Samstag, 29. August 2015

Tierischer Verstand.


Kluge Vögel: Die begabten Goffin-Kakadus können logische Entscheidungen nach Ausschlussprinzip treffen. Sie wählen ein unbekanntes Bild, wenn sie wissen, dass es für die Alternativen keine Belohnung gibt. Die für die Vögel nützliche Neugier stellte sich im Experiment als Hindernis für die Wissenschaftler heraus, wie sie im Magazin "PLOS ONE" beschreiben.

aus scinexx

Kakadus schlussfolgern logisch
Experiment zeigt Entscheidungen nach Ausschlussprinzip

Wir Menschen sind in der Lage, Schlussfolgerungen zu ziehen: Wenn wir aus drei Antworten – beispielsweise A, B und C – die einzige richtige finden sollen und wissen, dass A und B falsch sind, schlussfolgern wir, dass C richtig sein muss. Verschiedene Tiere wie Hunde, Delfine, Seelöwen und Vögel haben bereits ähnliche logische Fähigkeiten gezeigt. Dies war bislang jedoch schwierig auf zuverlässige Art zu untersuchen: Es ist schließlich auch möglich, dass ein Tier Antwort C einzig und allein aus Neugier wählt, weil es die einzige unbekannte Möglichkeit ist.

Neugier als Fehlerquelle

Forscher um Mark O'Hara von der der Universität Wien haben darum ein Experiment entwickelt, in dem sie die Neugier als Fehlerquelle ausschließen wollen. Die Kognitionsbiologen arbeiteten mit Goffin-Kakadus, die als besonders neugierig gelten. In verschiedenen Versuchen haben diese Tiere bereits ihre kognitiven Fähigkeiten bewiesen: Sie können Werkzeuge basteln, beherrschen das Hütchenspiel und sind überraschend gute Tresorknacker. Wissenschaftler nehmen an, dass die Vögel sich die große Neugier leisten können, da sie auf den Inseln ihrer Heimat Indonesien nur wenige natürliche Feinde haben.*


Zur Auswahl am Bildschirm standen neue und bekannte Bilder – getestet wurde, ob die Kakadus nach dem Ausschlussprinzip handeln.

In dem gegenwärtigen Versuch mussten die Goffin-Kakadus zunächst lernen, auf einem Touchscreen das richtige von zwei Bildern zu drücken. Für das "positive" Bild erhielten sie eine Futterbelohnung, das "negative" blieb unbelohnt. Im Laufe dieses Trainings ersetzten die Biologen das negative Bild gelegentlich aber auch durch neue, unbekannte Bilder. Damit wollten sie sicherstellen, dass die Kakadus wirklich das positive Bild bevorzugen und nicht aus reiner Neugier neue Bilder wählen.

Verlässlich nach Ausschlussprinzip

Erst als die Tiere gelernt hatten, neue Bilder genau wie das negative Bild verlässlich zu meiden, testeten die Wissenschaftler ihre Fähigkeit, nach dem Ausschlussprinzip zu wählen: Sie zeigten den Goffin-Kakadus nun auch Bildkombinationen, in denen das positive Bild neu war. Demgegenüber standen Bilder, die die Vögel bereits als negativ kennengelernt hatten.

Die Wissenschaftler identifizierten verschiedene Strategien, nach denen die Vögel ihre Auswahl trafen. Aber ein großer Teil der Tiere traf eindeutig logische Schlussfolgerungen: "Bei etwa der Hälfte der Kakadus konnten wir annehmen, dass sie tatsächlich verlässlich nach dem Ausschlussprinzip gewählt hatten", erklärt O'Hara.

Die Forscher sind vom Erfolg der Vögel wenig überrascht: "In Anbetracht dessen, wozu diese Kakadus fähig sind, sind wir schon davon ausgegangen, dass sie nach dem Ausschlussprinzip wählen können", sagt O’Hara. "Dies war nun der erste Test, ob wir das mit unserer neuen Methode auch zeigen können." Die Goffin-Kakadus haben damit den Weg bereitet, dass auch andere Vogelarten ihre Fähigkeiten zeigen können. "Dies kann uns letztlich etwas über die Evolution dieser Fähigkeit näher bringen", ergänzt O’Hara. (PLOS ONE, 2015; doi: 10.1371/journal.pone.0134894)
(Universität Wien, 26.08.2015 - AKR)

*) Nicht aus der Not, sondern als Luxus! JE


Nota. - Dass wir Menschen uns von den Tieren nicht grundsätzlich, sondern nur graduell durch unsern Verstand unterscheiden, kann mittlerweile zu unserm gesicherten Wissensbestand gezählt werden. Bleibt uns als besonderes Kennzeichen aber die Vernunft? Vernunft ist nicht bloß das Kombinieren gegebener Daten; Vernunft ist die Fähigkeit zur guten Wahl; das Vermögen, 'ohne Interesse', d. h. unabhängig von eventuellen Vorteilen, Gutes zu unterscheiden von Schlechtem oder Bösem; eine Gabe, über die wir tat- sächlich alle verfügen, wenn wir uns auch ihrer nicht alle und nicht allezeit bedienen. Es ist im weitesten Sinne unser ästhetischer Sinn

Vom Himmel gefallen wird auch der nicht sein, er wird sich aus gattungsgeschichtlichen Vorläufern ent- wickelt haben. Aber nicht durch allmähliche Anlagerung, sondern in der Krisis, nach dem Verlust von Etwas, das wir einmal mit den Tieren gemein gehabt haben...
JE




Freitag, 28. August 2015

Die meisten psychologischen Untersuchungen sind wertlos.

aus nzz.ch, 27.8.2015, 20:00 Uhr

Psychologische Studien
Mehr als die Hälfte der Ergebnisse ist nicht reproduzierbar
Die Forschung muss ständig neue und überraschende Resultate liefern. Dieser Druck führt allerdings kaum zu soliden Erkenntnissen, wie eine gross angelegte Analyse zeigt.

von Angelika Jacobs

«Ihr solltet mit diesem Schlamassel aufräumen», schrieb der Nobelpreisträger und Psychologe Daniel Kahneman 2012 in einer offenen Mail an Forscherkollegen aus der Sozialpsychologie. Das Schlamassel? Eine Vielzahl von Studienergebnissen, die sich bei Wiederholung der Experimente durch andere Forscher nicht bestätigen liessen. Nicht nur die Sozialpsychologie, auch andere Bereiche der psychologischen Forschung kämpfen aus diesem Grund mit Zweifeln an ihrer Glaubwürdigkeit. Eine grossangelegte Analyse hat nun versucht, das Problem zu beziffern. Ihre Ergebnisse sind im Fachjournal «Science» erschienen: Von 100 Studien, die 2008 in drei Psychologie-Journalen erschienen waren, liessen sich nur 39 bestätigen. Vor allem wenn eine Studie besonders überraschende oder schwache Effekte zeigte, liessen sich diese schlecht reproduzieren. «Diese Bilanz verunsichert natürlich auch Studierende, wenn sie sich fragen müssen, wie viel am Basiswissen dran ist, das sie lernen», sagt der Psychologe Fred Mast von der Universität Bern.

Das Rauschen der Daten

Dass sich vor allem schwache Effekte nicht reproduzieren liessen, könne am Rauschen in den Daten liegen, erklärt Mast. Dieses beruht beispielsweise auf individuellen Unterschieden zwischen den Probanden, ihrer Tagesform oder kleinen Abweichungen im Versuchsaufbau. Solche Schwankungen könnten scheinbare Effekte erzeugen, oder kleine, echte Effekte könnten darin verschwinden.

Der Durchführung der Analyse und ihrem Ergebnis steht Klaus Fiedler von der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg allerdings skeptisch gegenüber. Dabei gehörte er zu den Glücklichen, deren Studien der Prüfung standhielten. «Die Analyse hat die Illusion exakter Wiederholung verfolgt, dabei aber wichtige Kontrollen weggelassen», so Fiedler. Zwar sollten die Experimente unter gleichen Bedingungen wie in der Originalstudie ablaufen. «Aber die Rahmenbedingungen lassen sich sechs bis sieben Jahre später nicht exakt nachbilden.» Die Welt habe sich verändert, es gebe neue Sichtweisen und Alltagsgewohnheiten. Und computergestützte Experimente liessen sich nicht exakt gleich wiederholen, da sich Hard- und Software seit 2008 rasant weiterentwickelt hätten.

Schlechte Praktiken

Dass die psychologische Forschung ein Problem hat, steht für den Psychologen Martin Kleinmann von der Universität Zürich jedoch ausser Frage. Ein Grund sei, dass eine Bestätigung bekannter Ergebnisse nicht gewürdigt werde. Nur neue Erkenntnisse liessen sich veröffentlichen. «Das kann zu schlechten Praktiken führen, zum Beispiel dazu, ein Experiment so oft zu wiederholen, bis man einen überraschenden Effekt sieht», so Kleinmann. Oder unliebsame Ergebnisse wegzulassen und nur selektive Befunde mitzuteilen. Fachjournale reagieren teilweise bereits auf diese Probleme, indem sie alle Rohdaten verlangen oder Studien aufgrund ihrer Fragestellung vorab für die Publikation akzeptieren, bevor die Daten erhoben werden.

Auch «Psychological Science», eines der drei überprüften Psychologie-Journale, ergreift Massnahmen, wie der Chefredakteur Steve Lindsay auf Anfrage schreibt. Man werde mehr Beweise für die Reproduzierbarkeit von Daten verlangen und überraschende Effekte künftig mit grösserer Skepsis betrachten.

Ob diese Bemühungen das Schlamassel in der Psychologie beseitigen können, müssen weitere Wiederholungsstudien zeigen. Aber: «Zur Forschung gehören zwangsläufig auch Ergebnisse, die sich später als falsch erweisen», sagt Fiedler.


Nota. - "Aber die Rahmenbedingungen lassen sich sechs bis sieben Jahre später nicht exakt nachbilden. Die Welt habe sich verändert, es gebe neue Sichtweisen und Alltagsgewohnheiten" - Ja ist es denn nicht der Zweck des "Versuchs", der Laborsituation, Kontingenzen auszuschließen? Wenn die Versuchsanordnung so gewählt wurde, dass allerlei zeitbedingt Zufälligkeiten Einfluss auf die Resultate haben, dann ist es ja keine Wunder, wenn sich die Versuche nicht wiederholen lassen; denn dann waren sie wissenschaftlich schludrig, waren sie nicht?

Und schließlich liegt es an den Verlagen - sicher mehr als an den Redaktionen -, wenn nur sensationell Neues veröffentlicht wird, nicht aber die Bestätigung bekannter Resultate. Wissenschaft ist öffentliches Wissen, was ihre Öffentlichkeit beeinträchtigt, behindert die Wissenschaft. Im Prinzip, sollte man meinen, ist das Problem seit der Etablierung des Internet gelöst. Wenn Elsevier & Co. im Wege stehen, muss sich die wissenschaftliche Community eben was einfallen lassen.
JE



Montag, 24. August 2015

Künstliche Intelligenz oder doch?

Myon 

aus nzz.ch, 23.8.2015, 05:30 Uhr                                                             

Maschinen und Menschen
Kann ein Smartphone Bewusstsein haben?
Ist alles nur eine Frage des Organisationsgrades und der Komplexität? Werden Maschinen in nicht ferner Zukunft Bewusstsein, gar Selbstbewusstsein besitzen? – Einige Visionen und ihre Grenzen.

von Eduard Kaeser

Das amerikanische Web-Magazin «Edge» hat als Frage des Jahres an zahlreiche Wissenschafter und Philosophen diese gestellt: Was denken Sie über Maschinen, die denken? Die Frage ist symptomatisch. Die «machina sapiens», die zum Bewusstsein erwachte Maschine, wird in einschlägigen Kreisen als real möglich betrachtet. Bereits einer der Pioniere der Artificial Intelligence, John McCarthy, meinte einmal, sein Thermostat habe drei Überzeugungen: zu warm, zu kalt und gerade richtig. Das war damals, in den Anfängen, ein Witz, aber ein ernst gemeinter. Man betrachtete es nur als eine Frage der Zeit, meist in disziplinüblichen Dekaden gerechnet, bis die ersten Computer mit Bewusstsein unter uns weilen würden. Wir warten zwar immer noch darauf, aber inzwischen brüsten sich Vertreter der Hirn- und Computerforschung bereits damit, einer Lösung des Problems auf der Spur zu sein, wie Bewusstsein in die Materie kommt – der Lösung des sogenannten «harten Problems».

Das Algorithmus-Paradigma

Christof Koch, Kybernetiker und leitender Forscher am amerikanischen Allen Institute for Brain Science, ist überzeugt, dass die Komplexität eines künstlichen Systems es auch befähige, als Trägermedium für eine Art von künstlichem Bewusstsein zu fungieren. Das entscheidende Kriterium sei die Organisation des Systems, die Vernetztheit der Elemente. Der Psychiater Giulio Tononi, ein bekannter Schlafforscher und nunmehr Mitarbeiter von Koch, hat eine sogenannte integrierte Informationstheorie entwickelt. Deren Grundidee ist einfach: bewusste Zustände differenzieren und integrieren. Als bewusste Wesen sind wir fähig, eine Vielzahl von Eindrücken zu unterscheiden, und doch nehmen wir in ihnen etwas als gestalthaftes Ganzes wahr. – Ein Smartphone kann eine gewaltige Pixelmenge speichern und in der darin enthaltenen Information Unterscheidungen vornehmen. Das aber genügt nicht, die Pixel müssen auch miteinander verknüpft sein, zu Gestalten «integriert». Bewusstseinszustände entstehen, so die These, bei einer gewissen Dichte an differenzierter und integrierter Information.

Tononis Theorie definiert eine Masszahl für diese Dichte, in Bits. Sie wird als Phi (Φ) bezeichnet. Phi misst, wie integriert – und damit bewusst – ein System ist, sei es nun organisch oder anorganisch. Nun mag die Grundidee – wie so oft – einfach sein, die praktische Berechnung von Phi erweist sich jedoch für die meisten Systeme als enorm kompliziert. Allerdings gilt Komplexität heute nicht als grundsätzliches Hindernis, sondern als Herausforderung für immer leistungsfähigere Computer. Man muss, um die Fraglichkeit des Ansatzes hervortreten zu lassen, den Blick auf das implizite Axiom richten, Bewusstsein komme einem physikalischen System zu wie etwa seine Masse, sein Schmelzpunkt, seine Speicherkapazität, sein Blutdruck – oder eben: sein Organisationsgrad. Indem die Neuroinformatik von dieser Grundvoraussetzung ausgeht, trifft sie eine Vorentscheidung, deren Signatur dann alle unsere Fragen prägt: nämlich mentales Leben «im Prinzip» als eine Art von Rechenprozess oder Algorithmus in irgendeinem komplexen physikalischen System zu studieren. Das ist, wie man es nennen könnte, das Algorithmus-Paradigma des Bewusstseins. Es verzeichnet durchaus seine Forschungserfolge. Die Frage bleibt indes: Genügt es für ein System, die nötige komplexe Struktur zu haben, um als «bewusst» zu gelten?

Tononi spielt mit der Idee eines «Phi-Meters», der für jede beliebige Entität einen spezifischen Wert berechnet: Menschen, Katzen, Google-Autos, Smartphones. Was sagt uns dieser Wert? Nun, eben genau dies: Die Entitäten haben einen bestimmten Phi-Wert. Wenn uns darunter solche mit Bewusstsein bekannt sind – Menschen oder Katzen –, dann folgt daraus einfach, dass gewisse uns bekannte bewusste Systeme einen bestimmten Phi-Wert haben. Es mag ein Kontinuum von steigenden Phi-Werten geben, angefangen bei Protonen, bis hinauf zum Homo sapiens, aber das ist bestenfalls ein Kontinuum von Zuständen, die womöglich mit Bewusstsein korreliert sind. Wo beginnt Bewusstsein? Man verstrickt sich hier leicht in das altbekannte Haufen-Paradoxon: Wie viele Sandkörner sind nötig, damit ihre Ansammlung ein Sandhaufen ist? Wie viele Neuronen muss man einem gerade noch nicht «bewussten» Hirn zufügen, um es «bewusst» werden zu lassen?

Turings Test

Zielt ein solcher Bottom-up-Ansatz womöglich am Problem vorbei? Wenn es tatsächlich eine Eigenschaft gäbe, von der sich sagen lässt, dass sie uns zu bewussten Wesen macht; und wenn wir diese Eigenschaft in einem künstlichen System implementieren würden, wäre dieses System dann ein bewusstes? Ist Bewusstsein so etwas wie das Erleben integrierter Information «von innen»? Was aber heisst nun wiederum «von innen erleben»? Wie können wir je sicher sein, dass es nicht auch Artefakte und Wesen gibt, die den gleichen Phi-Wert wie Menschen aufweisen und dennoch kein Innenleben haben – Zombies zum Beispiel?

Wer solcher Fragen überdrüssig ist, mag sie in die philosophische Rumpelkammer werfen. Genau das tat Alan Turing mit seinem berühmten Imitationsspiel. Vorlage dazu war ein bekanntes Gesellschaftsspiel, in dem ein Teilnehmer das Geschlecht zweier verborgener Gesprächspartner durch einfache Fragen herausfinden muss. Da es sich um Menschen handelt, besteht der Reiz des Spiels darin, einander auszutricksen, den Fragesteller auf die falsche Fährte zu führen. Turings listiger Vorschlag lautete, einen menschlichen Partner durch einen künstlichen zu ersetzen und zu prüfen, ob dieser mit seinem Verhalten intelligentes menschliches Verhalten imitieren könne. Eine Person, die über eine Tastatur einer anderen Person und einem Computer Fragen zu stellen hatte, musste herausfinden, von wo die menschlichen und von wo die maschinellen Antworten kamen. Damit hatte Turing listigerweise das Problem verschoben von Systemen mit Bewusstsein zu Systemen, die Bewusstsein vorzutäuschen vermögen. Aber damit gerät man vom Regen in die Traufe.

Unser Zeitalter ist geradezu verschossen in die maschinelle Vortäuschung menschlicher Kompetenzen. Was aber ist eigentlich eine Maschine? Dem ursprünglichen Wortsinn gemäss ein «Trick», eine physikalische Vorrichtung, die überlistet. Eine Machination. Bewusste Maschinen sind Machinationen von Bewusstsein. In der Zeit seit Turing haben Programme ja erstaunliche «Intelligenz» demonstriert, vor allem in Spielen wie Schach oder Jeopardy. Aber diese Stärken beruhen auf ihrem spezifischen Aufgabenbereich, sie sind Insel-Begabungen. Wir haben es im Grunde mit künstlichen Autisten zu tun.

Die wesentliche Frage ist die, ob sich die intelligente Alltagskompetenz, die Menschen in unzähligen Situationen demonstrieren, überhaupt algorithmisch übersetzen und damit in eine Maschine einbauen lässt, wie «lernfähig» sie auch sein mag. Zudem ist selbst unter Menschen bekanntlich umstritten, was als Intelligenz gelten soll. Jedenfalls beurteilen wir sie normalerweise nicht anhand von behavioristischen Kriterien, die auf relativ beschränktes Sprachverhalten à la Turing-Test eingeschränkt sind. Das bringt die Softwaredesigner kaum von ihrem geradezu unbarmherzigen Optimismus ab. Wartet nur, rufen sie uns zu, unsere Gesprächsprogramme befinden sich erst in den Kinderschuhen. – Vielleicht ist das so, aber wir sollten mit einem entscheidenden Faktor rechnen: der Hinterlist der Programme. Denn die schleichende Anpassung unseres sozialen und kommunikativen Verhaltens an die Geräte ist unübersehbar.

Angenommen, wir hätten für jedes beliebige System – natürlich oder künstlich – Phi, also den Bewusstseinsgrad, berechnet. Weiter angenommen, es stellte sich heraus, dass eine neue äusserst raffinierte Version meines Smartphones den gleichen Phi-Wert wie meine Katzen aufwiese. Zudem hätte es den neuesten Turing-Test bestanden (Koch und Tononi haben in der Tat eine eigene Version ausgeheckt). Was wäre dann? Nähme ich das Gerät jetzt auf in die Gemeinschaft der bewussten Wesen? Behandelte ich es gleich wie meine Katzen? Bestünde in Analogie zum Tierschutz nun etwa auch Anlass zu einem Smartphoneschutz? Würde ich Empathie entwickeln, die mich die Frage stellen liesse: Wie fühlt sich mein Smartphone heute morgen? Würde ich ihm, wenn sein Phi humane Werte erreichte, womöglich auch Bürgerrechte zugestehen müssen? Was, wenn wir das von Nerds erträumte Stadium eines Smartphones mit einem «transhumanen» Phi-Wert erreichen? Eric Schwitzgebel, kalifornischer Philosoph, denkt in seinem Blog «The Splintered Mind» – «Der zersplitterte Geist» – schon über moralische Pflichten gegenüber smarten Artefakten nach.

Hase und Igel

Spätestens hier erheben sich weitere Fragen: Was soll denn dieses Gerede von einem Bewusstsein der Maschinen, wenn wir unser eigenes Bewusstsein noch kaum verstehen? Und hat nicht die Evolution Millionen von Jahren gebraucht, um ein solches Bewusstsein hervorzubringen? Spricht nicht allein eine solche Zeitspanne dem Projekt Hohn, dasselbe nun für Maschinen in ein paar Jahrzehnten nachzuholen? Wir mögen zwar ein Stück Materie sein, das irgendwie Bewusstsein erzeugt, aber womöglich ist dieses Irgendwie einige Nummern zu gross für dieses Stück Materie, aber auch für das hervorgebrachte Bewusstsein selbst. Das ist kein Erkenntnis-Defaitismus, bestenfalls ein kleines Memento im Zeitalter der ruhmredigen Neuro Big Science. Womöglich handelt es sich um die Hase-Igel-Situation: Der Hase Neurokybernetik dreht seine Runden, und der Igel Bewusstsein ruft ihm zu: Renn du nur, ich bin schon da!

Dr. Eduard Kaeser, ehemals Gymnasiallehrer für Physik und Philosophie, ist als freier Publizist tätig. Kürzlich ist im Rüegger-Verlag sein Essayband «Trost der Langeweile. Die Entdeckung menschlicher Lebensformen in digitalen Welten» erschienen.


Nota. - Bei der Rekonstruktion des menschlichen Bewusstseins durch die Transzendentalphilosophie fand sich am "Grunde" - als die Bedingung alles Weiteren - das Wollen; eine intellektive Fähigkeit, die nicht psychologisch misszuverstehen ist. Es ist das Vermögen, die eigne Aufmerksamkeit zu richten und über Qualitäten zu urteilen; nämlich aus eignem Antrieb und nicht als Ausführung eines Programms. Denn nur so ist es möglich, aufs eigene Wollen zu reflektieren und die 'richtige Wahl' zu treffen. Das alles zusammen macht das aus, was man landläufig Vernunft nennt und worüber sich heute nicht einmal mehr die Philoso- phen zu reden trauen.

Weil nämlich die Vernunft scheinbar noch ungreifbarer ist als die 'Intelligenz'. Darum sind die intelligenten Maschinen eine eigenes Erkenntnisinstrument: Vernunft ist das, was die Maschinen nicht können.
JE



Samstag, 22. August 2015

Macht die Evolution doch keine Sprünge?

aus derStandard.at, 14. August 2015, 12:00

Evolution afrikanischer Säugetiere erfolgte kontinuierlich, 
nicht sprunghaft
Neue Analysen belegen, dass damit auch die Entwicklung des Menschen nicht maßgeblich von Klimaänderungen beeinflusst wurde

Berlin – Eine in der Fachwelt verbreitete Auffassung geht davon aus, dass wichtige Entwicklungsschritte bei afrikanischen Säugetieren – und damit auch beim Mensch – in der Regel mit großen, schnellen Klimaänderungen verbunden waren. Dem widersprechen allerdings zahlreiche Funde, die eher darauf hinweisen, dass die Evolution des Mensch und der anderen Säugetiere graduell und kontinuierlich erfolgte. Deutsche Wissenschafter haben nun in einer breit angelegten Studie anhand von ostafrikanischen Säugetieren, die vor mehreren Millionen Jahren lebten, neue Belege für die These der kontinuierlichen Evolution gefunden.

Die beiden Forscher Faysal Bibi (Museum für Naturkunde Berlin) und Wolfgang Kiessling (Museum für Naturkunde Berlin und Universität Erlangen-Nürnberg) befassten sich vor allem mit dem späten Pliozän und dem frühen Pleistozän zwischen vier und einer Million Jahre vor heute. Die Wissenschafter untersuchten insbesondere die Zusammensetzung der Tierwelt, die Dauer zwischen Entstehung und Aussterben von Arten sowie die Biomasse insgesamt.

Langfristige statt sprunghafte Entwicklung

Dabei konnten die beiden Forscher feststellen, dass es bei allen untersuchten Kriterien zu kontinuierlichen Änderung kam. Evolutionäre Änderungen waren nicht auf kurze Zeitabschnitte beschränkt, abrupte Klimaänderungen waren in jenem Zeitabschnitt nicht die Hauptursache für das Aussterben von Tierarten. Große evolutionäre Veränderungen, einschließlich neuer menschlicher Eigenschaften wie der Vergrößerung des Gehirns, des aufrechten Gangs und der Nutzung von Werkzeug, waren demnach vielmehr Teil langfristiger, kontinuierlicher Änderungen.
Diese dürften nicht allzu sehr von plötzlichen klimatischen Veränderungen beeinflusst worden sein. Das globale Klima hatte in dieser Periode zwar sicherlich Einfluss auf die Evolution, aber eher über sehr große Zeiträume, im Bereich von Jahrmillionen, wie die Wissenschafter im Fachjournal "Pnas" berichten. Bei viel kürzeren Zeiträumen, im Bereich von hunderttausend Jahren, spielten lokale Umweltveränderungen, beispielsweise die Tektonik, und Wechselwirkungen zwischen Arten, wie der Wettkampf um Ressourcen, höchstwahrscheinlich eine wesentlich wichtigere Rolle für die beobachteten Muster der Veränderung des Artenspektrums. (red)

Donnerstag, 20. August 2015

Pfeifen

aus Die Presse, Wien,17.08.2015 | 16:16

Auf Pfeifsprache reagiert das Gehirn breiter
Wenn Hirten in der Türkei sich mit Pfiffen verständigen, verstehen sie nicht nur mit der linken Hirnhälfte.

Man kann mit gesprochener Sprache kommunizieren oder mit Klicklauten, mit Gebärden oder schriftlich, man kann auch pfeifen, mit den Fingern im Mund. Das ist gar nicht so selten, über 70 Ethnien tun es, man kann sich in entlegenen Regionen über Kilometer verständigen. Das taten etwa Hirten auf der Kanareninsel Gomera immer schon, sie brachten es auf das spanische Festland, im Bürgerkrieg der 1930er-Jahre bedienten sich beide Seiten dieser Kommunikationstechnik.

Eine solche hat sich auch im Norden der Türkei entwickelt, sie ist, wie alle gepfiffenen Sprachen, keine eigene Sprache, sondern übersetzt das gesprochene Türkisch in Pfeiflaute: Bis zu Entfernungen von 80, 90 Metern wird gerufen, dann wird umgestellt. Beim Mund. Im Gehirn auch? Alle anderen Kommunikationsweisen, Sprache, Gebärden etc., werden in der linken Gehirnhälfte verarbeitet, dort sitzt das Sprachzentrum. Aber beim Pfeifen geht es um Melodie und um Tonhöhen etc., die werden rechts im Gehirn verarbeitet.

Gesprochenes? Rechtes Ohr!

Also haben Onur und Monika Güntürkün, Neuroforscher an der Ruhruniversität Bochum, türkische Pfeifsprecher ins Labor gebeten und ihnen gesprochenes und gepfiffenes Türkisch vorgespielt, mit Kopfhörern, entweder ins rechte Ohr, von dort wird nach links im Gehirn gemeldet, oder ins linke, das läuft nach rechts. Kamen gesprochene Wörter von rechts, wurden sie besser verstanden, als wenn sie von links kamen. Bei gepfiffenen Wörtern war das Ohr gleichgültig: Auch wenn sie von links kamen, also rechts im Gehirn verarbeitet wurden, wurden sie so gut verstanden, wie wenn sie von rechts kamen (Current Biology 17. 8.).

Bei beiden Ohren nichts Gepfiffenes hinein ging den Forschern selbst: „Als Türke mit türkischer Muttersprache war ich schon getroffen, dass ich kein Wort verstand“, berichtet Onur: „Nicht ein Wort! Erst nach einer Woche verstand ich ein wenig, aber nur aus dem Kontext.“ In der nächsten Runde wollen die Forscher die Hirnaktivitäten feiner messen, mit EEG. Vielleicht klärt sich dann die Diskrepanz ihres Befunds zu einem früheren an Gomera-Pfeifern (Nature 433, S. 31): Dort war auch beim Pfeifen die linke Hirnhälfte aktiv, nur sie. Aber nur bei Menschen, die die Pfeifsprache verstanden. Die anderen aktivierten in ihrer Not das ganze Gehirn.

Wie auch immer, die nächste Runde muss rasch kommen, auch Hirten in entlegenen Regionen haben heute ein Handy in der Tasche. In Gomera hat man früh reagiert, seit 1999 wird die Pfeifsprache in Grundschulen unterrichtet. (jl)



Die komplexen Laute des gepfiffenen Türkisch, das immer noch in entlegenen Bergregionen der Türkei "gesprochen" wird, entstehen durch spezielle Fingerhaltungen.

Mittwoch, 19. August 2015

Schlauheitsgene gibt es doch.


aus scinexx

Genmanipulation macht Mäuse schlauer
Hemmung nur eines Enzyms vermindert Angst und stärkt das Gedächtnis
Es ist fast ein wenig gruselig: Durch genetische Hemmung nur eines Enzyms im Gehirn haben Forscher Mäuse intelligenter gemacht. Die manipulierten Tiere besaßen ein besseres Gedächtnis, waren neugieriger und angstfreier als ihre normalen Artgenossen. Da es das gleiche Enzym auch beim Menschen gibt, hoffen die Forscher, durch eine solche Hemmung auch Menschen mit Demenz oder Angsterkrankungen helfen zu können

Das Enzym Phosphodiesterase-4B (PDE4B) gilt schon länger als wichtig für die geistige Gesundheit. Es kommt vor allem im Hippocampus des Gehirns von Säugetieren und auch von uns Menschen vor und damit sozusagen in der Gedächtniszentrale unseres Denkorgans. "Phosphodiesterasen (PDE) sind für fundamentale Aspekte der Gehirnfunktion verantwortlich, darunter Lernen, Gedächtnis und höhere kognitive Funktionen", erklären Alexander McGirr von der University of British Columbia in Vancouver und seine Kollegen.

Verbessertes Gedächtnis und geistige Leistungen

Für ihre Studie veränderten die Forscher bei Mäusen ein Gen, das das Enzym PDE4B produziert. Die solcherart manipulierten Mäuse produzierten dadurch weniger PDE4B in ihrem Hippocampus und dem Mandelkern, dem für Emotionen zuständigen Hirnareal. Wie sich diese Veränderungen auswirkten, testeten die Wissenschaftler in mehreren Verhaltensexperimenten.

Das Ergebnis: Die genmanipulierten Mäuse erwiesen sich als deutlich schlauer als ihre normalen Artgenossen. Sie erkannten bekannte Objekte und Artgenossen besser wieder, merkten sich Dinge länger und lernten schneller, wo sich in einem Wasserbecken eine unter der Wasseroberfläche versteckte Plattform befand. Die Tiere waren zudem neugieriger und erkundungsfreudiger als ihre Artgenossen, wie die Forscher berichten. Diese Veränderungen spiegelten sich auch im Gehirn der Tiere wider. Denn dort wuchsen Nervenzellen stärker und es gab Veränderungen an den Synapsen.

Weniger Angst

Und noch etwas fiel auf: Die genmanipulierten Mäuse waren weniger ängstlich als ihre Artgenossen. Während letztere helle, offene Flächen meiden und sich lieber in dunklen, engen Höhlen aufhalten, spazierten die Mäuse mit dem gehemmten Enzym furchtlos auch durch helle Freiflächen. Selbst der Geruch von Katzenurin – normalerweise ein wirksames Abschreckmittel – jagte ihnen keine Angst ein.

Für die Medizin besonders interessant: Während sich das Gedächtnis der Tiere für neutrale oder positive Dinge verbesserte, schien das Fehlen des Enzyms angsterfüllte Erinnerungen eher zu unterdrücken. Die genmanipulierten Mäuse erinnerten sich nach sieben Tagen weniger gut an negative, angstauslösende Erfahrungen als die Kontrolltiere, so die Forscher. Dieser Effekt ließ sich auch bei genetisch normalen Mäusen mit einem Hemmstoff des Enzyms erreichen.

Hilfe für Menschen mit Demenz oder Ängsten?

Die Forscher hoffen, dass eine Hemmung des PDE4B-Enzyms auch beim Menschen positive Effekte haben könnte. Sie sehen Anwendungsmöglichkeiten sowohl bei Demenzerkrankungen als auch bei Angsterkrankungen. "Medikamente, die PDE4B hemmen, könnten künftig das Leben von Menschen mit neurokognitiven Störungen und einer lebensbeeinträchtigenden Angst verbessern", meint McGirr. "Auch nach traumatischen Erfahrungen könnten sie helfen."

Noch allerdings müssen weitere Versuche zeigen, ob eine Hemmung des Enzyms PDE4B auch beim Menschen eine so positive Wirkung hat. Die Forscher arbeiten bereits an Wirkstoffen, mit denen sich dies ohne Genmanipulation erreichen lässt. (Neuropsychopharmacology, 2015; doi: 10.1038/npp.2015.240)

(University of Leeds, 17.08.2015 - NPO)

Samstag, 15. August 2015

Im Traum sehen wir Bilder.

Georges de la Tour, Josephs Traum
aus scinexx                                                                                                        

Warum wir im Traum die Augen bewegen
"Rapid Eye Movements" spiegeln tatsächlich Seheindrücke im Traum wider

Vermutung bestätigt: Forscher haben herausgefunden, welche Ursache unsere schnellen Augenbewegungen im Traumschlaf haben. Sie sind keine unwillkürlichen Zuckungen, sondern spiegeln tatsächlich Seheindrücke unserer Träume wider. Denn während dieser sogenannten REM-Phasen feuern im Gehirn genau die Hirnareale, die auch im Wachzustand neue Bilder verarbeiten, wie die Wissenschaftler im Fachmagazin "Nature Communications" berichten.

Warum träumen wir? Und was passiert dabei im Gehirn? Das Träumen ist die faszinierendste Phase unseres Schlafs – und eine noch immer ziemlich rätselhafte. So weiß man zwar, dass der Traum wichtig für unsere seelische Gesundheit ist und kann sogar schon die Gedanken eines Träumenden lesen. Aber vieles andere rund um den REM-Schlaf ist noch unklar.

Spiegeln unsere Augen das Sehen im Traum wider?

Eines der ungelösten Rätsel: Während des REM-Schlafs bewegen sich unsere Augen unter den geschlossenen Lidern schnell hin und her. Aber warum? Sind es nur reflexartige Bewegungen, ähnlich einem unwillkürlichen Zucken? Oder spiegeln diese Augenbewegungen vielleicht sogar wider, wohin wir gerade im Traum schauen?
  

"Die Rapid Eye Movements sind den typischen Sakkaden während unserer Wachperioden sehr ähnlich", erklären Thomas Andrillon von der University of Wisconsin-Madison und seine Kollegen. Doch den Zusammenhang zur Blickrichtung im Traum zu beweisen, war bisher schwierig. Denn wer träumt, den kann man nicht fragen, was er gerade sieht.


Beim REM-Schlaf sind visuelle Areale im Schläfenlappen (rot) aktiv.

Elektroden tief im Gehirn

Doch den Forschern kam ein glücklicher Zufall zu Hilfe: In einer Uniklinik in Kalifornien warteten 19 Epilepsiepatienten auf ihre Operation und hatten zu deren Vorbereitung Elektroden tief in ihr Gehirn eingepflanzt bekommen. Diese Elektroden boten den Wissenschaftler die einmalige Gelegenheit, die Aktivität des Gehirns und speziell der Sehzentren beim REM-Schlaf zu erfassen und diese Signale mit den Augenbewegungen zu vergleichen.

"Wir konzentrierten uns dabei auf die Aktivität spezifischer Neuronen im Schläfenlappen", berichtet Koautor Yuval Nir von der Universität Tel Aviv. Denn Studien zeigen, dass diese Regionen aktiv werden, wenn wir Bilder von bekannten Persönlichkeiten oder Orten sehen – oder uns solche Bilder nur vorstellen. Während die Patienten im aktuellen Experiment schliefen und träumten, zeichneten die Forscher ihre Hirnaktivität über die Elektroden, aber auch mittels Elektroenzephalogramm (EEG) auf. Zusätzlich registrierten sie die Muskelspannung und die Augenbewegungen.

Typisches Muster spricht für Zusammenhang

Und tatsächlich: Der Vergleich ergab, dass sich die Augen der Träumenden immer dann bewegten, wenn das Areal im Schläfenlappen feuerte. "Die Hirnaktivität während des REM-Schlafs war denen sehr ähnlich, die beim Betrachten neuer Bilder im Wachzustand auftreten", berichtet Nir. "Viele Neuronen zeigten einen plötzlichen Ausbruch der Aktivität, wie er typischerweise beobachtet wird, wenn diese Zellen neue Eindrücke verarbeiten."

Nach Ansicht der Forscher spricht dies dafür, dass die Augenbewegungen beim Traumschlaf tatsächlich eng mit unseren visuellen Eindrücken im Traum verknüpft sind. Die schnellen Augenbewegungen ereignen sich demnach in dem Moment, in dem wir im Traum einem neuen Bild begegnen. "Unsere Ergebnisse sprechen dafür, dass die Augenbewegungen im Schlaf konkrete Momente der visuellen Verarbeitung widerspiegeln – ähnlich wie im Wachzustand", so Andrillon und seine Kollegen. (Nature Communications, 2015; doi: 10.1038/ncomms8884)

(NAture / American Friends of Tel Aviv University, 13.08.2015 - NPO)


Freitag, 14. August 2015

Können Menschenaffen doch sprechen?

aus scinexx

Können Menschenaffen doch sprechen?
Gorillaweibchen kann Kehlkopf und Atmung sehr wohl bewusst kontrollieren

Gorilladame Koko bringt Biologen zum Staunen. Denn sie schafft etwas, was für Menschenaffen eigentlich unmöglich galt: Sie kann ihre Atmung und ihre Laute so kontrollieren, dass sie auf Kommando husten, grunzen und pusten kann. Das aber widerlegt die Theorie, nach der Menschenaffen schon rein körperlich nicht in der Lage sind, zu sprechen oder selbst Vorformen der Sprache zu äußern, wie Forscher im Fachmagazin "Animal Cognition" berichten.

Wann lernten unsere Vorfahren zu sprechen? Bei dieser Frage liegt es nahe, bei unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen nach Hinweisen zu suchen. Doch als Forscher versuchten, Schimpansen und Gorillas das Sprechen beizubringen, scheiterten sie kläglich. Die Affen schienen nicht in der Lage, bewusste Laute zu formen. "Seither gilt die Annahme, dass Menschenaffen ihre Vokalisationen nicht bewusst kontrollieren können und auch nicht ihre Atmung", erklärt Marcus Perlman von der University of Wisconsin-Madison.

Husten, Grunzen und Pusten

Dass unsere engsten Verwandten aber durchaus intelligent genug sind, um überhaupt eine Sprache zu lernen, belegen Beispiele wie die Gorilladame Koko. Sie kommuniziert seit gut 40 Jahren mit ihren menschlichen Betreuern über die amerikanische Gebärdensprache. "Ich ging eigentlich dorthin, weil ich Kokos Gesten näher studieren wollte", erzählt Perlman. "Doch als ich Videos von ihr sah, bemerkte ich, dass sie auch ganz erstaunliche vokale Verhaltensweisen zeigte."

Das Verhalten der Gorilladame schien den angestammten Vorstellungen von nur unwillkürlichen Lauten völlig zu widersprechen. Denn Koko kann beispielsweise auf Kommando husten, ein Blasinstrument spielen, ihre Nase putzen und eine Glasscheibe anhauchen, um sie zu putzen. Das alles aber erfordert eine bewusste Kontrolle der Atmung, die bisher als unmöglich galt. Perlman ging der Sache auf den Grund und fahndete in 71 Stunden Videobeobachtungen nach weiteren verräterischen Verhaltensweisen.



"Koko ist kein Ausnahmefall"

Und tatsächlich: Er entdeckt neun verschiedene Situationen, in denen Koko auf jeweils andere Art bewusst ihre Atmung kontrollierte oder Laute ausstieß. Das Besonders daran: Alle Verhaltensweisen war angelernt und damit nicht Teil des typischen, bloß instinktgesteuerten Gorilla-Repertoires. "Sie erzeugt dabei keine so schönen und regelmäßigen Töne, wie wir es beim Sprechen tun", erklärt Perlman. "Aber sie kann ihren Kehlkopf genügend steuern, um kontrollierte, grunzende Töne hervorzubringen."

Der Forscher vermutet, dass Koko damit kein Einzelfall ist. Zwar profitiert sie davon, dass sie von Kindheit an mit Menschen zusammenlebt und daher neue Kommunikationsformen gelernt hat. "Wahrscheinlich ist sie aber nicht talentierter als andere Gorillas", so Perlman. "Der Unterschied liegt nur in ihren Umweltbedingungen. Deshalb sieht man so etwas auch nicht in wilden Gorilla-Populationen."

Vorstufe schon beim letzten gemeinsamen Ahnen?

Nach Ansicht des Biologen beweist dies, dass Menschenaffen sehr wohl zu einer bewussten Kontrolle ihrer Atmung und Lautäußerung fähig sind – entgegen der gängigen Theorie. "Nach dieser können Menschenaffen nichts tun, das auch nur halbwegs dem menschlichen Sprechen ähnelt", sagt Perlman. "Daher müsse sich die Sprache erst nach Abtrennung des Menschen vom letzten gemeinsamen Vorfahren von Schimpanse und Mensch entwickelt haben."

Doch seine Beobachtungen zeigen nun, dass Gorillas durchaus die körperlichen Voraussetzungen besitzen, um mittels kontrollierten Lauten zu kommunizieren – und damit für eine Vorstufe der Sprache. "Koko überbrückt damit einen Lücke", so der Forscher. "Sie zeigt, dass Menschenaffen unter den richtigen Umweltbedingungen zumindest eine halbwegs flexible Kontrolle über ihren vokalen Trakt erlangen können." (Animal Cognition, 2015; doi: 10.1007/s10071-015-0889-6)

(University of Wisconsin-Madison, 14.08.2015 - NPO)

Dienstag, 11. August 2015

Die Welt stirbt ab.

Ohne neue Sterne sinkt die Energiefreisetzung im All immer weiter
aus scinexx

Der schleichende Tod des Universums hat begonnen
Neue Kartierung bestätigt sinkende Energieproduktion durch Sterne im Kosmos

Die Zukunft des Universums ist düster – und das buchstäblich. Denn im Kosmos wird immer weniger Materie in Strahlung und damit in Energie umgewandelt, wie eine neue Galaxienkartierung bestätigt. Die kosmische Energieproduktion ist demnach heute nur noch halb so groß wie vor zwei Milliarden Jahren. Das Universum wird in allen Wellenbereichen immer dunkler. Damit kündigt sich schon jetzt der schleichend langsame Tod unseres Kosmos an.

Die produktivste Zeit unseres Universums liegt schon hinter ihm – zumindest was die Energieproduktion angeht. Denn der Ursprung aller Energie in unserem Kosmos ist der Urknall, durch ihn entstanden alle Strahlung und Materiebausteine. Als dann die ersten Sterne entstanden, wurde es nicht nur hell, ihre Kernfusion sorgt seither auch dafür, dass bis heute ständig neue Energie aus Materie freigesetzt wird. Basis dafür ist Albert Einsteins weltberühmte Formel E=mc2.

Sterne als Erzeuger von Licht und Energie

"Die meiste im Universum enthaltene Energie entstand zwar als Folge des Urknalls, aber zusätzliche Energie wird ständig durch die Sterne freigesetzt, indem sie Elemente wie Wasserstoff und Helium verschmelzen", erklärt Studienleiter Simon Driver vom International Centre for Radio Astronomy Research (ICRAR) in Australien. Die Sterne geben ihre Energie als Strahlung ab und sorgen so dafür, dass es im Universum hell ist.

Wie viel Energie die Sterne aber genau freisetzen, ließ sich bisher nur grob abschätzen. Denn bisherige Kartierungen von Galaxien und ihren Sternen erfassten entweder nur bestimmte Ausschnitte des Strahlungsspektrums, beispielsweise das sichtbare Licht, oder aber nur eng begrenzte Ausschnitte des Himmels, wie die Astronomen erklären.

200.000 Galaxien in 21 Wellenlängen

Dies hat sich mit dem Galaxy And Mass Assembly (GAMA) Projekt nun geändert. Denn in ihm hat das internationale Forscherteam in den letzten fünf Jahren mehr als 200.000 Galaxien in 21 Wellenbereichen des Lichts durchmustert. Sie erfassten dabei das Spektrum des Sternenlichts vom ultravioletten bis zum fernen Infrarot-Bereich mit Hilfe verschiedener erdgebundener und weltgestützter Teleskope.

"Der panchromatische GAMA Datensatz ist der größte mehre Einrichtungen umfassende Datensatz, der je zusammengestellt wurde", so die Astronomen. "Er erlaubt detaillierte Analysen der Energieproduktion und des Strahlenausstoßens einzelner Systeme, Unterpopulationen und repräsentativer Galaxienansammlungen." Für vier repräsentative Himmelsausschnitte haben die Forscher so die bisher genauesten Werte für die Energieproduktion der Sterne ermittelt.

Energieproduktion ist bereits gesunken

Ihr Ergebnis belegt, dass unser Universum schon jetzt langsam immer dunkler wird. Denn die Energieproduktion durch die Sterne hat in den letzten zwei Milliarden Jahren um rund die Hälfte abgenommen. Sie sank von 2,5 mal 10 hoch 35 Watt pro Kubik-Megaparsec vor 2,25 Milliarden Jahren auf 1,26 in der jüngsten Vergangenheit.

"Dies ist eine signifikante Abnahme, selbst wenn man die kosmische Varianz mit einbezieht", so die Forscher. Als kosmische Varianz bezeichnen Astronomen Abweichungen, die dadurch entstehen, dass nur ein begrenzter Teil des Himmels erfasst wird. Die neuen Daten bestätigen damit, dass die Energieproduktion im Universum abnimmt und belegen erstmals, dass diese kosmische Abdunklung in allen Wellenlängen vom UV bis ins Infrarot auftritt.

Dunkle Zukunft

"Von jetzt an wird das Universum immer weiter abbauen und langsam ins Alter abgleiten", sagt Driver. "Das Universum hat es sich sozusagen mit einer Decke auf dem Sofa bequem gemacht und ist kurz davor, in einem ewigen Nickerchen zu versinken." Konkret bedeutet dies, dass in Zukunft immer weniger neue, junge Sterne gebildet werden und die existierenden Sterne immer älter werden. Dadurch könnten allmählich immer mehr Lichter ausgehen – zuerst in den ältesten Galaxien des Kosmos, später auch in jüngeren.

Schätzungen gehen davon aus, dass der Kosmos schon in fünf Milliarden Jahren nur noch halb so hell sein könnte wie heute. Ob menschliche Astronomen dies noch mitbekommen werden, ist allerdings fraglich. Denn zu diesem Zeitpunkt wird sich die Sonne langsam zu einem Roten Riesen entwickeln und damit schon die Erde unbewohnbar machen. (Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, in press)

(International Centre for Radio Astronomy Research (ICRAR), 11.08.2015 - NPO)


aus derStandard.at, 10. August 2015, 22:00

Das langsame Sterben des Universums
Astronomen haben die produzierte Energie von 200.000 Galaxien vermessen und Hinweise gefunden, dass der langsame Wärmetod bereits eingesetzt hat

Honolulu/Wien – Wie das Universum einmal zu Ende gehen wird, ist alles andere als eindeutig geklärt. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass wir erstaunlich wenig über die Beschaffenheit der Dunklen Materie und der Dunklen Energie wissen. Und die haben ein gewichtiges Wörtchen mitzureden, welchen Endzustand das Universum in ferner Zukunft einmal annehmen wird.

Gegenwärtig gibt es drei denkbare Szenarien, die alle drei einen englischen Namen tragen und mit Big beginnen: Beim Big Crunch, dem großen Zusammenkrachen, versammelt sich alle Materie am Ende wieder in einem Punkt, beim Big Rip kommt es zu einer Art kosmischem Raumplatzen. Und dann gibt es noch den Big Chill, den sogenannten Wärmetod des Universums, das sich bis in alle Ewigkeit ausdehnt. Diese Annahme setzt voraus, dass es sich beim Universum um ein abgeschlossenes System handelt.

Ein internationales Forscherteam hat am Montag bei der Tagung der Internationalen Astronomischen Union in Honolulu neue Daten vorgelegt, die darauf hindeuten, dass wir uns bereits längst im großen Chillen befinden. Die Forscher um Simon Driver vom Projekt Galaxy and Mass Assembly (Gama) beobachteten immerhin 200.000 Galaxien und dabei konkret: wie viel Energie diese produzieren.

Zwar sind diese 200.000 nur ein Bruchteil der Abermilliarden von Galaxien des Universums. Doch das, was die Astronomen dabei feststellten, wies einen eindeutigen Trend auf: Diese Galaxien produzieren nur mehr die Hälfte jener Energie, die sie vor zwei Milliarden Jahren erzeugten – und zwar quer durch das gesamte Energiespektrum. Die Forscher untersuchten die Galaxien nämlich in 21 Wellenlängen von Ultraviolett bis zum fernen Infrarot.

Die gesamte Energie des Universums war beim Big Bang vor 13,8 Milliarden Jahren entstanden, ein Teil in Form von Masse, die von den Sternen in Energie umgewandelt wird. Und dieser Prozess neigt sich sehr langsam seinem Ende zu. In den bildhaften Worten von Simon Driver: "Das Universum wird langsam alt. Es hat sich gleichsam auf ein Sofa gelegt, eine Decke übergezogen und macht sich bereit für einen ewigen Schlummer." (tasch,)

Links


Montag, 10. August 2015

Farben sehen.

Sonnenbadende Eidechsen: Aus menschlicher Sicht (links) ist das Männchen (oben) einigermaßen getarnt. Aus Sicht des Weibchens (links) ist sein Muster viel auffälliger.
aus scinexx

Wie Tiere die Welt sehen
Software wandelt Bilder in das von Tieren wahrgenommene Spektrum um
Mit den Augen eines Tieres: Eine neue Software lässt uns die Welt auf völlig neue Weise sehen. Denn sie zeigt uns Farben und Muster, wie sie der Sehsinn verschiedener Tiere wahrnimmt. Das Programm rechnet dafür die Informationen der Kamera in das vom jeweiligen Tier wahrgenommene Spektrum um. Auf einfache Art können Forscher damit Signale auswerten, die die Tiere ansonsten vor uns verbergen.

Unsere Augen sind ziemlich hoch entwickelt: Menschen und die meisten Primaten nehmen die drei Grundfarben Rot, Grün und Blau wahr. Die Rezeptoren für diese Farben auf unserer Netzhaut setzen daraus das für uns sichtbare Farbspektrum zusammen. Doch das Farbensehen ist nicht überall im Tierreich gleich ausgeprägt. Die meisten übrigen Säugetiere sehen bloß blau und gelb. Für uns noch schwerer vorstellbar ist die Sicht vieler Vögel und Reptilien, die sogar vier verschiedene Farbsensoren besitzen.

Unsere Sicht der Dinge ist vorgefärbt

Völlig unsichtbar ist für Menschen der UV-Bereich – doch viele Insekten wie beispielsweise Bienen sehen auch dieses Licht. Besonders die Blüten von Blumen sind im UV-Bereich oft besonders auffällig, weil sie mit diesen Mustern UV-sehende Insekten als Bestäuber anlocken. Bei Vögeln und Reptilien sind UV-Muster ein Signal bei der Partnersuche.

Unsere Sicht der Welt ist dadurch zwangsweise vorgefärbt: Viele Details und Farbsignale anderer Tiere untereinander entgehen uns. Wie beispielsweise eine Blume aus Sicht einer Biene oder Hummel aussieht, ist für uns kaum nachvollziehbar. Doch Jolyon Troscianko und Martin Stevens von der University of Exeter haben nun ein Werkzeug entwickelt, das uns die Welt durch die Augen der Tiere sehen lässt: Die von ihnen entwickelte Software rechnet Digitalfotos in Tiersicht um.

Die Blüte von Echium angustifolium ist für Menschen einheitlich gefärbt (links), Bienen sehen Flecken im UV-Bereich (rechts).

Bilder lassen sich in Tiersicht umwandeln

"Digitale Kameras sind wirkungsvolle Werkzeuge, um Farben und Muster in der Natur aufzuzeichnen", sagt Troscianko, "aber bis jetzt war es überraschend schwer, Digitalfotos für genaue und zuverlässige Farbmessungen zu verwenden." Dieses Problem kann jeder leicht nachvollziehen: Je nach Bildschirm- oder Display-Einstellungen können Farben völlig unterschiedlich erscheinen. Sie genau zu kalibrieren ist kompliziert.

"Unsere Software erlaubt es, Bilder zu kalibrieren und in Tiersicht umzuwandeln", erklärt Troscianko. "So können wir gleichermaßen nachvollziehen, wie eine Scene für Menschen und Nicht-Menschen aussieht."

Ziel der Wissenschaftler war es, die neue Software benutzerfreundlich zu gestalten. Wenn Forscher bislang Bilder an die Sicht eines Tieres anpassen wollten, mussten sie oft verschiedene Farbräume in unterschiedlichen Schichten aufwändig selbst berechnen. Diese Arbeit nimmt die Software dem Benutzer nun weitgehend ab. Außerdem stellen die Programmierer Daten für Kameraeinstellungen für häufig untersuchte Tiere zur Verfügung, darunter Menschen, Bienen, Frettchen und einige Fische und Vögel.

UV-Bereich lässt sich einbeziehen

Um UV-Licht mit einzubeziehen, ist eine Kamera nötig, die auch diesen Bereich des Spektrums aufzeichnen kann. Zwei Aufnahmen durch unterschiedliche Filter lassen sich zu einem Einzelbild zusammenfügen, um den entsprechenden Eindruck deutlich zu machen.

"Wir hoffen, dass andere Wissenschaftler diese Open Access Software benutzen und dass sie ihnen bei der Analyse digitaler Bilder hilft", sagt Troscianko. Zum Teil hat sich diese Hoffnung bereits erfüllt: In Studien über Farbwechsel bei Strandkrabben und die Veränderung der Gesichtsfarbe bei Frauen während des Zyklus kam die Software bereits zum Einsatz. "Die Welt durch die Augen eines anderen Tieres zu sehen ist dank unserer neuen Software viel einfacher geworden", fasst Troscianko zusammen. (Methods in Ecology and Evolution, 2015; doi: 10.1111/2041-210X.12439)

Die Wissenschaftler bieten die Software frei zum Download an. Vorraussetzung ist eine Installation der OpenSource Bildbearbeitung ImageJ.

(University of Exeter, 07.08.2015 - AKR)


Nota. - Das muss mir erst noch erklärt werden: Woher kann ein Mensch wissen, wie ein Tier die Farbe empfindet, die er selber Rot nennt? Messen lässt sich, welche Sinneszellen auf welche Wellenlängen ansprechen. Aber wie dem Tier das erscheint, wer kann das sagen? Wir können wissen, dass Bienen den sogenannten Bienenpurpur im ultravioletten Bereich sehen - aber Purpur gab's schon, ihr muss es anders vorkommen. Hilfsweise 'übersetzt' man ihn mit Schwarz, aber Schwarz ist keine Farbe, sondern der vollkommene Mangel an Farbe (nämlich an Wellenlänge). Wieso sollte die Biene im ultravioletten Bereich ausgerechnet so etwas Düsteres 'wahrnehmen'? 

Ich in meiner schlichten Denkungsart bleibe dabei: "Die meisten übrigen Säugetiere" sehen nur Licht, dessen Wellenlängen uns als Blau oder Gelb erscheinen. Ob sie dabei Blau oder Gelb sehen oder womöglich eine ganz andere Farbe, als ich mir überhaupt... 'vorstellen' kann, das mag unser Herrgott wissen, und wenn es ihn gar nicht gibt, auch der nicht.
JE


Sonntag, 9. August 2015

Kuhdeutsch: Ein eidgenössisches Identitätsproblem.

aus NZZ am Sonntag, 9.8.2015

Kuhdeutsch:
Sind Schweizer alle ein wenig debil?
Bei allen anderen Fremdsprachen will der Schweizer klingen wie die Einheimischen. Nur beim Hochdeutschen kümmern wir uns kaum um eine gepflegte Aussprache. Kuhdeutsch gilt oft gar als erstrebenswert. Eine kulturelle Katastrophe.

von Reto Hunziker

Sagen Sie mal Mörchen. Haben Sie Möachen gesagt? Nicht? Dann, exgüsé, war es nicht Hochdeutsch. Das ist nicht so schlimm, wir sagen sowieso Rüebli und höchstens, wenn wir mit Deutschen reden, Karotte. Aber es ist eben trotzdem ein wenig schade. Weil wir in unserem mündlichen Sonderfalldeutsch verharren und den Ekel vor dem Hochdeutschen zementieren.

Um das schon vorweg klarzumachen: Es geht nicht um das Schweizerdeutsch, das wir zugunsten des Hochdeutschen aufgeben sollen, auch unsere schönen Helvetismen müssen wir nicht unterdrücken. Nein, wir sollten einfach etwas besser Hochdeutsch sprechen. Nicht schöner, notabene, sondern effizienter.

Es ist doch so: Wir wachsen mit deutschen Hörspielkassetten und deutschem Fernsehen auf, lesen am Gymnasium deutsche Klassiker und spielen auf Hochdeutsch Schultheater. Und doch sprechen wir nur dieses behäbige, schwerfällige, hinterwäldlerische Emil-Deutsch. Dies, obwohl wir uns immer einbilden, in Fremdsprachen nur einen leichten Akzent zu haben, und anderswo stets bemüht sind, eine Sprache möglichst so zu sprechen wie die Einheimischen.

Die meisten Deutschen glauben denn auch, sie hörten Schweizerdeutsch, wenn wir versuchen, Hochdeutsch zu sprechen. Weil es so gut ins Klischee passt: schwerfällig, leicht dümmlich, herzig. Wollen wir so klingen? Pardon: tönen? Denken Sie an all die Fremdschäm-Momente bei «Wetten dass . . .?», wenn ein Schweizer seine Wette erklärte. Da dachte sich der Zuschauer zweierlei: Sind Schweizer alle ein wenig debil? Und: Kein Wunder, muss Gottschalk da überziehen. Tatsache ist: Wir sind durch unsere Viersprachigkeit linguistisch gewieft. Die Frage ist, warum wir uns nicht bemühen.

Ein Beispiel: Ein Austauschschüler aus Australien kommt an ein Schweizer Gymnasium. Jeder reisst sich darum, mit ihm Englisch zu sprechen. Möglichst englisches Englisch. Wie nett von allen. Aber haben Sie schon einmal einen Schweizer gesehen, der es kaum erwarten konnte, mit einem Deutschen möglichst deutsch zu sprechen. Und falls doch, schämten Sie sich für ihn. Stimmt’s?

Das ist nicht angeboren, das ist anerzogen. Kinder im Vorschulalter haben ein sehr ungezwungenes Verhältnis zum Hochdeutschen: Sie imitieren jenes Hochdeutsch, das sie vom Fernsehen kennen: «Vorsicht, ein Hubschrauber!», «warte nur, ich zahl’s dir heim!» Das klingt zackig. Kein Kind lacht das andere aus, weil es das Hochdeutsch zu gut nachmacht. Das ändert sich in der Schule: Praktisch alle Lehrpersonen mit Schweizer Herkunft sprechen das notorisch-behäbige Schweizer Hochdeutsch. Und auch wenn kein Kind gezwungen wird, so zu sprechen, passen sich alle an – so viel Autorität haben Lehrer dann doch noch. Das Ergebnis ist grotesk: Wir lernen, eine Sprache schlecht zu sprechen.

Schlimmer noch: Spricht ein Schweizer in der Schweiz geschliffen Hochdeutsch – das heisst, dass er aufhört, das R zu rollen, das Ch zu kratzen und so langsam zu reden, dass man denkt, er habe Lachgas geschnüffelt –, behandeln wir ihn wie einen Landesverräter.

«Sprechen Deutschschweizer die Standardsprache so aus wie in Deutschland, fallen sie auf, und zwar häufig eher negativ», sagt Ingrid Hove, Lehrbeauftragte und wissenschaftliche Mitarbeiterin am phonetischen Laboratorium der Universität Zürich. «Ihnen wird oft vorgeworfen, sie hielten sich für etwas Besseres, sie wollten sich von den Deutschschweizern abgrenzen, gar ihre Herkunft verleugnen.» Als ob es ein Widerspruch wäre, Schweizer zu sein und gut Deutsch zu sprechen. Als ob wir mit geschmeidigem Deutsch weniger Schweizer wären.

Dabei ist es schlicht effizienter: Deutsche verschlucken Silben, nuscheln, tricksen, aber sie reden doppelt so schnell wie wir und werden dennoch verstanden. Schweizer überartikulieren Konsonanten, strecken Vokale und stocken, weil sie im Kopf ständig übersetzen müssen. Das ächzt, das kracht, das holpert. Was meinen Sie, warum Schweizer Slam-Poeten bei Auftritten ihre Werke in geschliffenem Hochdeutsch vortragen? Weil sie mit dem lahmen Schweizer Hochdeutsch weder Tempo noch Rhythmus hinbekommen.

Es ist einfach, zu beweisen, dass unser Problem mit dem Hochdeutschen auf einem verknorzten Verhältnis zu den Deutschen fusst: Geschliffenes Deutsch gilt hierzulande als anbiedernd. Doch warum wollen wir uns den Deutschen nicht anbiedern? Sie haben das Hochdeutsche erfunden, sie sprechen es am besten. Nein, wir schmollen lieber: Euer doofes Hochdeutsch könnt ihr behalten, wir wollen das gar nicht so gut können, man könnte sonst meinen, wir würden mit euch sympathisieren. Vielleicht steckt aber auch die Gewissheit dahinter, dass wir nur schwerlich so gut Hochdeutsch sprechen werden wie die Deutschen; dann lieber kapitulieren.

Doch daraus ergibt sich eine verhängnisvolle Spirale: «Grundsätzlich wollen wir beim Sprechen nicht durch unsere Sprache auffallen», sagt Ingrid Hove, «deshalb versuchen wir, möglichst ähnlich zu sprechen wie Freunde, Familie, Arbeitskollegen.» Aus dem Gruppenzwang, nicht wie die Deutschen zu klingen, ergibt sich der Gruppenzwang, im niederen Hochdeutsch zu verharren. Wir streben nach maximaler Konformität. So verraten wir nicht die Schweiz, dafür das Hochdeutsche.

Es ist nichts dagegen einzuwenden, der Hochsprache etwas Identität einzuhauchen, solange es praktisch bleibt. Doch müssen wir das Hochdeutsche zu «unserem Hochdeutsch» machen? Sprechen wir es doch lieber so wie jene, die es perfekt beherrschen. Sehen wir das Hochdeutsche als Instrument, das der Verständlichkeit dient. Es soll zweckmässig sein; und es muss nicht bezeugen, dass wir auch noch eine eigene sprachliche Identität haben.

Johannes Wyss, Präsident des Schweizerischen Vereins für die deutsche Sprache, findet nicht, dass wir wie die Norddeutschen sprechen müssen, «die Süddeutschen auf der anderen Seite des Rheins tun es ja auch nicht». Wyss meint aber: «Unser Hochdeutsch soll gepflegt sein, ohne dass starke mundartliche Merkmale durchklingen.» Behauptung: Die Allerwenigsten würden das, was in der Schweiz an Hochdeutsch gesprochen wird, als gepflegt bezeichnen.

Friedrich Dürrenmatt bezeichnet 1986 in seinem Aufsatz «zu einem Sprachproblem» das Hochdeutsche als «Vatersprache», als «Sprache des Verstandes, des Willens, des Abenteuers». Schön, nicht wahr? Im gleichen Zuge befindet er aber: «Es gibt Schweizer, die sich bemühen, ein reines Deutsch zu reden. Sie reden dann gern ein allzu schönes Deutsch. Es ist, als ob sie, wenn sie reden, bewunderten, wie sie reden.» Und weiter: «Auch ich muss immer wieder mein Deutsch finden.» Wenn selbst unsterbliche Schriftsteller Mühe mit dem gesprochenen Hochdeutsch bekunden, wie sollen wir das hinbekommen?

Wir könnten es zumindest versuchen. Als Erstes vergessen wir den faulen Vorwand, wir würden mit gutem Hochdeutsch unsere Herkunft verraten. Auf dieses Bauerndeutsch müssen wir nicht stolz sein. Ferner darf geschliffenes Hochdeutsch kein Tabu sein, und kein Schweizer darf deswegen ausgelacht werden.

Stattdessen sollten wir versuchen, ungezwungen, unverkrampft, ja gar lustvoll mit dem Hochdeutschen umzugehen. Das heisst auch üben, üben, üben. Denn wenn wir das Hochdeutsche nicht pflegen, verlernen wir es noch mehr. Zeigen wir, dass das Schweizerdeutsche unser wahrer Dialekt ist! Ihr Lehrer, Politiker, Moderatoren, macht es uns vor! Lasst uns Rababa (statt Rrabarrberr) und Blumencohl (statt Blumenchchol) sagen. Wir dürfen ruhig etwas unschweizerischer werden.


Nota. - Ein Schweizer darf das schreiben. Aber darf es ein Deutscher nachdrucken? Ist das nicht schon fast ein bisschen Kavallerie?
JE