Mittwoch, 26. September 2018

Zweifel an der Quantenphysik.

aus derStandard.at, 23. September 2018, 15:30

Unerwartete Widersprüche bei Gedankenexperiment
Aktuelle Studie führt zu Diskussionen in der Fachwelt

Obwohl die Quantenmechanik eine durch Experimente gut untermauerte Theorie darstellt, gilt sie nur für einen Teil des Universums: Das Verhalten von größeren Objekten kann sie nicht befriedigend beschreiben. Nun haben Schweizer Physiker ein Gedankenexperiment vorgestellt, das zu unerwarteten Widersprüchen führt. Der Befund wirft grundsätzliche Fragen auf – und polarisiert auch die Fachwelt.

Seit fast 100 Jahren wird die Quantenmechanik stets aufs Neue mit hoher Präzision experimentell bestätigt – und doch sind die Physiker nicht restlos glücklich mit ihr. Denn die Quantenmechanik beschreibt zwar sehr genau das Geschehen auf der mikroskopischen Ebene. Doch bei größeren Objekten stößt sie an ihre Grenzen – insbesondere wenn es sich um Objekte handelt, bei denen die Gravitationskraft eine Rolle spielt. So lässt sich etwa das Verhalten von Planeten mit der Quantenmechanik nicht beschreiben. Das ist nach wie vor die Domäne der allgemeinen Relativitätstheorie, die wiederum die Vorgänge im Kleinen nicht richtig zu beschreiben vermag. Viele Physiker träumen denn auch davon, die Quantenmechanik mit der Relativitätstheorie zu einem schlüssigen Bild unserer Welt zu verknüpfen.

Die Grenzen quantenphysikalischer Experimente

Doch wie lassen sich zwei Theorien miteinander verbinden, die zwar beide in ihren Domänen die physikalischen Vorgänge sehr treffend beschreiben, aber eben doch sehr unterschiedlich sind? Ein möglicher Weg ist, quantenphysikalische Experimente mit immer größeren Objekten durchzuführen. Die Hoffnung dabei: Irgendwann tauchen Unstimmigkeiten auf, die mögliche Lösungswege aufzeigen. Doch den Physikern sind dabei enge Grenzen gesetzt. Das berühmte Doppelspaltexperiment etwa, mit dem gezeigt werden kann, dass feste Partikel sich gleichzeitig wie Wellen verhalten, lässt sich mit Alltagsgegenständen nicht durchführen.

Mit Gedankenexperimenten hingegen lassen sich die Grenzen zur makroskopischen Welt überwinden. Genau das haben Renato Renner, Professor für theoretische Physik an der Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich), und seine ehemalige Doktorandin Daniela Frauchiger in einer Publikation gemacht, die nun im Fachjournal "Nature Communications" vorgestellt wurde. Salopp gesagt betrachten die beiden in ihrem Gedankenexperiment einen hypothetischen Physiker, der ein quantenmechanisches Objekt untersucht, und berechnen dann mit Hilfe der Quantenmechanik, was der Physiker feststellen wird. Gemäß unserem heute gültigen Weltbild sollte diese indirekte Betrachtung zum gleichen Resultat führen wie die direkte Beobachtung. Doch die Berechnungen der beiden zeigen, dass dies gerade nicht der Fall ist: Die Voraussage, was der Physiker beobachten wird, ist gerade das Gegenteil dessen, was man direkt messen würde – eine paradoxe Situation.

Problem, das sich nicht einfach knacken lässt

Obwohl das Gedankenexperiment erst jetzt offiziell publiziert wird, hat es in der Fachwelt bereits für Gesprächsstoff gesorgt. Da sich der Publikationsprozess immer wieder verzögerte, gibt es inzwischen bereits verschiedene andere Arbeiten, die sich mit den Befunden befassen. Die übliche erste Reaktion in der Fachwelt sei meistens, die Berechnungen anzuzweifeln, berichtet Renner. Doch bisher ist es niemandem gelungen, die Kalkulationen zu falsifizieren. Ein Gutachter räumte ein, er hätte inzwischen fünf Mal erfolglos versucht, einen Fehler in den Berechnungen zu finden. Andere Kollegen wiederum präsentierten konkrete Erklärungen, wie das Paradox gelöst werden kann. Doch bei näherem Hinsehen zeigte sich stets, dass es sich um Ad-hoc-Lösungen handelt, mit denen sich das Problem nicht aus der Welt schaffen lässt.

Bemerkenswert findet Renner, dass das Thema offenbar polarisiert. Einige Kollegen hätten auf seine Ergebnisse sehr emotional reagiert, stellt er erstaunt fest. Das liegt wohl daran, dass die zwei naheliegenden Schlussfolgerungen aus Renners und Frauchigers Befunden gleichermassen irritierend sind. Die eine Erklärung ist, dass die Quantenmechanik offensichtlich nicht wie bisher angenommen universell anwendbar ist und demnach nicht auf größere Objekte angewendet werden kann. Doch wie kann es sein, dass eine Theorie, die experimentell immer wieder so deutlich bestätigt wurde, inkonsistent ist? Die andere Erklärung lautet, dass es offenbar auch in der Physik keine klaren Fakten gibt und dass es neben dem, was wir für wahr halten, auch noch andere Möglichkeiten gibt.

Lösungen von unerwarteter Seite

Mit beiden Interpretationen tut sich Renner schwer. Er ist vielmehr überzeugt, dass sich das Paradox auf andere Weise lösen wird: "Wenn man in der Geschichte zurückblickt, dann kam die Lösung in solchen Momenten oft von unerwarteter Seite", erklärt er. So basiert beispielsweise die allgemeine Relativitätstheorie, mit der Widersprüche in der Newtonschen Physik aufgelöst werden konnten, auf der Einsicht, dass das damals noch gängige Konzept der Zeit falsch war. "Unsere Aufgabe besteht nun darin zu prüfen, ob wir bei unserem Gedankenexperiment nicht Annahmen getroffen haben, die wir in dieser Form nicht hätten treffen dürfen", erklärt Renner.

"Wer weiß, vielleicht müssen wir sogar unsere Vorstellung von Raum und Zeit nochmals revidieren." Für Renner wäre das durchaus eine reizvolle Option: "Nur wenn wir bisherige Theorien fundamental überdenken, gelangen wir zu tieferen Einsichten, wie die Natur wirklich funktioniert." (red.)



Nota. - Erkenntnislogisch ist es gar nicht vorstellbar, dass die Vorstellungsweisen von der Mikrowelt gleichermaßen auf Meso- und Makroshpäre passten. Es machte überdies nicht nur die Annahme eines intelligenten Designers wahrscheinlich, sondern auch die, dass seine Intelligenz die unsere durchflutet.
JE

Dienstag, 25. September 2018

Eine quantenmechanische Theorie vom Urknall?


Thomas Hertog
aus derStandard.at, 25. September 2018, 07:00

"Wir brauchen eine neue Theorie vom Urknall"
Thomas Hertog hat viele Jahre mit dem Physiker Stephen Hawking den Ursprung des Universums erforscht

Interview von
 
Thomas Hertog hat keine Angst vor großen Fragen. Wie hat unser Universum begonnen? Wie wird es enden? Ebensolchen Themen widmet sich der belgische Astrophysiker in seiner Forschung. Einen kongenialen Partner dafür hat er in Stephen Hawking gefunden. Kurz bevor der britische Physiker im März dieses Jahres verstarb, ist Hertog mit ihm die letzten Korrekturen einer gemeinsamen Publikation durchgegangen. Es geht dabei um eine quantenphysikalische Annäherung an den Urknall.

STANDARD: Als langjähriger Kollege von Stephen Hawking waren Sie auch an dessen letzter Publikation "A Smooth Exit from Eternal Inflation" beteiligt, die einige Wochen nach seinem Tod im Frühjahr erschienen ist. Darin schlagen Sie eine neue Theorie zum Ursprung des Universums vor. Was stört Sie denn an der gängigen Urknalltheorie?

Hertog: Die aktuelle Theorie des Urknalls wird als kosmische Inflation bezeichnet. Ihr zufolge ist beim Urknall nicht nur unser Universum entstanden, sondern auch viele andere – man spricht vom Multiversum. Wir können uns das Multiversum wie ein Mosaik verschiedener Universen vorstellen, wie Bläschen in kochendem Wasser. Die Gesetze der Physik und der Chemie können sich von Universum zu Universum unterscheiden. Manche beinhalten Sterne und beheimaten Leben, andere sind fast völlig leer. Das Problem mit der gängigen Theorie ist, dass sie kaum Vorhersagen über unser eigenes Universum trifft.
STANDARD: Um die Vorgänge im Universum zu beschreiben, ist Albert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie das anerkannte Modell. Was sagt uns diese Theorie über die Entstehung des Universums?

Hertog: Einsteins Relativitätstheorie gibt uns eine gute Erklärung dafür, wie sich das Universum entwickelt, wenn es einmal existiert. Aber die Theorie sagt uns nichts darüber, wie das Universum entstanden ist. Daher denken wir, dass eine Kombination von Einsteins Relativitätstheorie und der Quantentheorie notwendig ist, um das frühe Stadium unseres Universums zu verstehen.

STANDARD: Welche Schwierigkeiten ergeben sich, wenn man die Quantentheorie zur Beschreibung des Ursprungs des Universums heranzieht?

Hertog: Die Quantentheorie und die Relativitätstheorie eröffnen uns zwei sehr unterschiedliche Perspektiven auf die Welt. Die Quantenrealität wird von Unsicherheiten und Zufällen bestimmt. Daher ergibt jede quantenphysikalische Theorie des Urknalls nicht nur ein Universum, sondern immer ein ganzes Ensemble an Universen – das Multiversum. Die große Herausforderung, vor der die moderne Kosmologie heute steht, liegt darin, die Multiversum-Theorie testbar zu machen. Mit der Publikation von Stephen Hawking und mir unternehmen wir einen Schritt in diese Richtung.

STANDARD: Welche Vorteile bietet Ihre neue Theorie gegenüber den herkömmlichen Vorstellungen?

Hertog: Unser Modell basiert auf der Stringtheorie, die sich um eine Vereinheitlichung von Relativitätstheorie und Quantentheorie bemüht. Im Speziellen verwenden wir das holografische Prinzip der Stringtheorie. Es besagt, dass das Universum ein großes, komplexes Hologramm ist: Die physikalische Realität in dreidimensionalen Räumen kann mathematisch in speziellen Fällen zu zweidimensionalen Projektionen auf einer Oberfläche vereinfacht werden. Stephen und ich haben erkannt, dass wir dieses Konzept anwenden können, um die früheste Phase unseres Universums als Hologramm zu beschreiben. Dadurch können wir das Multiversum in unserer Theorie auf eine überschaubarere Anzahl an möglichen Universen reduzieren.

STANDARD: Wie ist die Theorie, dass das Universum mit dem Urknall seinen Anfang genommen hat, überhaupt entstanden? Man könnte ja auch behaupten, dass das Universum immer schon existiert hat.

Hertog: Die Urknalltheorie geht zurück auf den belgischen Astronomen George Lemaître. Er hat 1927 gezeigt, dass sich aus Albert Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie die Ausdehnung des Universums ableiten lässt. 1929 bestätigte der Astronom Edwin Hubble diese Vorhersage, indem er beobachtete, wie sich entfernte Galaxien tatsächlich immer weiter von uns wegbewegen. Einige Jahre später hat Lemaître aus der Ausdehnung des Universums geschlossen, dass es einst kleiner gewesen sein muss. Letztlich spekulierte er, dass es einen Urknall gegeben haben muss.

STANDARD: Dennoch waren damals viele Physiker nicht von der Urknalltheorie überzeugt. Was war das entscheidende Argument, um sie umzustimmen?

Hertog: Bis in die 1960er-Jahre hat es Leute gegeben, die gegen die Urknalltheorie argumentiert haben. Doch dann ist die kosmische Hintergrundstrahlung entdeckt worden. Sie ist gewissermaßen ein Bote des Nachglühens des Universums nach dem Urknall. Seither gibt es nur noch sehr wenige Menschen, die an der Urknalltheorie zweifeln. Stephen Hawking schrieb gerade seine Dissertation, als die kosmische Hintergrundstrahlung entdeckt wurde. Er zeigte in seiner Doktorarbeit, dass der Urknall in einem expandierenden Universum unvermeidbar ist.



STANDARD: Wie hat die Entdeckung Hawkings Denken geprägt?

Hertog: Stephen hat sich von diesem Moment an darauf konzentriert, eine Art Quantentheorie zu entwickeln, die den Beginn des Universums beschreibt. Er hatte das Gefühl, dass die Kosmologie ohne Verständnis des Urknalls unvollständig sein würde – und unbefriedigend.

STANDARD: Was sagt denn der Urknall über unser Universum?

Hertog: Viele Eigenschaften unseres Universums, insbesondere jene, dass es Sterne, Galaxien und intelligentes Leben beheimatet, haben ihren Ursprung in den physikalischen Bedingungen beim Urknall. Es muss also etwas Besonderes am Urknall gegeben haben, das dazu beigetragen hat, unser Universum genau in die richtige Richtung anzustoßen, dass sich Milliarden Jahre später Komplexität und Leben entwickeln können.

STANDARD: Sie haben viele Jahre mit Stephen Hawking zusammengearbeitet – inwiefern hat er Sie in Ihrer Art, Physik zu betreiben, beeinflusst?

Hertog: Stephen hatte ein großes Talent dafür, die richtigen Fragen zu stellen. Es ist ein gängiges Missverständnis, dass die theoretische Physik nur mit Formeln zu tun hat. Tatsächlich geht es in der Praxis oft darum, die richtigen Fragen zu identifizieren. Stephen hatte dafür eine ganz besondere Begabung.

STANDARD: Was Sie außerdem mit Hawking verbindet, ist Ihr Engagement, Forschung einem breiteren Publikum zu vermitteln. Warum ist Ihnen das ein Anliegen?

Hertog: Wissenschaft ist nicht nur für eine kleine Gruppe von Akademikern, die an Universitäten arbeiten, relevant. Sie ist eine globale Anstrengung, die das Fundament für technologische Innovationen bereitet. Ein bedeutsamer Anteil der weltweiten Wertschöpfung basiert mittlerweile auf Quantenphysik, die einst als rein theoretische Angelegenheit erachtet worden ist. In einer Welt, die von Technologien bestimmt wird, ist es essenziell, dass Wissenschafter sich in die Öffentlichkeit begeben und erklären, worum es in ihrer Arbeit geht. Letztlich ist die Wissenschaft etwas sehr Menschliches, was uns miteinander verbindet. Indem wir das Universum erforschen, lernen wir auch etwas über uns selbst. 

Thomas Hertog (geb. 1975) ist Professor für Physik an der Universität Löwen in Belgien. Seine Dissertation schrieb er an der Universität Cambridge, betreut durch Stephen Hawking. Der Europäische Forschungsrat fördert seine Forschung.

Links:

Montag, 24. September 2018

Zählen in der Zeit.

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aus scinexx

Unsere Neuronen können "zählen"
Wie unser Gehirn Ziffern und Mengen verarbeitet

Eins, zwei, drei: Forscher haben herausgefunden, wie unser Gehirn Zahlen verarbeitet. Ihr Experiment zeigt: Abhängig von der gesehenen Anzahl werden jeweils ganz unterschiedliche Hirnzellen aktiviert - das gilt für Mengen in Form von Punkten ebenso wie für Ziffern. Dabei sind die Aktivitätsmuster erstaunlich spezifisch: Allein der Blick ins Gehirn kann demnach verraten, mit welcher Menge oder Ziffer wir uns gerade beschäftigen.

Die Fähigkeit zu zählen ist uns in die Wiege gelegt: Schon kurz nach der Geburt können Babys Mengen abschätzen und einfache Berechnungen durchführen. Forscher wissen inzwischen, dass es in unserem Gehirn sogar eigene Areale für die Verarbeitung von Zahlengrößen gibt. Was aber spielt sich bei solchen Prozessen genau ab - und verarbeiten wir abstrakte Zahlen anders als konkrete Mengen?

Um das herauszufinden, haben Wissenschaftler um Esther Kutter von der Universität Bonn nun Epilepsie-Patienten ins Gehirn geblickt. Den neun Probanden waren zu Therapiezwecken haarfeine Mikroelektroden in den Schläfenlappen eingesetzt worden - und genau das machte sich das Forscherteam zunutze: "Wir konnten damit die Reaktion einzelner Nervenzellen auf visuelle Reize messen", erklärt Kutters Kollege Florian Mormann.

Auf eine Zahl eingestellt

Für ihre Untersuchung zeigten die Forscher den Studienteilnehmern auf einem Computerbildschirm eine unterschiedlich große Anzahl von Punkten - mal nur einen, mal vier oder auch fünf. Was würde beim Anblick dieser Punkte im Gehirn passieren? Es zeigte sich: "Bestimmte Nervenzellen feuerten vor allem bei ganz bestimmten Mengen", berichtet Kutter. "Manche wurden zum Beispiel hauptsächlich durch drei Punkte aktiviert, andere durch einen."

Interessant dabei: Die einzelnen Neuronen waren zwar auf eine bestimmte Menge "eingestellt", sprachen aber auch auf leicht abweichende Mengen an. Eine Dreier-Hirnzelle feuerte demnach auch bei zwei oder vier Punkten, wie die Wissenschaftler berichten. Durch einen oder fünf Punkte ließ sie sich dagegen kaum noch aktivieren. Experten nennen das den "Numerical Distance Effect" - ein Phänomen, das bereits im Gehirn von Affen beobachtet wurde.

Ähnliches Prinzip bei Ziffern

Das abhängig von der gesehenen Menge erzeugte Aktivitätsmuster war dabei sehr spezifisch: "Wir haben einen Algorithmus geschrieben, der dieses Muster auswertet", erklärt Mormann. "Mit ihm konnten wir allein aus dem Erregungszustand der Nervenzellen ablesen, wie viele Punkte unsere jeweilige Versuchsperson gerade sah."

Ähnliches beobachteten die Forscher auch, als sie den Probanden statt Mengen in Form von Punkten konkrete Ziffern zeigten. So feuerten bei bestimmen Ziffern ebenfalls bestimmte Hirnzellen - allerdings mit entscheidenden Unterschieden. Denn die Ziffern-Neuronen waren nicht mit den Mengen-Neuronen identisch: Die Ziffer "3" regt demnach ganz andere Nervenzellen an als eine Menge von drei Punkten.

Dyskalkulie besser verstehen?

Analog zum Mengenexperiment gab es aber auch hier einen "Numerical Distance Effect", wie Mormann berichtet: "Sie lassen sich also ebenfalls nicht nur durch die genau passende Ziffer, sondern auch durch deren Nachbarn anregen." Für die Wissenschaftler zeichnet sich damit ab, dass wir uns Ziffern anders aneignen als andere einfache Zeichen - und dass diese Symbole in unserem Gehirn eng mit einer bestimmten Mengenvorstellung verwoben sind. Die Neuronen müssen demnach gelernt haben, dass sich eine "3" in ihrem Wert nur wenig von einer "2" oder einer "4" unterscheidet, sonst würden sie nicht auf diese beiden Ziffern ansprechen.

Die Forscher hoffen, dass diese neuen Erkenntnisse in Zukunft auch zu einem besseren Verständnis der Dyskalkulie beitragen werden - einer Entwicklungsstörung, die unter anderem mit einem schlechteren Mengenverständnis einhergeht. (Neuron, 2018; doi: 10.1016/j.neuron.2018.08.036 

(Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 24.09.2018 - DAL)


Notabene! Meine Lieblingsidee, dass die Zahlen nicht durch Anschauung des Nebeneinanders von  Dingen im Raum, sondern aus dem Erleben vom Nacheinander des Geschehens in der Zeit entstanden ist, wird da- von nicht berührt. Das Einschätzen von Mengen ist noch nicht ihr Messen. Zu letzterem braucht man aller- dings - außer einer Maßeinheit - Zahlen. Fürs erstere reicht ein Ungefähr, wie das Experiment ja beweist. Wo die Zahlen herkommen, ist davon unberührt. Man sollte annehmen, dass sie schon da waren, als man daran ging, Mengen zu messen statt bloß zu schätzen; und dass man daran ging, weil sie schon da waren!
JE


Freitag, 21. September 2018

Erbgut, das sich selbst erzeugt.


aus scinexx
 
Gene "aus dem Nichts"
Vorläufer neuer Gene in unserer DNA entstehen permanent spontan 

Plötzlich da: In unserem Erbgut entstehen ständig neue Gene spontan und quasi aus dem Nichts. Wie Forscher jetzt herausgefunden haben, bilden sich die Kandidaten für solche proteinkodierenden DNA-Abschnitte permanent aus der sogenannten Juni-Dna. Ein Großteil dieser Genvorläufer verschwindet allerdings schnell wieder. Nur aus einigen wenigen gehen wirklich funktionstüchtige Gene hervor – Code-Abschnitte, die einem Organismus grundlegend neue Eigenschaften bescheren können.

Kopieren und schrittweise verändern ist einfacher, als etwas völlig Neues zu entwickeln: Lange Zeit dachten Forscher, dieses Prinzip gelte auch für die Evolution von Genen. Demnach entstehen neue proteinkodierende Abschnitte der DNA durch die Vervielfältigung und punktuelle Veränderung bereits bestehender Gene. Dass vollständig neue Gene und damit neue Eigenschaften quasi aus dem Nichts auftauchen, galt dagegen jahrzehntelang als undenkbar.

Inzwischen beginnt dieses Dogma jedoch zu kippen. Denn jüngere Studien deuten darauf hin, dass Gene sehr wohl aus dem Nichts entstehen können - genauer gesagt: aus sogenannter Junk-DNA. Dies sind Erbgutabschnitte, die nicht für Proteine kodieren, also keine "echten" Gene enthalten. Doch wie häufig bilden sich in diesem Teil unseres DNA-Codes Kandidaten für neue Gene und wie viele davon setzen sich im Laufe der Evolution dann auch tatsächlich durch?

Neuen Genen auf der Spur

Dieser Frage sind nun Wissenschaftler um Jonathan Schmitz von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster nachgegangen. Sie haben die frühesten Stadien der Entstehung dieser Gene aus dem Nichts unter die Lupe genommen - und dafür das Erbgut von vier Säugetierarten untersucht: Maus, Ratte, Kängururatte und Opossum.

Letzteres gehört zu den Beuteltieren, deren Evolutionslinie sich früh von dem Zweig der Höheren Säugetiere abgespalten hat. Durch den Vergleich mit dieser Spezies konnten die Forscher somit 160 Millionen Jahre der Entwicklungsgeschichte der Säugetiere abdecken. Konkret fahndeten sie dabei nach sogenannten offenen Leserahmen im DNA-Code - speziellen Sequenzen, die häufig als Bauanleitungen für Proteine dienen.

Genvorläufer entstehen permanent

Die Auswertung zeigte: "Neue offene Leserahmen, also die Kandidaten für Bauanleitungen für neue Proteine, entstehen in nichtkodierenden DNA-Regionen permanent", berichtet Schmitz' Kollege Erich Bornberg-Bauer. Demnach entstehen im Vergleich viel weniger solcher Genkandidaten durch Veränderungen in proteinkodierenden Erbgutabschnitten.

Doch während neue Genvorläufer aus bewährten Genen meist lange im Erbgut erhalten bleiben, verschwinden die Genkandidaten aus dem Nichts und die daraus hervorgegangenen Transkripte meist so spontan wie sie entstanden sind: "Ein Großteil dieser neuen Kandidaten verschwindet ziemlich schnell wieder - wahrscheinlich, weil sie keine nützliche Funktion haben", schreiben die Forscher.
Erklärung für grundlegend neue Eigenschaften

Aus manchen Genvorläufern aber entwickeln sich voll funktionstüchtige Gene, wie das Team berichtet. Sie enthalten den Bauplan für funktionierende Proteine und bleiben über längere Zeit erhalten. "Diese Transkripte können dann in mehreren Abstammungslinien gefunden werden", erklärt Bornberg-Bauer. "Wahrscheinlich können sie über lange Zeiträume hinweg das Repertoire der bestehenden Proteine ergänzen und an das molekulare Wechselspiel mit diesen angepasst werden."

Manchmal übernimmt ein aus dem Nichts entstandenes Protein demnach tatsächlich eine Funktion im Organismus. "Damit haben wir auch eine Erklärung dafür, wie grundlegend neue Eigenschaften entstehen können. Allein durch punktuelle Veränderungen der genetischen Struktur ist das nämlich nicht erklärbar", schließt der Forscher. (Nature Ecology an Evolution, 2018; doi: 10.1038/s41559-018-0639-7)

(Westfälische Wilhelms-Universität Münster, 13.09.2018 - DAL)


Nota. - Dagegen war die Entdeckung der Epigenetik ja nur ein Klacks. Machen wir uns auf einiges gefasst! 
JE

Dienstag, 18. September 2018

Herkunft der Schizophrenie.

aus derStandard.at, 18. September 2018, 10:00

Warum bei Schizophrenie Neuronennetzwerke aus dem Takt geraten
Forscher identifizierten Neuronen, die bei der Koordination der Zellnetzwerke im Gehirn eine zentrale Rolle spielen

Genf – Genfer Forscher haben bei Mäusen herausgefunden, warum bei Schizophrenie Nervenzell- netzwerke im Gehirn aus dem Takt geraten. Es ist ihnen gelungen, wieder Ordnung ins Chaos zu bringen und dadurch bestimmte Symptome der Erkrankung zu unterdrücken. Den Schlüssel stellen Parvalbumin-Neuronen da, berichten die Wissenschafter im Fachblatt "Nature Neuroscience".

Rund ein Prozent der Weltbevölkerung leidet an Schizophrenie. Diese psychische Erkrankung kann sich von Mensch zu Mensch unterschiedlich manifestieren, typisch sind aber Symptome wie inhaltliche Denkstörungen, Halluzinationen und Verhaltensstörungen wie Hyperaktivität. Studien der vergangenen Jahre haben Hinweise geliefert, dass Nervenzellnetzwerke bei Schizophrenie nicht mehr koordiniert kommunizieren, wie ein Orchester, in dem die Musiker den Takt verlieren und nicht mehr richtig zusammenspielen.

Dirigent im neuronalen Chaos

Ein Team um Alan Carleton von der Universität Genf hat bei Mäusen nach Ursachen gesucht, warum das Nervenzell-Orchester aus dem Takt gerät. Die Tiere trugen einen genetischen Defekt, der beim Menschen als DiGeorge-Syndrom bekannt ist und das Schizophrenierisiko um das 40-fache erhöht, wie die Universität mitteilte.

Die Forscher fokussierten für ihre Studie auf den Hippocampus – ein Hirnareal, das unter anderem bei Gedächtnisprozessen eine wichtige Rolle spielt. Bei gesunden Kontrollmäusen ohne Gendefekt beobachteten sie, dass die Tausenden von Nervenzellen, die das Netzwerk bilden, gut zusammenspielten. Anders war das bei den Mäusen mit Gendefekt: Bei diesen waren die Nervenzellen völlig unkoordiniert, als ob sie nicht richtig miteinander kommunizieren könnten.

Normalerweise fungiert eine Gruppe bestimmter hemmender Neuronen sozusagen als Dirigenten, die das Orchester im Takt halten. Unter diesen "Dirigenten" sind Nervenzellen, die ein Protein namens Parvalbumin produzieren und dadurch charakterisiert werden. Bei den Mäusen mit Gendefekt entdeckten die Wissenschafter, dass genau diese hemmenden Parvalbumin-Neuronen viel weniger aktiv waren. "Ohne richtige Hemmung, um die elektrische Aktivität anderer Neuronen im Netzwerk zu kontrollieren und zu strukturieren, herrscht Anarchie", so Carleton.

Hoffnung auf Therapie

Genau diese Parvalbumin-Neuronen wählten die Forscher auch als Ansatz, um zu versuchen, das Orchester der Nervenzellen wieder in den Takt zu bringen. Indem sie die "Dirigenten" künstlich aktivierten, brachten sie Ordnung ins Chaos der Nervenzell-Kommunikation. Dadurch konnten sie auch Schizophrenie-ähnliche Symptome der Mäuse unterdrücken, namentlich Hyperaktivität und Gedächtnisprobleme.

Darin sehen die Wissenschafter auch einen vielversprechenden Ansatz für künftige Therapien beim Menschen. Die bisherige Behandlung mit Medikamenten, die auf Basis der Nervenzell-Botenstoffe Dopamin und Serotonin wirken, könne zwar bei Halluzinationen Abhilfe schaffen. Sie seien jedoch bei vielen anderen Symptomen in Zusammenhang mit Schizophrenie weniger effektiv, so die Forscher. Möglich wäre, künftig auf die Parvalbumin-Neuronen abzuzielen, um diese in ihrer Dirigenten-Funktion zu unterstützen.

Allerdings wird es noch dauern, bis darauf basierende Therapien entwickelt werden. Carleton und sein Team wollen zunächst ihre Ergebnisse bestätigen, indem sie Mäuse mit anderen Gendefekten untersuchen, die ebenfalls mit Schizophrenie zusammenhängen. (APA, 17.9.2018)


Abstract
Nature Neuroscience: "Restoring wild-type-like CA1 network dynamics and behavior during adulthood in a mouse model of schizophrenia"



Nota. - Über 'Ursache' und 'Wesen' der Schizophrenie ist damit wohlbemerkt nichts ausgesagt, als dass besagter Gendefekt 'eine Rolle spielt'. Unter welchen Umständen er diese Rolle spielen kann, ist vorläufig ungeklärt. Erwiesen scheint, dass es sich bei der taktgebenden Hemmung im Hippocampus um die neuronale Funktion handelt, deren Störung das Krankheitsbild Schizophrenie 'ausmacht'. Das ist ja auch schon aller- hand.
JE