde! Sein Kampf erfolgt aber lustvoll unter Einsatz aller Register der Sprache, so originell in den Assoziationen und reich an Metaphern, dass man getrost aufgeben kann, individuellen Sinn im Text zu suchen. Am besten lauscht man dieser Schnurren-Kollektion wohl in Ergebenheit.

Vielleicht ist der tolle Mann ja kraft seines Amtes als Rektor in Karlsruhe genealogisch dazu befugt, Wahrheiten zu verbreiten. An seiner Hochschule für Gestaltung könnte jedoch demnächst ein Patriarchat enden: Die nächste Amtszeit beginnt laut Ausschreibung am 1. Juli 2015: „Die Besoldung erfolgt nach Besoldungsgruppe W 3 mit Funktionszulage. Die HfG Karlsruhe strebt eine Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen an. Deshalb freuen wir uns über Bewerbungen qualifizierter Frauen.“ Die Frist dazu: 30. 9. 2014. Nach uns die Pompadour!


Nota.

Sloterdijk ist im Detail ja fast immer geistreich, doch soviel Mühe er sich dabei gibt - worauf es hinaus- laufen soll, bleibt unklar. Dass er unter den amtlich bestallten Philosophen der einstweilen Überwiegende ist, liegt nicht nur an seiner Beredsamkeit, sondern am Kleinmut der möglichen Konkurrenz. Dass die Zeit der Systeme in der Philosophie vorbei sei, denkelt ein jeder von ihnen still für sich, und diese allgemeine Verlegenheit schafft dem Showman freie Bahn; anything goes.

Und wenn's auch noch so lange als kindlich und/oder humorlos gelten soll: Ich bin doch froh, dass ich mich einen Systematiker nennen kann.
JE



Depressions-Gene und der Hippocampus.

aus scinexx                                                                     Hippocampus, Wikipedia

Gene steuern Stress-Folgen im Gehirn
Emotionale Schaltstelle schrumpft oder wächst durch Risiko-Gene

Warum gewinnen manche Menschen durch Lebenskrisen an Kraft, während andere daran zerbrechen? Bestimmte Gen-Varianten entscheiden, wie das Gehirn auf Stress reagiert, hat eine internationale Forschergruppe nun festgestellt. Je mehr solcher Risiko-Gene ein Mensch besitzt, desto negativer wirken sich demnach stressige Ereignisse aus. Dies entscheidet letztendlich über die psychische Gesundheit oder Krankheit durch Stress, so die Wissenschaftler im "Journal of Neuroscience".

Eine zentrale Schnittstelle im Gehirn ist der Hippocampus: Diese Schaltstelle der Emotionen ist maßgeblich daran beteiligt, wie wir mit Stress zurechtkommen. Wie empfindlich diese Hirnregion reagiert, ist bereits bekannt: Bei sogenanntem Distress, der als Gefahr für den Organismus interpretiert wird, schrumpft der Hippocampus zusammen. Bei depressiven Patienten ist dieser Verlust an Volumen für einen Teil der klinischen Symptome verantwortlich. Es gibt jedoch auch "positiven Stress", sogenannten Eustress: Bei emotional anregenden Situationen wie großer Freude nimmt das Volumen des Hippocampus sogar zu.

Lebenskrisen, Genvarianten und der Hippocampus

Wie sich stressige Lebensereignisse auf die Größe des Hippocampus auswirken, hängt jedoch nicht ausschließlich von Umweltfaktoren ab: Einer Studie von Wissenschaftlern um Lukas Pezawas von der Medizinischen Universität Wien zufolge legen vor allem bestimmte Risiko-Gene fest, ob der Stress gut oder schlecht für unser Gehirn ist.
 
Für ihre Studie erfassten die Wissenschaftler zunächst belastende Lebensereignisse der Probanden. Dazu gehörten Krisen wie Todesfälle in der Familie, Scheidungen, Jobverlust, finanzielle Verluste, Ortswechsel, schwere Erkrankungen oder Unfälle. Mit Hilfe von hochauflösender Magnetresonanz-Tomographie und computergestützter Bildgebung ließ sich das Hippocampus-Volumen der Studienteilnehmer ermitteln. Eine Analyse von drei Risiko-Genen vervollständigte schließlich das Bild.

Die Bedeutung dieser Gene für die Stressverarbeitung zeigte sich deutlich: "Personen mit den drei als depressionsfördernd geltenden Genvarianten besaßen bei einer ähnlichen Anzahl an belastenden Lebensereignissen einen kleineren Hippocampus als jene mit weniger oder keiner dieser Genvarianten", beschreibt Studienleiter Lukas Pezawas das Resultat. Menschen mit nur einem oder gar keinem dieser Risiko-Gene verfügten hingegen bei ähnlichen Lebensereignissen über einen vergrößerten Hippocampus.

Gestärkt oder depressiv durch Lebenskrisen

Dies erklärt den Forschern zufolge, warum manche Menschen sich durch einschneidende Lebensereignisse weiterentwickeln, während andere an vergleichbaren Krisen zerbrechen und an einer Depression erkranken. Je mehr Varianten dieser Risiko-Gene ein Mensch besitzt, desto negativer wirken sich einschneidende Lebensereignisse auf die Größe seines Hippocampus aus. Umgekehrt kann bei der Präsenz von nur wenigen oder keinen dieser Genvarianten ein vergleichbares Ereignis sogar positive Folgen haben und den Hippocampus wachsen lassen.

Die Studie unterstreicht die Bedeutung von Wechselwirkungen zwischen Genen und äußeren Einflüssen als bestimmenden Faktor des Hippocampus-Volumens. "Diese Ergebnisse sind wichtig für das Verständnis neurobiologischer Vorgänge bei stress-assoziierten Erkrankungen wie der Depression oder der posttraumatischen Belastungsstörung", erklärt Pezawas. "Es sind unsere Gene, die letztlich die Weiche stellen, ob Stress uns psychisch krank macht oder unsere psychische Gesundheit fördert."
(Journal of Neuroscience, 2014; doi: 10.1523/JNEUROSCI.3113-13.2014
)

(Medizinische Universität Wien, 18.08.2014 - AKR)


Montag, 18. August 2014

Kein Äther, aber auch kein Vakuum.

Der Aerogel-Detektor bei der Analyse unter dem Mikroskop.
 nzz.ch, 14. August 2014, 20:01                                                  Der Aerogel-Detektor bei der Analyse unter dem Mikroskop.

Die Raumsonde «Stardust» hat interstellaren Staub eingefangen
Sieben Körnchen Sternenstaub


Üppig ist die Ernte im Orbit nicht ausgefallen: Gerade einmal sieben Körnchen interstellare Materie konnten die Wissenschafter auf den Kollektoren der Raumsonde «Stardust» identifizieren. Die Sonde der Nasa war 1999 gestartet, ausgestattet mit einem hochempfindlichen Staubfänger für jene mikroskopisch kleinen Partikel, die in dünnen Wolken zwischen Sternen und Planeten den Kosmos bevölkern. 2006 kehrte der «Stardust»-Kollektor zur Erde zurück, seither wird er einer peniblen Analyse unterzogen. In der jüngsten Ausgabe von «Science» beschreiben die beteiligten Wissenschafter nun die bisher mit «Stardust» identifizierten interstellaren Materiekörnchen.1 Es ist das erste Mal, dass Staubteilchen von ausserhalb des Sonnensystems auf der Erde untersucht wurden.

Kein Körnchen wie das andere

Die eingefangenen Partikel unterscheiden sich stark hinsichtlich ihrer Grösse, der chemischen Zusammensetzung und ihrer Struktur. Sowohl kristalline als auch amorphe Teilchen wurden gefunden. Eines der Staubkörner ist auffallend länglich geformt – das passt zu der Vermutung, dass interstellarer Staub die Polarisationsrichtung von Licht, das uns aus dem Weltraum erreicht, drehen kann. Untersuchungen mit Synchrotronstrahlung ergaben, dass einige der Staubteilchen Silikate enthalten; bei zweien fanden die Wissenschafter einen Kern aus dem Mineral Olivin, der von einem amorphen Mantel umgeben war.

Die rare Fracht erreichte die Erde dank einer speziellen Sammelvorrichtung an Bord der Raumsonde «Stardust». Die Wissenschafter bestückten dazu eine runde Platte, etwa so gross wie ein Tennisschläger, mit Klötzen aus Aerogel – einem feinen, extrem leichten Schaum aus Glas. Auftreffende Staubkörnchen wurden darin sanft gestoppt und blieben so den irdischen Wissenschaftern bis zur Untersuchung im Labor erhalten. Aus der «Bremsspur» im Aerogel können die Wissenschafter ausserdem Rückschlüsse auf die Flugrichtung der Partikel ziehen. Die ermittelte Flugrichtung erlaubt es auch, zwischen interplanetaren Staubteilchen (die zu unserem Planetensystem gehören) und interstellaren Staubteilchen (von ausserhalb des Sonnensystems) zu unterscheiden.


Die Raumsonde
Die Raumsonde "Stardust" in einer künstlerischen Darstellung. Nach oben ragt der runde Staubkollektor aus Aerogel.
Auch die Zwischenräume zwischen den Aerogelklötzen blieben nicht ungenutzt: Die dort angebrachte Alufolie untersuchten die Wissenschafter nach der Rückkehr des Kollektors zur Erde auf Einschlagskrater. Tatsächlich wurden vier der sieben gerade in «Science» beschriebenen Partikel nicht anhand ihrer Spuren im Aerogel, sondern anhand winziger Einschlagkrater in der Alufolie identifiziert.

30 714 freiwillige Helfer

Bei der Analyse des Aerogel-Detektors halfen über 30 000 Freiwillige mit, die über das Webportal «Stardust@home» digitalisierte Mikroskopaufnahmen der Aerogelblöcke nach den Spuren von Staubteilchen durchkämmten. Denn die Suche nach den winzigen, im Aerogel eingeschlossenen Staubkörnchen gleicht der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen: Selbst die grössten der Partikel messen nur wenige tausendstel Millimeter.

Diese Untersuchung ist denn auch noch nicht abgeschlossen. Etwas über 60 Prozent des Kollektors habe man inzwischen durchgesehen, teilt Andrew Westphal von der University of California in Berkeley mit, Hauptautor der jüngsten «Science»-Studie. Es könnte also gut sein, dass in den verbleibenden Aerogelschichten noch das eine oder andere interstellare Staubteilchen mehr gefunden wird.


Nota.

Mit der Einführung der Gravitation als Naturgesetz hatte Newton die Sicht der Welt revolutioniert: Sie konnte seither als entstanden und musste nicht länger als erschaffen gedacht werden.

Doch da war ein Haken. War die Gravitation eine Kraft, dann bedurfte sie, um übertragen zu werden, eines Mediums. Doch offenkundig waren die Räume zwischen den Gestirnen leer. Also mussten sie spekulativ angefüllt werden. Newton postulierte anstelle des Vakuums einen verborgenen Stoff namens Äther, der zu fein wäre, um von uns gemessen zu werden. 

Doch auch die stets feineren Instrumente konnten keinen Äther messen, und so blieb er der Schamfleck des Newton'schen Weltbilds.

Und jetzt wissen wir, dass die Zwischenräume im All nicht leer sind.

*

Die Begriffe mögen unsauber sein, aber auf sie kommt es nicht an, sondern auf die Vorstellungen, die sie schlecht und recht fassen sollten. Der durch die mehr oder minder dichte Materie mehr oder minder gekrümmte Raum ist selber die "Kraft", die in ihm wirken sollte. Ein wirklich leerer Raum wäre 'ungekrümmt' und wäre kein Raum.* Newtons Vorstellung war im Großen richtig; manche Begriffe, in denen er sie notdürftig darstellte, waren nicht ganz passend. Aber darauf kommt es nicht an, wenn das, was dargestellt wird, stimmt. Die Begriffe werden sich irgendwann schon finden.
JE

*) Man kann es auch so sagen: 'Nichts' gibt es nicht. 


Sonntag, 17. August 2014

Elstern sind klug und überhaupt nicht diebisch.

Vögel Diebstahl-Vorwurf
aus Süddeutsche.de, 16. August 2014 16:11


Die ehrliche Elster
Elstern klauen Schmuck und alles, was sie unter die Krallen kriegen: Dieses Bild hält sich hartnäckig. Britische Forscher haben den Test gemacht, wie diebisch Elstern wirklich sind. Ergebnis: Es ist Zeit für eine Entschuldigung.
 
Von Christoph Behrens

Der Ruf der Elster ist nicht der beste. Die Germanen hielten die Vögel für den Überbringer unheilvoller Botschaften, im Mittelalter schimpfte man sie "Hexenvögel" oder "Galgentiere". Der italienische Komponist Gioachino Rossini widmete der Elster gar eine Oper - in "La gazza ladra" landet das arme Dienstmädchen Ninetta im Kerker, weil es einen Silberlöffel gestohlen haben soll. Der wahre Täter: eine diebische Elster, zugleich der deutsche Name des Stücks.

Möglicherweise ist nun eine Entschuldigung fällig. Besonders der Vorwurf, Elstern hätten es auf glitzernde Kostbarkeiten wie Ringe oder Perlenketten abgesehen, hält sich hartnäckig - und ist wohl falsch, wie Wissenschaftler der britischen Universität Exeter im Fachmagazin Animal Cognition berichten.

Auf dem weitläufigen Campus der Universität fühlen sich viele Elstern (Pica pica) wohl - eine gute Umgebung für ein Experiment. Die Verhaltensforscher legten den Elstern dazu kleine Köder aus, etwa glänzende Metallschrauben, schimmernde Ringe oder kleine Rechtecke aus Aluminiumfolie. Um Pica pica auf die Beute aufmerksam zu machen, platzierten sie die Schätze neben kleinen Nusshäufchen. Einige der Köder malten die Wissenschaftler mattblau an, um herauszufinden, ob glänzende Objekte eine größere Anziehungskraft auf die Vögel ausüben. Aus der Ferne beobachteten die Forscher das Geschehen.

Lieber Abstand halten

Bei den Nüssen griffen die Elstern gerne zu; das komische Glitzerzeug interessierte sie dagegen kaum. Nur bei zwei von insgesamt 64 Tests schnappten Elstern nach etwas Glänzendem, schreiben die Forscher. Beide Male ein Ring, den sie nur kurz später wieder fallen ließen. Auch blaue Objekte waren nicht anziehender, im Gegenteil. "Alle Objekte erzeugten bei den Vögeln eine Art Neophobie - Furcht vor neuen Dingen", sagte der Studienleiter Toni Shephard. Die Elstern schienen sich vor den fremden Dingen eher zu ängstigen: Sie verhielten in der Nähe des Schmucks zurückhaltender und pickten weniger von dem angebotenen Futter. Auch mit Elstern aus einer Aufzuchtstation verlief das Experiment ähnlich. Diese in Gefangenschaft aufgewachsenen Vögel schnappten kein einziges Mal nach dem Schmuck.

"Elstern bewältigen anspruchsvolle geistige Leistungen", sagte die Co-Autorin der Studie Natalie Hempel. Die Vögel könnten sich selbst im Spiegel erkennen, versteckte Gegenstände finden oder sich genau erinnern, wo und wann sie Futter versteckt hätten. Das Experiment sei daher ein weiterer Beleg für ihre Schläue: "Statt sich zwanghaft von glänzenden Objekten bezirzen zu lassen", so Hempel, "halten sie bei neuen und unerwarteten Dingen lieber einen sicheren Abstand".

Bleibt die Frage, wie die Elster so in der Gunst des Menschen abrutschen konnte. Aus ein paar Anekdoten über neugierige Elstern hätte der Mensch wohl das Bild einer diebischen Spezies gestrickt, vermuten die Forscher. Nur in Asien wusste man es schon immer besser: In Fernost verehrt man die Elster als Glücksbotin.


Dienstag, 12. August 2014

Drei Sekunden und die Dauer des Subjekts.



aus Neue Zürcher Zeitung, 27. 11. 2010 

Ein Vortrag des Hirnforschers Ernst Pöppel

von Uwe Justus Wenzel · Das Hirn darf man sich als einen nervösen Menschen vorstellen. In Abständen von wenigen Sekunden fragt es: «Was gibt’s eigentlich Neues in der Welt?» So – so ungefähr – hat es Ernst Pöppel formuliert. Der an der Ludwig-Maximilians-Universität in München arbeitende Psychologe sprach am vorgestrigen Abend in der vollbesetzten Aula der Zürcher Universität auf Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung über das Thema «Gehirn und Persönlichkeit». Zahlreiche Untersuchungen, so liess er wissen, haben ergeben: Drei Sekunden dauern mit messbarer Regelmäßigkeit die Szenen der Aufmerksamkeit, die sich auf der Bühne des Bewusstseins abspielen. Drei Sekunden währt mithin die Gegenwart; Drei-Sekunden-Einheiten strukturieren die Welt. Ernst Pöppel findet die drei Sekunden in der Dauer eines Händedrucks ebenso wieder wie in der Zeit, die vergeht, bis zappende Fernsehkonsumenten sich entschieden haben, ob sie bei einem Sender verweilen.


Sogar von der Rhythmik der Poesie, der Länge der Verszeilen, lässt der Neurowissenschafter sich seine These bestätigen. Sie läuft in dieser Version auf die Behauptung hinaus, es gebe «biologische Marker» für ästhetische Werte. Mit heiterer und gar nicht nervöser Selbstironie interpretierte Pöppel seinen Ausgriff in die Welt der Kunst als ein Anzeichen für die «Präpotenz» der Hirnforschung. Zu Beginn hatte er sich von einem grassierenden «Neuro-Pop» distanziert, der auf alle Fragen eine neurowissenschaftliche Antwort zu haben vorgaukelt. Nicht an jeder Stelle der locker ineinander geflochtenen Ausführungen war dann aber deutlich, wie demgegenüber so etwas wie eine Neuro-Klassik aussähe, die einer Phantasie der Allzuständigkeit nicht die Zügel schießen ließe. Mussten wir wirklich erst auf die Hirnforschung warten, um zu wissen, dass es leichter fällt, Fremdsprachen in jungen Jahren zu lernen?

Das eigentliche Vortragsthema, «Gehirn und Persönlichkeit», fand im Anschluss an die «Drei-Sekunden-Bühnen» seine Fortsetzung in der Frage, wie überhaupt eine Kontinuität der Selbstwahrnehmung zustande komme, wenn die Aufmerksamkeitsspannen des Bewusstseins so kurz sind (und wenn zudem der innere Sinn die Zeit nicht als fliessenden Strom wahrnimmt, sondern als ein in Einheiten von dreissig, vierzig Millisekunden «zerhacktes» Pulsieren). Pöppels Antwort: durch «semantische Vernetzung und soziale Synchronisation» – dadurch also, dass Bedeutung und Sprache ins Spiel kommen und andere Menschen.

Das «und» ist Ernst Pöppel wichtig. Er verficht das Prinzip der Komplementarität (das die Leser seines lesenswerten Buches «Der Rahmen» schon kennen): Identität und Dynamik, Rationalität und Gefühl, Autonomie und soziale Einbindung bestimmen das Geschehen. Mit der Komplementarität als Prinzip, das Harmonien aus Gegensätzlichem wirkt, geht dasjenige der Homöostase Hand in Hand: Alle Organismen, vom Einzeller bis zum Menschen, suchen ihr Gleichgewicht und damit sich selbst zu erhalten. Die Homöostase kam freilich nur kurz, am Anfang des anregenden Vortrags, vor (verkörpert von einem projizierten Einzeller). Sie wäre vermutlich auch der Anknüpfungspunkt gewesen, um zu erörtern, inwiefern die Neuropsychologie zu dem Thema der Veranstaltungsreihe etwas beizutragen vermag, in deren Rahmen Ernst Pöppel gesprochen hat: «Strategien in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft».

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Nota.

"Neuropop" ist eine hübsche Wortprägung. Aber ob Neuropotpourri viel besser ist?

…dass der "innere Sinn die Zeit nicht als fließenden Strom wahrnimmt, sondern als ein in Einheiten von dreißig, vierzig Millisekunden «zerhacktes» Pulsieren": Was soll das denn heißen: der 'innere Sinn' "nimmt wahr"? Was ist denn das für eine "Wahr"nehmung, von der keiner was merkt? Merken kommt nicht ohne (wie immer man es definieren mag) Bewusstsein aus. Aber die in dreissig, vierzig Millisekunden pulsieren Hackstückchen kommen doch eben nicht zu Bewusstsein. "Gegeben" ist aber die Zeit, wenn überhaupt, nur dem Bewusstsein. Und im Bewusstsein fließt sie.

Na, und so weiter.

Noch eins sei aber hervorgehoben: "Komplementarität", "Harmonie" und "Homöostase" – das ist Neurometaphysik. Nämlich wenn man sie wie wirkende Kräfte vorstellt. Was lässt sich beobachten? Dass in allem Lebenden zwei gegensätzliche Tendenzen vorkommen – eine zum Wachstum 'aus sich' oder 'über sich'  hinaus; und eine andere zur Beharrung im Status quo und zu seiner Wiederherstellung 'auf erweiterter Skala'. Und wer kann diese 'Tendenzen' beobachten? Nur einer, der darauf achtet.
J. E.



Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE