Dienstag, 24. April 2018

Die Menschen haben den aufrechten Gang nicht erfunden.

aus derStandard.at, 24. April 2018, 09:00                                       Zwei der 3,6 Millionen Jahre alten Fußabdrücke von Laetoli

Aufrechter Gang entstand lange vor der Gattung Homo
Forscher analysierten die 2016 entdeckten Fußabdrücke von Laetoli in Äthiopien, die zwei Australopithecinen vor 3,6 Millionen Jahren hinterließen

San Diego / Wien – Der aufrechte Gang in gerader Körperhaltung gilt als eine der wenigen Eigenschaften, die Menschen exklusiv besitzen. Schimpansen können zwar im Notfall auch auf zwei Füßen gehen, aber Beine und Hüften sind dabei "unnatürlich" stark geknickt, ein bisschen so wie
Evolution des nicht ganz aufrechten Gangs von Groucho Marx.
 
Ab wann also konnten unsere Vorfahren so gut gehen wie wir? Kam diese Fähigkeit erst mit der Gattung Homo, die sich vor rund 2,5 Millionen Jahren herausbildete? US-Forscher um David Raichlen (Uni Arizona) beantworteten die zweite Frage am Sonntag mit einem eindeutigen Nein.
Raichlen und Kollegen präsentierten bei der Tagung "Experimental Biology" in San Diego neue Analysen der Fußspuren von Laetoli in Äthiopien, die auf Australopithecinen zurückgehen und 3,6 Millionen Jahre alt sind. Die Forscher verglichen diese Abdrücke mit jenen von modernen Menschen und Schimpansen.



Fußabdrücke (von oben) eines modernen Menschen, eines Menschen im Watschelgangs mit gebeugten Knien und Hüften sowie ganz unten des 3,6, Millionen Jahre alten Australopithecus.
Das Ergebnis: Australopithecus konnte bereits exzellent aufrecht gehen, praktisch so gut wie wir heute. Die Forscher gehen wie andere Kollegen davon aus, dass es vor rund sieben Millionen Jahren zu den Anfängen des aufrechten Gangs kam, vor rund vier Millionen Jahren dürfte er schon recht aufrecht und gerade gewesen sein. (tasch)


Nota. - Es ist umgekehrt. Der aufrechte Gang hat die Entwicklung der Familie Homo begründet. 

Die Frage ist nicht, ob Australopitezinen aufrecht gehen konnten, sondern ob sie es gewohnheitsmä- ßíg taten. Wichtiger ist noch, ab wann und unter welchen Bedingungen der aufrechte Gang zu einem Selektionsvorteil geworden ist. Das war die Geburtsstunde einer neuen Familie.
 JE


 

Sonntag, 22. April 2018

Alfred Adler.

Weltweit sind seine revolutionären Thesen anerkannt: Alfred Adler.
aus Die Presse, Wien, 22.04.2018 um 12:04
 
Aufruhr im weiten Land der Seele
Sigmund Freud duldet keinen Widerspruch. Als Erster wagt es Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, seinem Mentor öffentlich zu widersprechen. Er bestreitet Freuds These, dass Sexualität Ursprung jeder Neurose sei, und geht in der Seelenforschung völlig neue Wege.

von Michael Horowitz 

Bis zu seinem vierten Lebensjahr kann der Bub nicht laufen. Der scheue, kränkliche Alfred leidet an chronischer Rachitis. Als Zweites von sieben Kindern wächst der Liebling des Vaters, eines Getreidehänd- lers, im äußeren Teil der Mariahilfer Straße auf. Mit fünf wäre er fast an einer Lungenentzündung gestor- ben. Dieses dramatische Erlebnis – aber auch der Tod des jüngeren Bruders – hat vermutlich seinen Wunsch, Schwäche in Effizienz umzusetzen und Arzt zu werden, bestimmt.

Alfred Adler, ursprünglich Augenarzt und Internist, wendet sich später unter dem Einfluss Sigmund Freuds der Seelenheilkunde zu. Er geht davon aus, dass eine Organschwäche ein Minderwertigkeitsgefühl auslöst: Den Versuch, Unterlegenheit – ausgehend von körperlichen Beeinträchtigungen oder sozialen Konflikten – zu kompensieren, sieht er als Ursache von Neurosen an. Wo Freud Sexualität als Ursprung erkennt, ortet Adler ein Minderwertigkeitsgefühl. „Neurosenprophylaxe“ nennt Adler, der Begründer der revolutionären Individualpsychologie, das körperlich und geistig gesunde Aufwachsen eines Kindes. Die eigene Kindheit ist die Wurzel für seinen völlig neuen Weg der Seelenforschung.

„Glauben Sie, dass es ein so großes Vergnügen für mich ist, mein ganzes Leben lang in Ihrem Schatten zu stehen“, meint Alfred Adler zu Sigmund Freud. Aus früher Freundschaft wird bald wissenschaftliche Gegnerschaft, die schließlich zum totalen Bruch führt. Bereits im Herbst 1902 hat Freud den fast fünfzehn Jahre jüngeren Adler per Postkarte zu seiner legendären Psychologischen Mittwochgesellschaft eingeladen. Um 20.30 Uhr, Berggasse 19.

Aus diesem von Zigarrenrauchschwaden durchzogenen Jour fixe im Wartezimmer der Praxis Freuds entstand später die Psychoanalytische Vereinigung, zu dessen Obmann Adler gewählt wurde. Sein Vortrag über die „Psychologie des Marxismus“ im März 1909 konnte jedoch den Bourgeois Freud überhaupt nicht überzeugen.

Knapp zehn Jahre nach dem ersten Besuch in der Berggasse kommt es zum definitiven Zerwürfnis, zum Vatermord: Als Erster wagt es Alfred Adler nach hitzigen Kontroversen, sich gegen Sigmund Freud, den Mentor, der keinen Widerspruch duldet, öffentlich aufzulehnen. Freud beschimpft den „vor Ehrgeiz wahnsinnigen“ Adler, der an einem „paranoiden Verfolgungswahn leide“. Dieser hat hingegen längst genug vom „Freud'schen Hühnerstall und seinem Gegacker“, gründet gemeinsam mit neun weiteren Freud-Epigonen den Verein für freie psychoanalytische Forschung und entwickelt eine von Freuds Psychoanalyse abweichende, eigenständige Lehre: Anders als Freud, der glaubt, dass „der Mensch nicht Herr im eigenen Haus“ sei, sondern ein Getriebener seines Unterbewussten, meint Adler, jeder Mensch könne sein Leben selbst gestalten, denn das „menschliche Seelenleben ist kein Sein, sondern ein Werden“. Er ist überzeugt, bereits als Kind strebe man nach Anerkennung und sozialer Resonanz, um sich von seinem geringen Selbstwertgefühl zu lösen. Wenn dies nicht gelänge, entstünde der Nährboden für psychische Störungen.

Während seines Studiums wird Adler Mitglied einer sozialistischen Studentengruppe und verliebt sich in Raissa Epstein, eine radikale, revolutionäre Russin, die zum Studium nach Wien gekommen ist. 1897 heiraten die beiden, von ihren vier Kindern werden zwei Psychiater. Alfreds Frau, die kommunistische Aktivistin, spielt mit dem 1908 nach Wien ins Exil geflohenen Leo Trotzki leidenschaftlich Schach, sonntags trifft man den Revolutionär, dem das Leben im bürgerlichen Wien sehr gut gefällt, im Stadtpark, oder man unternimmt mit den Kindern und Trotzki Ausflüge in die Hinterbrühl.

Adler etabliert seine Arztpraxis gegenüber vom Wurstelprater, bald zählen Varietékünstler und Zirkusartisten zu seinen Patienten, ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten eröffnen ihm Einsichten in „organische Minderwertigkeit und ihre Kompensationen“.

Im Zentrum seiner Arbeit stehen oft gesellschaftlich Benachteiligte, die Reformen im Erziehungs- und Gesundheitswesen des Roten Wien der 1920er-Jahre sind eng mit Alfred Adler verbunden. Der Nervenarzt will nicht nur heilen, sondern auch vorbeugen. Er hält pädagogische Vorträge, berät Politiker wie den Schulreformer Glöckel und gründet Beratungsstellen für Lehrer: Die „Erziehung zum Erzieher“ ist für ihn eine der wesentlichsten Voraussetzungen der Psychohygiene. Er versucht, antiautoritäre Förderung des Kindes zu vermitteln. Voller Verständnis, Liebe und ohne körperliche Züchtigung – vor 100 Jahren alles andere als selbstverständlich.

Alfred Adler, selbst Idealtyp eines engagierten Pädagogen, weiß, dass man auf Familienverhältnisse kaum Einfluss nehmen kann, jedoch auf das schulische Umfeld umso mehr: „Durch die Schule konnte ich Hunderte von Kindern auf einmal erreichen.“

Bei rund einem Drittel aller Patienten finden Ärzte keine Ursachen für ihre Beschwerden. Oft stecken psychische Störungen dahinter. Erregung, Angst, Schrecken – seelische Erschütterungen dringen über die Nervenbahnen zu den Organen. Es treten Verkrampfungen und sogar Lähmungen auf, die sich zu chronischen Krankheiten entwickeln können. Alfred Adler, der den Menschen als Einheit von Körper, Seele und Geist sieht, erkennt die wesentliche Rolle des vegetativen Systems und ist einer der Pioniere der modernen Psychosomatik.

Bald sind seine neuen Wege in der Seelenforschung auch außerhalb seiner Heimat anerkannt. Ab 1926 hält Adler in den Vereinigten Staaten Vorlesungen. Seine realitätsnahen, brillant interpretierten Ideen finden großen Anklang. 1934 übersiedelt er mit seiner Familie endgültig nach New York, bezieht im legendären Hotel Gramercy Park Dauerquartier und behandelt dort auch seine Patienten.

Am 28. Mai 1937 bricht der 67-Jährige in Schottland auf dem Weg von seinem Hotel zur Universität in Aberdeen, wo er eine Vortragsreihe beenden will, nach einem Herzinfarkt zusammen. Adlers letztes Wort ist „Kurt“ – der Name seines einzigen Sohnes.

Sigmund Freud bleibt auch nach der Todesnachricht Alfred Adlers unversöhnlich. Mehr als 25 Jahre sind seit dem Zerwürfnis der beiden vergangen: „Für einen Judenbub aus einer Wiener Vorstadt“, schreibt er an den Schriftsteller Arnold Zweig nach Palästina, „ist ein Tod in Aberdeen schon an sich eine unerhörte Karriere und ein Beweis dafür, wie weit er es gebracht hat. Tatsächlich hat ihn die Welt reich dafür belohnt, daß er sich der Psychoanalyse entgegengestellt hat.“


Nota. - Der letzte Satz erhellt, wer von den beiden der Paranoiker war. Freud hatte Adler für seinen Schüler gehalten und betrachtete seine Abkehr als Verrat. Tatsächlich hatte Adler längst eigene psychiatrische Vor- stellungen entwickelt, als er in einem Leserbrief Freud Traumdeutung verteidigte - und deren Grundidee, seelische Leiden aus Konflikten zu erklären, die dem Individuum als solche gar nicht bewusst sind. So trafen sich die beiden und verbündeten sich eine zeitlang.

Doch Freud wollte die Seelenkunde als Naturwissenschaft betreiben. Der Grundstein seines System war die bezeichnenderweise so genannte Trieblehre. Anfangs folgte er dem mechanischen Modell von 'Kräften' und von Druck und Stoß, in den zwanziger Jahren näherte er sich unter vitalistischen Einflüssen der Darwin- schen Evolutionslehre und einem biologischen Modell. Jede der vielen Veränderungen und Korrekturen an seinem System beruhte ausschließlich auf seiner persönlichen Eingebung, er betrachtet sich ausdrücklich nicht als Erfinder, sondern als Entdecker der Psychoanalyse. Wissenschaftstheoretische oder gar wissens- logische Erwägungen waren ihm ganz fremd.

Anders Alfred Adler. Auf dem linken Flügel der sozialistischen Partei stehend, gehörte er zu den von Kant beeinflussten Austromarxisten und hatte ein grundsätzlich kritisches Verhältnis zu den Wissenschaften. Insbesonders die Philosophie des Als-ob des deutschen Kant-Forschers Hans Vaihinger hat sein Wissen- schaftsverständnis geprägt. Metaphysische Versuchungen kannte er gar nicht, er betrachtete die wissens- chaftlichen Theoriebildungen streng instrumental: als Werkzeuge, die man beiseite legt, sobald man selber sehen und Hand anlegen kann. 'Wie ein Geländer, an dem man sich im Nebel vorantastet, und das man loslässt, sobald sich der Dunst hebt.'  Sein. Lieblingsspruch war: "Alles kann auch ganz anders sein."

*

Adlers Frau Raissa war im übrigen die erste, die sich 1928 außerhalb der Sowjetunion zu Trotzki und der Linken Opposition bekannte, und ist eigentlich die Mutter des "Trotzkismus".

Zu Freud noch dies: Er erklärte die Ächtung der Psychoanalyse in der Sowjetunion mit dem Einfluss Trotzkis, der im Interesse Adlers handle - zu einem Zeitpunkt, als Trotzki, wie der Rest der Welt wusste, längst politisch entmachtet war. (Tatsächlich hatte er sich vorher für die Betätigungsfreiheit der dortigen psychoalaytischen Initiativen ausgesprochen.)
JE


Freitag, 20. April 2018

Kultur und natürliche Selektion.

Kinder von Seenomaden (Moken)
aus Die Presse, Wien,

Wie Kultur die Gene prägen kann
Seenomaden in Südostasien tauchen oft und lang. Das hat über die Jahrhunderte ihre genetische Ausstattung verändert – und ihre Milzen vergrößert.


Die letzten Seenomaden: Auf ihren traditionellen Booten mit bunten Segeln kreuzen die Bajau auf den Meeren zwischen Indonesien, Malaysien und den Philippinen, fangen und verkaufen Fische und Meeresfrüchte. In den letzten Jahrzehnten ist ein Teil dieser Menschen, auch auf Druck der indonesischen Behörden, sesshaft geworden, meist in Stelzenhäusern am Wasser. Doch ihrer spezifischen Jagdmethode sind die meisten Bajau treu geblieben: Sie tauchen tief und lang, bis zu fünf Minuten lang, ausgestattet mit Harpune und Muschelmesser, aber ohne Atemgerät.

Wie schaffen sie das? Ist es nur Übung, dass sie so lang den Atem anhalten können? Nein. Das sagt eine in Cell (19. 4.) erschienene Arbeit über „Physiological and Genetic Adaptions to Diving in Sea Nomads“ von Forschern um Melissa Ilardo (Uni Kopenhagen). Von Untersuchungen von Ama, japanischen Perlentauchern, wussten sie bereits, dass die Milz bei diesen physiologischen Extremleistungen eine Rolle spielen kann.

Extradosis roter Blutkörperchen

Die Milz, das Organ, über dessen Funktion die meisten Laien gar nichts – und die meisten Mediziner relativ wenig – wissen (siehe Kasten), hat nämlich die Fähigkeit, sich zusammenzuziehen und dadurch eine Extraportion roter Blutkörperchen – und damit Sauerstoff – ins Blut zu schießen. Das kann beim Tauchen ohne Atemgerät helfen. Und es liegt nahe, dass diese Kontraktion umso effektiver ist, je größer die Milz ist.

So untersuchten Ilardo und Kollegen zunächst mittels Ultraschall die Milzen von Bajau – die sich gern untersuchen ließen, wie Ilardo erzählt: „Sie sind Forscher“, sagt sie, „sie sind grundsätzlich neugierig und wollen mehr über die Welt wissen, auch über ihre eigene Biologie.“ Ergebnis: Die Bajau haben im Durchschnitt signifikant größere Milzen als ihre nächsten Nachbarn, die sesshaften, nicht tauchenden Saluan.

Liegt das am Training? Wächst die Milz mit den Anforderungen wie ein Muskel? Das könnte natürlich sein. Der Unterschied liegt aber – zumindest auch – an genetischen Faktoren, wie die Forscher um Ilardo im nächsten Schritt feststellten, durch systematische Vergleiche von frisch sequenzierten Genomen von Bajau- und Saluan-Individuen sowie bereits im „Pan-Asian Genome Project“ erzielten DNA-Daten. Sie fanden 25 Stellen im Genom, an denen sich die Bajau signifikant von den Saluan und den Han-Chinesen unterscheiden. Darunter ist ein Gen namens PDE10A, das in der Signalübertragung eine Rolle spielt und vor allem in der Schilddrüse exprimiert wird. Wahrscheinlich bewirken gesteigerte Konzentrationen an Schilddrüsenhormonen die Vergrößerung der Milz, meinen die Forscher.

Eine zweite signifikant unterschiedliche Stelle liegt bei BDKRB2, dem einzigen Gen, von dem man bisher weiß, dass es mit dem Tauchreflex zu tun hat, der darin besteht, dass beim Eintauchen in Wasser die Atmung zum Stillstand gebracht, der Herzschlag verlangsamt und das Blut in der Leibesmitte konzentriert wird.

An diesen beiden Stellen im Genom hat offensichtlich bei den Bajau natürliche Selektion in Bezug aufs Tauchen stattgefunden, sprich: Die Genvarianten, die sich bei ihnen durchgesetzt haben, haben sich deshalb durchgesetzt, weil sie das Tauchen erleichtern. Das funktioniert so: Individuen, die diese Genvarianten trugen, konnten besser tauchen – und hatten damit bessere Lebens- und Fortpflanzungschancen, womit in der nächsten Generation mehr Individuen diese Genvarianten hatten.

Ilardo spricht von einer „sehr aufregenden Entdeckung“, und tatsächlich: Es gibt bisher nur wenige Beispiele von natürlicher Selektion in einer bestimmten Population, gelenkt durch die Lebensweise und Kultur dieser Population. Ein anderes wären die Menschen in Tibet, die sich an die dünne Luft im Hochland angepasst haben. Ähnliche Selektion hat einst bewirkt, dass heute die meisten Europäer – im Gegensatz zu den Chinesen – Alkohol recht gut vertragen und auch als Erwachsene Milch trinken können.

Die Milz heißt auf Englisch „spleen“, davon kommt der Spleen: Man dachte einst, in ihr sitze die (üble) Laune. Tatsächlich hat sie mit Blut und Immunsystem zu tun. In ihr werden manche weiße Blutkörperchen (Lymphozyten) vermehrt und andere (Monozyten) gespeichert, rote Blutkörperchen werden

Dienstag, 17. April 2018

Mit der Supersymmetrie wird's doch nix.

Large Hadron Collider (LHC) am Cern
aus derStandard.at,17. April 2018

Teilchenphysik: Der schwere Abschied von der Supersymmetrie
Die Supersymmetrie wäre eine höchst elegante und "schöne" Erweiterung des klassischen Standardmodells, aber keine ihrer Vorhersagen konnte bisher bestätigt werden

von Florian Freistetter

Bisher habe ich mich in dieser Serie mit wissenschaftlichen Irrtümern der Vergangenheit beschäftigt. Anders ist es ja auch nicht möglich, denn niemand kann in die Zukunft schauen. Aber angesichts der Vergangenheit ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass wir auch jetzt dabei sind, Fehler zu machen, die erst in der Zukunft aufgedeckt werden. Worum es sich dabei handelt, werden wir erst erfahren – aber es braucht nicht viel Spekulation, um zu vermuten, dass einige dieser Fehler im Bereich der Teilchenphysik stattfinden werden.

Im Juli 2008 habe ich die jährlich stattfindenden "Nobel Laureate Meetings" in Lindau am Bodensee besucht. Damals war man gerade dabei, die Konstruktionsarbeiten am großen Teilchenbeschleuniger LHC am Cern abzuschließen, und eine Gruppe von Physik-Nobelpreisträgern gab eine Pressekonferenz, um zu erklären, was man vom neuen Instrument erwarten könne. Sie alle waren sich einig, dass man damit früher oder später das Higgs-Teilchen finden werde.

Das ist im Juli 2012 dann ja auch tatsächlich passiert: Das in den 1960ern theoretisch vorhergesagte Teilchen, das im sogenannten "Standardmodell der Teilchenphysik" für die unterschiedlichen Massen der Grundbestandteile der Materie verantwortlich ist, wurde experimentell nachgewiesen.

Neue Physik gefragt

Die Vorhersage wurde bestätigt – und seitdem hat man am LHC jede Menge weitere interessante Entdeckungen gemacht. Aber keine davon ging über das Standardmodell hinaus. Bei der Pressekonferenz im Jahr 2008 drückte der Physiker Martin Veltman seine Hoffnung aus, der LHC werde etwas finden, mit dem niemand rechnet und das nicht den Vorhersagen des Standardmodells entspricht. Denn das würde zwangsläufig zur Entwicklung ganz neuer Theorien und Modelle führen.

Hypothesen, die über das Standardmodell hinausgehen, gibt es natürlich jede Menge. Die Forscher wissen, dass sie nötig sind, da mit den gegenwärtigen Theorien viele Phänomene (zum Beispiel die Natur der dunklen Materie oder die Masse von Neutrinos) nicht erklärt werden können. Es braucht eine neue Physik, aber niemand weiß genau, wo sie zu finden ist. Vom LHC erhoffte man sich Ergebnisse, die die Richtung weisen, in die man zu gehen hat. Genau das ist aber nicht passiert. Alles, was dort bis jetzt entdeckt wurde, entspricht genau dem, was vom Standardmodell zu erwarten war.

Elegante Hypothese

Besonders große Hoffnungen hatten die Teilchenphysiker in die "Supersymmetrie" gesetzt. Bei der Pressekonferenz in Lindau waren viele Nobelpreisträger davon überzeugt, dass man am LHC supersym- metrische Teilchen entdecken würde, noch lange bevor das Higgs-Teilchen nachgewiesen werden könne. Die Idee der Supersymmetrie existiert seit den 1960er-Jahren und besagt, dass alle bisher bekannten Elementarteilchen jeweils ein noch unentdecktes Partnerteilchen besitzen. Das Prinzip lässt sich mit der Beziehung zwischen Materie und Antimaterie vergleichen, nur dass sich die Teilchen hier nicht durch ihre elektrische Ladung unterscheiden, sondern durch schwer zu veranschaulichende Quanteneigenschaften.

Würde es die supersymmetrischen Teilchen geben, ließen sich damit einige Probleme lösen. Man wüsste, in welche Richtung man neue Theorien zur Teilchenphysik weiterentwickeln könnte. Man erhielte Hinweise, ob und wie sich die Gravitation mit der Quantenmechanik vereinen lässt, könnte das Problem der dunklen Materie lösen – und so weiter. Die Supersymmetrie wäre eine höchst elegante und "schöne" Erweiterung des klassischen Standardmodells – und genau deswegen fällt es so vielen Wissenschaftern auch so schwer, diese Idee aufzugeben.

"Schöne" und "hässliche" Theorien

Mangels konkreter Hinweise aus der Beobachtung der Natur orientiert man sich in der theoretischen Physik oft an abstrakten Prinzipien, die eigentlich eher philosophisch und nicht wissenschaftlich begründet sind. Dazu gehört auch die "Natürlichkeit". Das bedeutet in diesem Fall, dass eine über das Standardmodell hinausgehende Theorie – vereinfacht gesagt – nur von Parametern bestimmt werden sollte, die die gleiche Größenordnung haben. Die Zahlen, die das fundamentale Gerüst der Theorie bestimmen, sollen nicht beliebig groß oder klein werden, sondern alle "vernünftige" beziehungsweise "schöne" Werte haben.

In der Vergangenheit sind Physiker (und Mathematiker) mit diesem Prinzip oft erfolgreich gewesen. "Schöne" Theorien haben sich oft als korrekt herausgestellt, und wenn irgendwo "hässliche" Eigenschaften aufgetaucht sind, war das oft ein Zeichen dafür, dass irgendwas nicht stimmte (ein Beispiel dafür ist die "hässliche" Epizykeltheorie der Planetenbewegung aus der Antike, die durch das "schönere" heliozentri- sche Modell des Sonnensystems der Neuzeit ersetzt wurde). Auch die Supersymmetrie hätte das Potenzial, eine "schöne" neue Theorie der Teilchenphysik zu sein.

Nur konnte bis jetzt keine ihrer Vorhersagen bestätigt werden. Die Teilchen, deren Existenz sie vorhersagt, hätte der LHC eigentlich schon längst entdecken müssen. Natürlich kann man die Hypothesen der Super- symmetrie modifizieren. Man kann sie auf andere Art und Weise "schön" machen und erhält dann Vorhersagen über Teilchen, zu deren Nachweis nur größere Beschleuniger als der LHC in der Lage sind. So kann man die Idee der "Natürlichkeit" retten, die ausbleibenden Entdeckungen der Gegenwart rechtfertigen und die Bestätigung der Hypothese in die Zukunft verlagern.

Wider die "Natürlichkeit"

Und vielleicht funktioniert das ja auch. Vielleicht wird der LHC weiter nichts anderes tun, als das zu bestätigen, was wir wissen. Das Universum ist nicht verpflichtet, auf unseren technischen Fortschritt zu achten und uns mit jedem neuen Instrument auch neue Erkenntnisse zu liefern (selbst wenn es das bis jetzt immer getan hat). Vielleicht brauchen wir diesmal eben wirklich ganz andere Instrumente, wenn wir etwas Neues entdecken wollen. Vielleicht müssen wir uns aber auch von der Idee der "Natürlichkeit" verabschieden und akzeptieren, dass die Natur manchmal eben nicht "schön" ist. Vielleicht müssen wir auch in den "hässlichen" Ecken nach neuen Theorien suchen.

Die theoretische Physikerin und Wissenschaftsautorin Sabine Hossenfelder hat die Lage einmal so zusammengefasst: "We've maneuvered ourselves into a dead end by relying on aesthetic guidance to decide which experiments are the most promising."

Wenn die Idee der "Natürlichkeit" tatsächlich zu den zukünftigen Irrtümern der Wissenschaft gehört, dann sollten wir uns möglichst schnell daranmachen, einen Weg aus dieser Sackgasse zu finden.


Nota. - Ein Triumph der Wissenschaft ist es jedes Mal, wenn eine neue Erkenntnis gewonnen wird. Das kann auch die Erkentnis sein, dass diese oder jene Hypothese nicht zutrifft. Auf dem Schlauch steht die Wissenschnaft erst, wenn sie keine Hypothesen mehr entwickelt, die widerlegbar sind. 

Die Ausschau nach Schönheit ist selber eine schöne Methode und ist daher so fruchtbar: Sie regt an. Doch Schönheit ist eine anschaulische Qualität und gehört zur Einbildungskraft. Das Urteil über die (gedankli- che) Brauchbarkeit fällt aber in die Reflexion, und deren Methode ist das diskursive Denken, und da gibt es keine ästhetischen Qualitäten mehr.
JE


Montag, 16. April 2018

Ich sehe was, was du nicht siehst.

aus derStandard.at, 15. April 2018, 16:15

Unterschwellige Bilder beeinflussen, wie wir ein Gesicht interpretieren
US-Psychologen nutzten für ihr Experiment das Phänomen der Augendominanz

San Francisco – "Wir nehmen nicht passiv Informationen von außen wahr und reagieren dann darauf. Wir konstruieren Wahrnehmungen der Welt als Architekten unserer eigenen Erfahrung." So fasst die Psychologin Erika Siegel von der University of California die Ergebnisse einer Versuchsreihe zusammen, die sie mit ihrem Team durchführte.

Bei dem Experiment mussten die insgesamt 43 Probanden einen Gesichtsausdruck interpretieren. Dieser Ausdruck war stets neutral – dennoch kamen die Probanden zu unterschiedlichen Interpretationen, weil ihnen die Forscher ohne ihr Wissen zusätzliche Bilder untergejubelt hatten.

Links und rechts in leichtem Widerspruch

Dabei machten sich die Forscher das Phänomen der Augendominanz zunutze: Den meisten Menschen ist gar nicht bekannt, dass – ähnlich wie bei der Händigkeit – eines ihrer Augen dominant ist; bei der Mehrzahl ist es das rechte. Über dieses Auge gewonnene Eindrücke werden bevorzugt, die des anderen werden gleichsam auf die des dominanten verschoben. Welches Auge dominant ist, lässt sich sehr schnell mit einem einfachen Versuch feststellen.

In ihrem Experiment ließen die Forscher vor dem dominanten Auge der Probanden eine Abfolge von Stimuli aufblitzen: jeweils ein verpixeltes Bild gefolgt von einem neutralen Gesichtsausdruck. Zeitgleich wurden den Probanden – ohne dass ihnen dies bewusst geworden wäre – auch vor dem anderen Auge Bilder vorgeführt. Diese zeigten grimmige, neutrale oder lächelnde Gesichter und hatten einen geringen Kontrast, um nicht doch bewusst wahrgenommen zu werden.

Anschließend sollten die Probanden aus einer Fünferreihe von Gesichtern jenes auswählen, das ihrer Meinung nach am besten dem entsprach, das sie zuvor in der Bilderfolge gesehen hatten. Das Ergebnis war keine Zufallsverteilung: Wenn den Probanden unterbewusst ein lächelndes Gesicht untergeschoben worden war, glaubten sie tendenziell auch das bewusst wahrgenommene neutrale Gesicht als lächelnd in Erinnerung zu haben.

Unkontrollierbare Faktoren

Siegels Team hatte in früheren Studien bereits gezeigt, dass der Gefühlszustand eines Menschen beein- flusst, ob er ein eigentlich neutrales Gesicht als freundlich oder bedrohlich wahrnimmt. Die neue, in "Psychological Science" veröffentlichte Studie ergänzt dies nun um unterschwellige Eindrücke von außen. Dieser bislang verkannte Effekt könne im Alltag durchaus Konsequenzen haben, resümieren die Forscher: etwa wenn Geschworene beurteilen sollen, ob ein Angeklagter reuig wirkt, und dieses Urteil von Faktoren beeinflusst wird, die ihnen gar nicht bewusst sind. (red.)

Abstract
Psychological Science: "Seeing What You Feel: Affect Drives Visual Perception of Structurally Neutral Faces"


Nota. - In der Sache nix Neues. Es beweist nicht, dass wir alle unsere Wahrnehmungen "nur konstruieren". Es beweist allerdings, dass unsere Wahrnehmung nicht das Abbild 'der Wirklichkeit' ist. - Ex negativo läuft das freilich auf dasselbe hinaus.
JE

Sonntag, 8. April 2018

Also doch: neue Gehirnzellen bis ins Alter.


aus derStandard.at, 7. April 2018, 20:36                                           neue Nervenzelle (links oben) im Gehirn eines Erwachsenen

Selbst alte Menschen bilden neue Gehirnzellen: 
Neue Studie widerspricht bisherigen Ergebnissen
US-Forscher befeuern Debatte um nachwachsende Neuronen im Alter

Tampa – Menschen könnten möglicherweise doch auch noch im hohen Alter in der Lage sein, neue Gehirnzellen zu bilden. Das ist das Ergebnis einer Studie, die Wissenschafter der Columbia University in New York am Donnerstag (Ortszeit) in der US-Fachzeitschrift "Cell Stem Cell" veröffentlichten. Ältere Menschen könnten ähnlich wie Jüngere tausende neue Nervenzellen im Hippocampus bilden, erklärte die Hauptverfasserin der Studie und widerspricht damit einer aktuellen Untersuchung.

Auch die Größen der untersuchten Gehirnteile glichen sich über die Altersgruppen hinweg, sagte Maura Boldrini. Ihre Forschung konzentrierte sich auf den Hippocampus, tief im Innern des Gehirns gelegen und zuständig für Lernfähigkeit und Erinnerungen. Die Ergebnisse suggerieren, dass viele ältere Menschen ihre kognitiven und emotionalen Fähigkeiten länger behalten könnten, als bisher angenommen.


Die Wissenschafter untersuchten Gehirnproben von 28 Menschen im Alter zwischen 14 und 79, die plötzlich verstorben waren. Sie hätten nach "neu gebildeten Nervenzellen und dem Zustand der Blutgefäße" geforscht, heißt es in der Studie.

Widerspruch zu aktueller "Nature"-Studie

Die Ergebnisse stehen im Widerspruch zu denen einer Anfang März in "Nature" veröffentlichten Studie, wonach im Hippocampus nach dem 13. Lebensjahr keine neuen Zellen mehr gebildet werden. Studienleiter Arturo Alvarez-Buylla von der University of California in San Francisco zeigte sich dementsprechend von der Columbia-Studie nicht überzeugt.

Die Zellen würden sich in "Form und Aussehen" sehr von denen unterscheiden, die bei jungen Menschen gefunden würden, erklärte Alvarez-Buyllas Labor in einer Mitteilung. Es gebe keine "schlüssigen Beweise" für eine Neubildung von Zellen bei Erwachsenen.

Unterschiedliche Konservierungsarten

Boldrini verwies darauf, dass ihr Forschungsteam schockgefrostete Hirnproben verwendet habe, während die chemisch konservierten Proben, welche die Wissenschafter aus Kalifornien benutzt hatten, die Ergebnisse beeinflusst haben könnten.

Die Hirnforschung gewinnt angesichts einer alternden Weltbevölkerung an Bedeutung. Wissenschafter versuchen den Alterungsprozess des Gehirns besser zu verstehen, um Krankheiten wie Demenz verhindern oder besser behandeln zu können. (APA, red, 7.4.2018)