Montag, 29. August 2016

Mathematische Abstammungslehre.

G. Biermann, Carl Friedrich Gauß
aus Der Standard, Wien,29. August 2016

Zwei Drittel aller Mathematiker entstammen 24 "Familien"
Analysen mit Daten des Mathematics Genealogy Project, der größte Datenbank zur Geschichte des Fachs, kommen zu erstaunlichen Ergebnissen

von Klaus Taschwer

Fargo – Unter all den verschiedenen Stämmen von Forschern ist jener der Mathematiker zweifellos einer der interessantesten. Ihm gehören nicht nur einige der hellsten Köpfe, sondern viele der größten Exzentriker in der Geschichte der Wissenschaften an. 

Interessant ist aber auch, wie die Fachvertreter selbst ihre geistigen Verwandtschaften und Genealogien beschreiben. Ein origineller Gradmesser ist die sogenannte Erdős-Zahl, benannt macht dem aus Ungarn stammenden Mathematik-Genius Paul Erdős (1913–1996). Erdős war einer der produktivsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts und publizierte gemeinsam mit über 500 verschiedenen Wissenschaftern. Die Erdős-Zahl gibt an, wie viele Autoren ein Forscher von einer Publikation mit Erdős "entfernt" ist. 

Durchschnittliche Erdős-Zahl von 4,65 

Er selbst hat die Zahl 0, die rund 500, die mit ihm veröffentlichten, die Zahl 1. 268.000 Wissenschafter, für welche im Rahmen des Erdős-Zahl-Projektes ein endlicher Wert ermittelt werden konnte, haben eine durchschnittliche Erdős-Zahl von 4,65. Dies rührt nicht zuletzt auch daher, dass Erdős in vielen Teilbereichen der Mathematik gearbeitet hat.



An der North Dakota State University gibt es eine etwas andere Mathematiker-Datenbank betrieben: das Mathematics Genealogy Project (MGP). Sie widmet sich der Geschichte des Fachs anhand seiner Vertreter, geht bis ins 15. Jahrhundert zurück und ist mit den Einträgen von über 200.000 Mathematikern die größte einschlägige Datenbank. 

84 mathematische Familien 

Eine neue Auswertung hat nun ergeben, dass sich die Mehrheit der Fachvertreter auf nur 84 wissenschaftliche "Familien" zurückverfolgen lassen, zwei Drittel der Fachvertreter überhaupt nur auf 24, wie ein Team um Floriana Gargiulo herausgefunden hat, die an der belgischen Universität von Naumur Netzwerkanalysen betreibt. Viele der heute tätigen Mathematiker gehen laut Gargiulos genealogischen Analysen letztlich auf Leibniz, Euler oder Gauß zurück. Der wichtigste Stammvater unter den 24 "Familien" ist aber kein Mathematiker, sondern der italienische Mediziner Sigismondo Polcastro, der im frühen 15. Jahrhundert an der Universität Padua lehrte. Er hat laut den Analysen über 56.000 Nachfahren. 

Die Zentren der Mathematik 


Gargiulo und ihre Kollegen analysierten anhand von Mathematik-Dissertationen aber auch, welche Länder zu welcher Zeit Zentren der Mathematik waren. Und dabei zeigte sich, dass bereits rund um 1920 (und nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg) die USA zur Mathe-Supermacht aufstiegen und dabei Deutschland beerbten. Ihre Berechnungen machen aber auch offensichtlich, dass Österreich-Ungarn bis zum Ersten Weltkrieg noch eine Hochburg der Mathematik war, was möglich in der starken Stellung des Fachs bis heute nachwirkt.  


Links


Nota. - Nur auf 84 Linien geht die weltweite Wissenschaft der Mathematik zurück: Widerspricht das der Auffassung, Wissenschaft sei im Wesentlichen öffentliches Wissen? Ich denke nicht; denn gerade diese 'Linien' machen die Öffentlichkeit des Fachs ja aus: Sie sind der Ort, wo das Wissen gesammelt, geprüft und das Verkehrte ausgeschieden und das Bewährte überliefert wird. So besehen, ist die Zahl 84 gar nicht wenig, sondern eine ganze Menge! Denn die konkurrieren mit einander, wer sich bei der einen nicht zu Hause fühlt, wendet sich an eine andere...
JE

Donnerstag, 25. August 2016

Lamarck kann Darwin doch nicht verdrängen.


aus Süddeutsche.de, 22. August 2016, 09:55 Uhr

Konterrevolution der Darwinisten 
Was Eltern erleben, kann an ihre Kinder vererbt werden, behaupten Verfechter der Epigenetik. Beobachten wir eine Revolution in der Biologie - und eine Abkehr von der Evolutionstheorie? 

Von Markus C. Schulte von Drach

Seit einigen Jahren geistert ein Begriff durch die Medien und Fachpresse, der für bahnbrechende Erkenntnisse von Biologen und Medizinern stehen soll: Epigenetik. Häufig wird von einer "Revolution" oder einem "Paradigmenwechsel" gesprochen, oder davon, dass Lehrbücher umgeschrieben werden müssten. An Universitäten taucht die Epigenetik als Fach immer häufiger auf, Lehrstühle tragen ihn inzwischen im Namen. Aber es gibt auch Zweifel daran, dass die neuen Erkenntnisse tatsächlich so bahnbrechend sind. Haben wir es vielleicht nur mit einem Hype zu tun?

Tatsächlich wirken die Ergebnisse mancher epigenetischer Untersuchungen spektakulär: So sollen Erfahrungen, die Tiere oder Menschen im Laufe ihres Lebens gemacht haben, sich auf deren Nachwuchs auswirken können - und zwar manchmal sogar dann, wenn sie stattfanden, bevor der Nachwuchs gezeugt und ausgetragen wurde.

Erste Hinweise auf diesen Effekt beim Menschen beobachteten Wissenschaftler der Universität von Umeå anhand von Bevölkerungsregistern einer Provinz im Norden Schwedens: Enkel von Männern, die im 19. Jahrhundert unter Nahrungsmangel gelitten hatten, hatten eine etwas höhere Lebenserwartung als die von gut versorgten Großvätern.

Verschiedene Untersuchungen insbesondere der Universitätsklinik in Amsterdam konnten zeigen, dass Kinder von Müttern, die während des Hungerwinters (Hongerwinter) 1944/45 in Holland mit ihnen schwanger waren, ein erhöhtes Risiko für Übergewicht, Herzprobleme, Diabetes und andere Probleme besaßen und außerdem kleiner waren als der Durchschnitt. Erst im vergangenen Jahr berichteten Forscher vom Mount Sinai Hospital in New York, dass Kinder von jüdischen Holocaust-Überlebenden mit Posttraumatischer Stress-Störung nicht nur anfälliger für entsprechende psychische Probleme seien als andere Kinder. Auch die Aktivität eines bestimmtes Gens, das mit der Stressverarbeitung zusammenhängt, wies eine auffällige Regulation auf. In einer Vergleichsgruppe konnten die Effekte nicht beobachtet werden. Traumata würden an Kinder vererbt, meldeten viele Medien daraufhin. 

Eine Untersuchung an Enkeln der Hungerwinter-Mütter zeigte dann, dass deren Söhne eher dicken Nachwuchs hatten. Die Erfahrung der Großmütter wirkte sich also sogar bis in die übernächste Generation aus. Für die Kinder der Töchter ließ sich ein solcher Effekt allerdings nicht nachweisen. Frühere Studien mit etwas anderen Ergebnissen hatten sich lediglich auf eine Befragung der Eltern gestützt und sollten deshalb vorsichtig interpretiert werden.

Zu diesen Studien kommt eine ganze Reihe von Experimenten vor allem an Mäusen und Ratten, die etwa zeigen, dass gestresste Jungtiere später selbst Nachwuchs bekommen, der sich verhält, als hätte er selbst ebenfalls Stress erfahren.

Plötzlich ist Lamarck wieder im Gespräch

Spektakulär sind diese Ergebnisse, weil sie grundlegende Annahmen der Evolutionstheorie nach Charles Darwin infrage zu stellen scheinen. Dieser sagt vereinfacht ausgedrückt: Organismen bilden auf der Grundlage ihrer Gene bestimmte Merkmale aus. Durch Mutationen können unter dem Nachwuchs veränderte oder neue Merkmale auftreten, die über die Gene dann an die folgenden Generationen weitergegeben werden. Erweist sich eine solche Veränderung in einer bestimmten Umwelt für ihren Träger als Vorteil, breiten sich die betreffenden Gene in einer Population eher aus (Selektion). So können sich aus einer Spezies neue Arten entwickeln.
Doch durch die neuen Erkenntnisse taucht nun eine längst als überholt geltende Vorstellung wieder aus der Versenkung auf: Der Lamarckismus aus dem 19. Jahrhundert. Klassisches Beispiel ist die Giraffe. Deren langer Hals sollte sich dem französischen Wissenschaftler Jean-Baptiste Lamarck zufolge dem Strecken nach Blättern hoher Bäume verdanken. Der deshalb ein wenig verlängerte Hals der Eltern hätte sich dann auf die Jungen übertragen, die ihrerseits durch das Strecken weiter zugelegt hätten und so fort.
Spektakulär wirken die Erkenntnisse der Epigenetik auch, weil sie Eltern Verantwortung für ihren Nachwuchs in neuen Dimensionen aufzuladen scheinen. Denn wir müssen uns nun fragen, wie sehr unsere Kinder unter unserem Verhalten werden leiden müssen - etwa weil wir uns falsch ernährt, geraucht, Alkohol getrunken oder uns zu wenig bewegt haben. Dazu kommt, dass in der Diskussion "Gene oder Umwelt" (Nature versus Nurture) die Gene als Grundlage aller Eigenschaften an Boden verlieren, weshalb sich neben den Biologen auch Mediziner und Sozialwissenschaftler für die Epigenetik interessieren. So beschäftigt sich etwa die Krebs- und die Genderforschung mit dem Thema.

Was ist wirklich neu an der Epigenetik?

Doch mit der Begeisterung nimmt auch die Kritik an der Interpretation der wissenschaftlichen Studien und den Berichten darüber zu. Zum einen ist die Epigenetik als Forschungsgebiet nicht neu. Alles "jenseits der Gene" oder "um sie herum" (wie sich Epi-Genetik übersetzen lässt) untersuchen Wissenschaftler schon seit der Entdeckung der DNA unter dem Begriff Genregulation.
Schon lange ist klar, dass in spezialisierten Körperzellen nur ganz bestimmte Gene überhaupt aktivierbar sein dürfen und diese Festlegung an Tochterzellen "vererbt" wird. Nur so entstehen in einer wachsenden Leber ausschließlich weitere Leberzellen, und im Nervengewebe nicht etwa Muskelzellen, obwohl sämtliche Körperzellen grundsätzlich mit identischem Erbgut ausgestattet sind.
Dass die Ernährung oder andere Umwelteinflüsse die Gen-Expression - also das Lesen der Gene - bestimmter Körperzellen beeinflussen, ist ebenfalls schon lange klar. "Das Sandwich, das Sie gerade gegessen haben, hat die Gen-Expression ebenfalls geändert", schreibt etwa der britische Genetiker Adam Rutherford im Guardian.
Ohne langfristige Wirkung von Umwelteinflüssen auf die Genregulation wäre auch nicht vorstellbar, wie eineiige Zwillinge zu den unterschiedlichen Individuen heranwachsen können, die sie meist sind, oder wie frühkindliche Traumata zu einer Anfälligkeit etwa für Depressionen bei Erwachsenen führen könne.
Inzwischen sind auch einige an der Genregulation beteiligte Moleküle gut untersucht: die Histone, um die die DNA-Stränge gewickelt sind, Methylgruppen und bestimmte RNA-Moleküle. Das hat dazu geführt, dass sich für dieses Teilgebiet der Genregulation der Begriff Epigenetik durchgesetzt hat.

Überzeugende Ergebnisse in Modellorganismen
Relativ neu - und tatsächlich aufregend - ist allerdings die Beobachtung, dass epigenetische Regulierungen selbst das Erbgut in Eizellen und Spermien betreffen, die an den Nachwuchs weitergegeben werden können. Das ist eigentlich schwer vorzustellen, denn Geschlechtszellen werden "gesäubert": Epigenetisch wirksame Moleküle werden von der DNA entfernt, damit aus diesen Zellen im Embryo wieder alle verschiedenen spezialisierten Zelltypen entstehen können. Wie sollen erworbene Eigenschaften dann an kommende Generationen weitergegeben werden?
Seit Längerem wissen Forscher aber, dass Umweltfaktoren bei Pflanzen und manchen niederen Tieren genau dazu führen können. So steigt die Lebenserwartung bei Fadenwürmern der Art Caenorhabditis elegans durch bestimmte Eingriffe in ihre Genregulation. Der Effekt zeigt sich auch noch bei ihren Nachfahren bis in die dritte Generation, dann verschwindet er.
Die bereits erwähnten Experimente an Nagetieren haben gezeigt, dass auch bei ihnen epigenetische Vererbung über Generationen stattfinden kann. Gut belegt hat das etwa Isabelle Mansuy, Professorin für Neuroepigenetik an der Universität in Zürich. Ihr Team löste durch Stress bei jungen Mäusemännchen "depressives" Verhalten aus, das sich dann auch bei deren nicht gestresstem Nachwuchs zeigte. Dann entnahmen die Forscher den Spermien der gestressten Mäusemännchen bestimmte RNA-Moleküle (microRNAs), die an der Genregulation beteiligt sind, und spritzte sie in bereits befruchtete Eizellen fremder Weibchen. Die daraus hervorgegangenen Jungen verhielten sich ebenfalls, als wären sie gestresst worden - und ihr Nachwuchs ebenfalls.
"Es ist eine falsche Annahme, dass während der Entwicklung das ganze Genom gesäubert wird", sagt Mansuy. "Für viele Gene wird das epigenetische Profil gelöscht, aber nicht für alle." Die Idee der Reprogrammierung sei fälschlich verallgemeinert worden. "Das ist ein großes konzeptuelles Problem, das den Fortschritt in der Biologie gebremst hat, weil viele Menschen zu Unrecht glaubten, Gene würden alles machen, und den Einfluss der Umwelt ignorierten."
Trotz solcher überzeugenden Studien bleiben unzählige Fragen zu den Mechanismen epigenetischer Vererbung über Generationen hinweg offen. Und bei manchen der beobachteten Effekte, etwa Depression oder Übergewicht, ist schwer vorstellbar, dass sie einen evolutionären Vorteil haben könnten.
Immerhin sind nicht alle epigenetischen Effekte nachteilig, sagt Mansuy. "Einige Ernährungsweisen früh im Leben können die Gesundheit und Lebenserwartung verbessern. Und auch traumatischer Stress kann positive Verhaltensanpassungen gegenüber herausfordernden Situationen bewirken."

Zweifel an der Bedeutung für den Menschen
Eine Reihe von Wissenschaftlern bezweifelt allerdings, dass bei Menschen epigenetische Vererbung über Generationen tatsächlich stattfindet - trotz der Studien. Umso fragwürdiger ist es, wenn Studienergebnisse an Nagetieren in den Medien immer wieder dargestellt werden, als ließen sie sich auf Menschen übertragen.
Die Studie an den Holocaust-Überlebenden und ihren Kindern etwa löste erhebliche Kritik aus. So wies Ewan Birney vom European Bioinformatics Institute im englischen Cambridge im Guardian auf "so viele Fehler" in der Arbeit hin, "dass sie es gar nicht erst bis zur wissenschaftlichen Veröffentlichung hätte schaffen sollen". So sei die Zahl der untersuchten Holocaust-Überlebenden mit 32 "absurd klein", die Kontrollgruppe war mit lediglich acht Personen noch kleiner und auch die Zahl der berücksichtigen Gene reichte Birney zufolge nicht aus.
Auch der Evolutionsbiologe Jerry Coyne von der University of Chicago und derGenetiker John Greally vom Center of Epigenomics am Albert Einstein College of Medicine in New York legten umgehend und ausführlich dar, wieso sie so überhaupt nichts von der Studie halten. (Eine umfassende Darstellung ihrer Kritik auf Deutsch hier)
"Ich denke, wir müssen offen für die Idee sein, dass es Generationen übergreifende Vererbung gibt, die von etwas anderem vermittelt wird als von der DNA-Sequenz", sagte Greally der SZ. "Aber bislang gibt es keine Beweise für dieses Phänomen beim Menschen."
Steven Henikoff, der am Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle Genregulation erforscht, ist ebenfalls skeptisch: "Ich nehme diese Studien nicht ernst, weil in keiner streng genug getestet wurde." Außerdem ließen sich die Ergebnisse immer leichter auf konventionelle Weise erklären. So wiesen etwa die Autoren der Studie zu den Enkeln der niederländischen "Hongerwinter"-Mütter ausdrücklich darauf hin, dass die von ihnen gefunden Effekte auf Umweltfaktoren zurückgeführt werden könnten. Henikoff zufolge könnten dahinter etwa schlechte Ernährungsgewohnheiten der Eltern stecken, die sich auch auf ihre Kinder ausgewirkt hätten.
Wichtige medizinische Erkenntnisse erwarten diese Wissenschaftler vorerst nicht von der epigenetischen Forschung. Greally zufolge leiden die meisten Studien, die versuchen, Krankheitsursachen im Epigenom zu finden, "an etlichen Problemen in Design und Durchführung, die ihre Interpretierbarkeit stark beeinträchtigen", stellte er kürzlich gemeinsam mit Ewan Birney und George Davey Smith von der University of Bristol im Fachmagazin Plos Geneticsfest. So sei es etwa schwierig, eindeutig zu bestimmen, ob der Zustand einer untersuchten epigenetischen Regulierung tatsächlich eine mögliche Ursache oder doch Folge einer Krankheit ist.
Henikoff kann sich darüber hinaus "keinen Weg vorstellen, wie man ohne Experimente an Menschen - die sich schließlich verbieten - feststellen will, was Natur und was Umwelt ist." Seiner Meinung nach ist es schon schwierig genug, überzeugend zu zeigen, ob eine bestimmte Ernährung Vor- oder Nachteile hat, trotz epidemiologischer Studien. Wie viel schwieriger dürfte sei es dann sein, zu zeigen, dass ein Verhalten auch Effekte auf zukünftige Generationen hat. "Stellen Sie sich einen randomisierten klinischen Versuch vor, um etwa zu prüfen, ob Butter gut oder schlecht ist für Ihre Enkel und Ur-Enkel."
Isabelle Mansuy dagegen betont die Möglichkeiten der Epigenetik zum Verständnis von Krankheiten und deren Behandlung. "Das Gebiet wird neue Fortschritte ermöglichen. Beim Krebs hat sie das schon getan." So stünden dank epigenetischer Erkenntnisse etwa die Medikamente 5-Azacytidin und Decitabin zur Verfügung, die vor allem bei Patienten mit Myelodysplastischem Syndrom (MDS) eingesetzt werden, einer Vorstufe der Leukämie. Die Substanzen heben die Blockade bestimmter Gene auf, wodurch sich die Lebenserwartung um einige Monate erhöhen lässt.

Revolution oder nicht?
Haben wir es also nun mit einer Revolution oder einem Paradigmenwechsel in der Genetik zu tun, und ist Lamarcks Idee wiederauferstanden? "Ich denke, es ist ein revolutionäres Gebiet", sagt Mansuy. "Die Bedeutung der epigenetischen Vererbung ist ein extrem wichtiges Phänomen."
Ihrer Meinung nach ist sie auch für die Evolution essentiell, da sie rasche Anpassung an die Umwelt erlaube. Langfristig seien vielleicht Veränderungen im Genom notwendig. "Aber auch einige epigenetische Veränderungen können stabil und permanent sein. Und es gibt eine Theorie, der zufolge epigenetische Veränderungen wiederum genetische Veränderungen auslösen können - und so einen Beitrag zur klassischen Evolution leisten."
Molekularbiologe Henikoff aus Seattle dagegen rechnet zwar mit neuen Einsichten in die Biologie. "In Bezug auf manche Pflanzen oder einfache Tiere können die Erkenntnisse sogar revolutionär sein." Aber für die Biologie insgesamt "gibt es da keine Revolution". Auch Lamarcks Theorie werde nicht wieder auferstehen. "Im Großen und Ganzen können wohl nur Mutationen im Erbgut selektiert werden, aber keine Epimutationen, die nur die Regulation betreffen. Und das ist Darwinismus."

 
Nota. - Eine Entdeckung wird - mit Geburtsdatum und den Namen der Eltern - ins Standesregister der Wissenschaft eingetragen, sobald sie veröffentlicht ist. Dass eine Entdeckung ausposaunt wird, die der Überprüfung nicht standhält, ist für den Forscher blamabel, und das wird er vermeiden, wenn er klug ist. Dass aufgeweckte Kollegen und erst recht die interessierte Laienwelt eilige Schlussfolgerungen ziehen, die ihrerseits Anlass zu Experimenten geben, die dann doch nicht klappen, kann er nicht vermeiden. Warum auch? Auch ein gescheitertes Experiment ist ein wissenschaftliches Ergebnis. 

Es gibt wissenschaftliche Entdeckungen, die nicht nur für die Wissenschaft bedeutsam sind, sondern für das mehr oder weniger herrschende Weltbild. So in diesem Fall. Die Evolutionslehre ist kompliziert genug, sie hat schließlich Gregor Mendel verdauen müssen, und es wird noch manches Einerseits-Andererseits hinzu-kommen. Das wird jedesmal für Aufregung sorgen, und das ist auch gut so.
JE

Im Schlaf lernen heißt erst einmal: vergessen können.

Beuren, Schlafende Jünger
aus scinexx

Gehirn räumt im Schlaf auf
Schwächung von Synapsen schafft Platz für Neues

Nächtliches Löschen: Im Schlaf beseitigt unser Gehirn überschüssige Verbindungen zwischen Nervenzellen. Erst das schafft Platz für Neues – und unser Denkorgan kann tagsüber wieder flexibel auf Informationen reagieren. Fehlt dagegen der Schlaf, können Synapsen nicht verstärkt oder neu aufgebaut werden, berichten die Forscher im Fachmagazin "Nature Communications". Die Folge: Wir lernen schlechter.

Im Schlaf schafft unser Gehirn Platz für Neues.

Gesunder Schlaf ist lebenswichtig: Der Körper braucht die Schlafphasen, um sich zu erholen und zu regenerieren. Auch das Gehirn nutzt diese Zeit effektiv. Es sortiert nachts all jene Dinge, die wir tagsüber gelernt haben und legt mit dem Abspeichern von Erinnerungen den Grundstein für Lernprozesse. Erst beim Schlafengehen gelangen neue Erkenntnisse vermutlich vom Arbeits- ins Langzeitgedächtnis.



Doch unser Denkorgan beschäftigt sich im Schlaf nicht nur mit neuen Dingen – es schafft auch Altes aus dem Weg. So deuten Studien an Mäusen daraufhin, dass das Gehirn während der Nacht regelrecht aufräumt und dabei molekulare Abfallstoffe ausschwemmt. Wissenschaftler um Marion Kuhn vom Universitätsklinikum Freiburg haben nun erstmals gezeigt, dass sich auch beim Menschen im Schlaf Aufräumprozesse abzuspielen scheinen.

Hohe Synapsenaktivität nach Schlafmangel

Die Forscher untersuchten für ihre Studie die Gehirnaktivität von zwanzig Probanden – einmal nach einer ausgedehnten nächtlichen Ruhephase und ein weiteres Mal nach Schlafentzug. Dafür reizten sie mithilfe einer Magnetspule über dem Kopf der Teilnehmer einen Bereich des Gehirns, der für die Steuerung eines Daumenmuskels zuständig ist. Außerdem werteten sie die unterschiedlichen Frequenzen der Hirnströme mittels Elektroenzephalografie-Messungen (EEG) aus.

Dabei zeigte sich: Nach einer Nacht ohne Schlaf bedurfte es eines deutlich schwächeren Reizes um eine Kontraktion des Muskels auszulösen als nach erholsamem Schlaf. Für die Wissenschaftler ist das ein Zeichen dafür, dass die Synapsen bei Schlafentzug auch nachts auf Hochtouren laufen und deshalb leichter erregbar sind. Schlaf dagegen scheint sie zu schwächen. Auch die Hirnströme deuteten auf eine höhere Gehirnaktivität nach Schlafentzug hin: Der Erholungsmangel führte zu einem deutlichen Anstieg sogenannter Theta-Wellen – ein weiteres Anzeichen erhöhter synaptischer Gesamtstärke, wie die Forscher berichten.

Löschen macht das Gehirn wieder fit

Weitere Experimente offenbarten, dass sich die kontinuierlich hohe Aktivität der Synapsen während der Nacht negativ auf die Verarbeitung neuer Informationen am Tag auswirkt. Im Verhaltenstest schnitten die übermüdeten Teilnehmer schlechter beim Neulernen von Wortpaaren ab und auch ihre Blutwerte waren auffällig: Nach Schlafentzug war der Spiegel des Wachstumsfaktors BDNF niedriger als nach erholsamem Schlaf. Dieser Botenstoff fördert die Neuverknüpfung von Nervenzellen.

Neue Verbindungen aufbauen und stärken zu können, ist Kuhn und ihren Kollegen zufolge für die Funktionsfähigkeit des Gehirns und vor allem für die sogenannte synaptische Plastizität von besonderer Bedeutung. Doch dies gelingt nur, wenn bereits bestehende Verbindungen zwischen Nervenzellen geschwächt werden: Indem es alte, unwichtig gewordene Verknüpfungen löscht, wehrt sich unser Denkorgan gegen Überladung und kann auf neue Reize adäquat reagieren.

Neuer Ansatz für Therapien?

"Es ist anzunehmen, dass praktisch alle Funktionen des Gehirns dadurch beeinflusst werden, wie etwa Emotionsregulation, Konzentration oder Lernen", sagt Kuhns Kollege Christoph Nissen. Die Ergebnisse des Teams belegen erstmals, dass Schlaf diesen wichtigen Platz für neue Informationen schafft. "Wird dieser Prozess durch Schlafmangel unterbunden, gerät das Gehirn in einen Sättigungszustand. Synapsen können dann nicht mehr ausreichend verstärkt oder neu aufgebaut werden. Entsprechend schwer fallen auch Lernen und flexible Informationsverarbeitung", so Nissen.

Die neuen Erkenntnisse könnten den Wissenschaftlern zufolge auch zur Entwicklung neuer Therapien beitragen. Bei Erkrankungen wie depressiven Störungen oder nach einem Schlaganfall ist es wichtig, synaptische Verschaltungen im Gehirn zu verändern. Hierzu könnte unter anderem eine gezielte Beeinflussung des Schlaf-Wach-Verhaltens genutzt werden, schließt das Team. (Nature Communications, 2016; doi: 10.1038/ncomms12455)

(Universitätsklinikum Freiburg, 24.08.2016 - DAL)



Sonntag, 21. August 2016

Was uns Lemuren lehren.

Sie, die nach den Schattengeistern der Toten benannt wurden, gibt es seit 60 Millionen Jahren auf Madagaskar, nur dort. Wie kamen sie hin?


















 aus Die Presse, Wien, 21.08.2016  

Lemuren als Lichtbringer
Die Besiedelung Madagaskars ist voller Rätsel. Viele Bewohner mussten über das Meer, Tiere kamen vom Westen, Menschen weit aus dem Osten.

von Jürgen Langenbach

Trinkfest sind sie, die Fingertiere, Angehörige jener Primaten, die seit etwa 60 Millionen Jahren auf Madagaskar leben – nur dort –, und ihrer nächtlichen Lebensweise und ihres spukhaften Aussehens wegen von Linné nach den römischen Schattengeistern der Verstorbenen benannt wurden: Lemuren. Bei den Fingertieren ist es mit dem Namen einfacher: Ihre Finger ziehen sich in eine Länge, die grotesk anmutet, aber einen guten Grund hat: Mit ihnen klopfen sie morsches Holz auf Maden ab und holen sie heraus, deshalb heißen sie auch Primaten-Spechte. Aber sie schätzen auch anderes, den Nektar vom Baum der Reisenden etwa.

Der wird von den Fingertieren bestäubt, mit den Fingern, an denen klebt dann die Belohnung, der zuckerhaltige Saft, oft vergoren: Alkohol. Den mögen sie, Samuel Gochman (Dartmouth College) hat es getestet: Höherprozentiges wird bevorzugt (Royal Society Open Science 19. 7.). Die Fingertiere vertragen das, weil sie von ADH4, einem alkoholabbauenden Enzym, eine Variante haben, die die Effizienz um das 40-Fache erhöht. Diese Variante haben auch die großen Affen und wir, da kam sie mit dem Verzehr von vergärendem Obst. Wozu sie bei den Fingertieren kam, war umstritten, nun ist es geklärt.

So weisen sie mit ihren langen Fingern bzw. ihrer höchst spezialisierten Ernährung auf eines der großen Rätsel ihrer Heimat: Dort gibt es nur vier Ordnungen von Säugetieren, aber die haben sich in unzählige Arten aufgespalten und jede Nische genutzt, bei den anderen Landtieren ist es ebenso. Und: Alle sind klein. Große haben den Weg nicht geschafft, Gazellen oder Löwen etwa, nur das Zwergflusspferd kam auf die Insel, es ist ein guter Schwimmer.

Die Lemuren sind keine, wie kamen sie und die anderen? Madagaskar, die viertgrößte Insel der Erde, liegt 430 Kilometer vor Afrika, und das seit etwa 120 Millionen Jahren, da zerbrach der Superkontinent Gondwana. Primaten gab es noch nicht. Und eine spätere Landverbindung gab es auch nicht, zumindest gibt es keine Belege dafür, und wenn es doch eine gegeben hätte, hätten auch größere Tiere sie genutzt. Bleibt der Seeweg. Ihn schlug 1915 der Paläontologe William Matthew vor, später baute George Simpson es zur Glücksspiel-Hypothese aus: Höchst selten sei es Tieren gelungen, den weiten Weg auf Treibholz zu überleben.

Aber das geht nicht, der Geografie und der Meteorologie wegen: Madagaskar liegt östlich von Afrika, die Winde blasen in die Gegenrichtung, mit den Meeresströmungen ist es ebenso. Dieser gordische Knoten wurde erst 2010 gelöst, von einem Klimatologen, Matthew Huber (Purdue): Afrika und Madagaskar lagen vor 60 Millionen Jahren viel weiter im Süden, 1650 Kilometer, dann wanderten sie. Das fütterte Huber in Klimamodelle – und die zeigten, dass Winde und Meeresströmungen früher bzw. im Süden in die richtige Richtung gingen, es blieb so bis vor 20 Millionen Jahren, da schloss sich das Zeitfenster (Nature 453, S. 653).

Einwanderer aus Borneo.

20 Millionen Jahre? Einen Inselbewohner gab es da auch noch nicht, er erhob sich erst vor fünf, sechs Millionen Jahren und in Afrika zum aufrechten Gang. Wann und wie kam er auf die Insel? Auf der geht es nicht nur bei Tieren wunderlich zu, Madagassen spielen etwa das Xylofon. Und all ihre Dialekte haben einen austronesischen Kern. Das Xylofon stammt aus Südostasien, dort spricht man auch den Dialekt, in Borneo, im Inselinneren, Seefahrer gab es da nie. Das war der nächste gordische Knoten.

Aber Seefahrer brauchte es nicht: Als im Zweiten Weltkrieg Schiffe bei Indonesien versenkt wurden, tauchten Wrackteile später 6500 Kilometer weiter im Westen auf, an der Küste Madagaskars, sogar ein Rettungsboot samt Überlebendem trieben Wind und Strömung dorthin. So könnte es um das Jahr 200 v. Chr. auch gewesen sein, als die ersten Siedler kamen: Die Indizien der Instrumentengeschichte und Linguistik wurden von Marrey Cox (Massey University) in einer Genanalyse bestätigt: Die Einwanderer waren eine kleine Gruppe mit etwa 30 gebärfähigen Frauen aus Indonesien (Proc. Roy. Soc. B 2012.0012). Das erhärtete Alison Crowther (Brisbane) gerade mit einer Genanalyse der Nutzpflanzen: Auch sie stammen aus Indonesien, Reis, Bananen, Kokosnüsse, Mungobohnen (Pnas 30. 5.). Etwas später als die Ostasiaten kamen auch Afrikaner. Und was taten sie alle als Erstes? Das Gleiche, was Menschen überall taten, wo sie hinkamen: Sie rotteten die großen Tiere aus. Manche gab es doch auf Madagaskar, zu Riesen gewordene Lemuren und fluglos gewordene Vögel, drei Meter hoch, 400 Kilo schwer: Elefantenvögel. Die überlebten die Ankunft der Siedler nicht lang, aber sie hinterließen etwas, Eierschalen. Auch die Gene darin sind analysiert, von Michael Bunce (Perth), vielleicht kann man die Tiere wieder erwecken (Proc. Roy. Soc. B 277, S. 1991).

Und was taten die Menschen sonst? Überliefert ist es nicht, aber Lemuren können helfen: Heute ist Madagaskar im Osten und Westen bewaldet, im Zentrum eher offenes Grasland. Es gibt den Verdacht, dass großflächig gerodet wurde. Aber Mäuselemuren sprechen den Menschen frei: Sie leben in Wäldern, und sie wanderten zwischen den Küsten, auch dazu brauchen sie Wald. Der wich vor 50.000 Jahren, Anne Yoder (Duke) hat es in den Genen der Lemuren gelesen: Die wanderten dann nicht mehr, der Wald war weg, wohl durch einen Klimawandel (Pnas 18. 7.).

Und noch etwas bezeugen Lemuren: Auf Madagaskar gibt es keine Giftschlangen. Die haben der Snake Detection Theory zufolge anderswo für die Entwicklung der Primaten bis zum Menschen gesorgt: Sie hätten zum Wahrnehmen der Gefahr die Augen nach vorn gerichtet und geschärft und das Gehirn vergrößert und in ihm ein Gefahrenzentrum („fear module“) eingerichtet, das Pulvinar (Journal of Human Evolution 51, S. 1). Alle Primaten haben es, nur die Lemuren nicht, sie brauchten es nicht. Vielleicht löst das noch ein Rätsel der Insel: Ein früher Lemur, Hadropithecus stenogratus – ein Gigant mit 100 Kilo, heutige Lemuren haben maximal sechs –, hatte einen Schädel, der stark an den eines unserer Ahnen erinnert: Homo erectus. Der erhob sich, vielleicht auch des besseren Blicks auf Schlangen wegen, Hadropithecus tat es nicht, er blieb Lemur.


Nota. - Das Interessanteste steht im letzten Absatz, deshalb bringe ich den Artikel: Von der Rolle der Giftschlangen bei der Hominisation erfahre ich hier zum ersten Mal. Man lernt nie aus.
JE



Samstag, 20. August 2016

Der Anfang der Mathematik?

aus Süddeutsche.de, 18. August 2016, 20:35 Uhr                                                                   Ishango-Knochen, 22 000 Jahre alt

Primzahlen auf dem Kerbholz
Archäologen finden ein paar Kerben auf einem 22 000 Jahre alten Knochen und deuten sie als erste Rechenkünste. Die große Frage lautet nun: Wann begann das mathematische Denken?

Von Hubert Filser

Die große Zahl der Kerben auf dem kleinen Knochen fällt sofort auf 168 Vertiefungen sind es insgesamt. In drei Spalten sind sie geordnet und darin jeweils in kleinen Gruppen zusammengefasst. In der ersten Spalte finden sich hintereinander 3 und 6, 4 und 8, 5 und 10, jeweils eine Zahl und das Doppelte davon. Am Ende der Spalte folgen noch 5 und 7, zwei Primzahlen. Noch überraschender ist die zweite Spalte: Hier finden sich 11, 13, 17, 19 Kerben. Es sind sämtliche Primzahlen zwischen 10 und 20, in der Summe ergeben sie die Zahl 60. Auch die Kerben der dritten Spalte mit den Werten11, 21, 19, 9 ergeben zusammen 60.

Nur zehn Zentimeter ist dieser unscheinbare, bräunlich schimmernde Knochen mit der kleinen Kristallspitze lang. Archäologen fanden ihn in den 1950er-Jahren nahe dem Edward-See unweit des Äquators an der Grenze zu Uganda, dort, wo auch der Nil einen seiner Ursprünge hat. Nach einem Fischerdorf benannt, ist der Ishango-Knochen das älteste bekannte Zeugnis einer mathematischen Kultur. Ein Hinweis darauf, dass Menschen vor 22 000 Jahren bereits elementare Arithmetik beherrscht haben könnten.


Was könnten die Menschen im Herzen Afrikas damit angefangen haben? Berechneten sie Mengen, verdoppelten Zahlen, teilten, addierten und subtrahierten? Warum ergaben die Kerben in zwei Spalten die Zahl 60, in der dritten 48? Heute ist der wertvolle Fund im Naturhistorischen Museum in Brüssel zu sehen. Niemand kann sagen, ob die Primzahlen darauf Zufall sind oder eine Bedeutung hatten. Unwahrscheinlich ist jedoch, dass jemand einfach nur Kerben einritzte wie in eine Strichliste, dafür ist er zu komplex.

Womöglich verbreitete sich die Arithmetik von Afrika aus über den Nil nach Europa

Für einfache Kerbknochen oder Kerbhölzer gibt es ältere Hinweise, ein Wolfsknochen aus dem tschechischen Ort Dolní Věstonice mit einem Alter von etwa 30 000 Jahren, der lediglich Kerben ohne Struktur aufweist. Solche Vertiefungen nutzten die Menschen, um nicht mehr überschaubare Dinge zu zählen, ihre Speere oder Schafe. Dafür waren auch Knoten in Schnüren aus Leinfasern oder Leder geeignet, in Südamerika nutzten die Inka Zählschnüre.


 Etrurien, 7000 v. Chr.

Der Ishango-Knochen ist bereits deutlich komplexer, er markiert wohl den Anfang der Arithmetik, die Menschen begannen, mit Zahlen zu rechnen - und das mitten in Afrika. Vermutlich erkannte damals niemand die ungeheure Bedeutung der Primzahlen, die Mathematiker noch heute faszinieren und die immer noch große Rätsel aufgeben. Man denke nur an die Riemann'sche Vermutung, die die Verteilung der Primzahlen betrifft, oder ihre Bedeutung für die modernen Verschlüsselungstechnologien. Der Anfang wurde womöglich vor22 000 Jahren gemacht.

Es sind Vielfache von 10 plus und minus 1

Wer sich intensiver mit den Kerben beschäftigt, stößt auf interessante Details. Hinter den Zahlen der dritten Spalte beispielsweise steckt auch ein System: Es sind Vielfache von 10 plus und minus 1. Und die Primzahlen aus Spalte zwei lassen sich auch als Bestandteile eines Sechsersystems lesen, als Vielfache von sechs plus und minus 1. Beides zusammen verweist auf das Dezimal- und das Duodezimalsystem, auf zwei bis heute wichtige, sogenannte Stellenwertsysteme mit Basis 10 und Basis 12, und auf das Sexagesimalsystem mit der Basis 60, das heute noch in der Messung von Winkeln und der Zeit üblich ist.

Ein weiteres Indiz dafür, dass sich Menschen vor 22 000 Jahren bereits mit diesen Systemen beschäftigten, ist ein zweiter, etwas größerer Knochen aus Ishango mit insgesamt 90 Markierungen. Zwei der sechs Zahlensäulen darauf lassen sich möglicherweise zum Umrechnung von Zahlen der 10er- und der 12er-Basis nutzen. Später finden sich Zählweisen mit den Basen 12 und 60 bei den Sumerern, Babyloniern und in Assyrien, dann auch im antiken Griechenland. Womöglich verbreitete sich die Arithmetik von Afrika aus über den Nil nach Europa.


Montag, 15. August 2016

Das Fenster der Seele?

Hello Kitty
aus nzz.ch, 8.8.2016, 12:56 Uhr

Emotionen erkennen
Babys schauen auf Mund oder Augen
Schon mit sieben Monaten können Babys Emotionen vom Gesichtsausdruck ablesen. Dabei richten sie ihre Aufmerksamkeit je nach Kulturkreis auf verschiedene Partien des Gesichts.

(sda) Die japanische Figur «Hello Kitty» drückt ihre Emotionen allein mit den Augen aus. Ihre Designerin Yuko Shimizu hat ihr keinen Mund verliehen. Darin spiegelt sich der Fokus östlicher Kulturen auf die Augen wider, wenn es darum geht, Gefühle durch die Mimik auszudrücken. Auch Emoticons wie – für glücklich und T–T für traurig sind typisch, während westliche Kulturkreise mehr auf den Mund fokussieren, mit :-) und :-(.

Bisher war allerdings nicht bekannt, ab welchem Alter sich dieser unterschiedliche Fokus entwickelt. Eine internationale Studie, die von Roberto Caldara von der Universität Freiburg, Schweiz, koordiniert wurde, hat sich dieser Frage angenommen. Demnach richten bereits Babys im zarten Alter von sieben Monaten ihr Augenmerk eher auf die Augen oder eher auf den Mund, je nachdem, in welchem Kulturkreis sie leben.

Die Forschenden verfolgten die Augenbewegungen von 77 in England und 76 in Japan geborenen Babys, während diese verschiedene Gesichtsausdrücke betrachteten. Die Kleinkinder aus England fokussierten dabei auf den Mund, die in Japan lebenden auf die Augenregion, wie die Universität Freiburg in einer Mitteilung schrieb.

Dabei war es zudem egal, ob die gezeigten Gesichtern nach einer östlichen oder westlichen Herkunft aussahen. Von ihren Ergebnissen berichteten die Forschenden kürzlich im Fachjournal «Current Biology».

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Nota. - Es war zwar nicht Gegenstand der Untersuchung; aber das ist ihr interessantestes Ergebnis: dass die Babies je nach Kulturkreis auf den Mund oder auf die Augen achten! Im Alter von 7 Monaten sollten sie diesen Unterschied doch noch nicht erlernt haben; und wenn: wodurch? Denn angeboren wird er ja erst recht nicht sein. 
JE

Freitag, 12. August 2016

Schizophrenie sitzt im Hippocampus (unter anderm).


aus nzz.ch,  10.8.2016, 11:38 Uhr                                       Die Lage des Hippocampus (rot) im Gehirn  

Bei einer Schizophrenie sind bestimmte Hirnstrukturen verändert. Dies geschieht offenbar schon vor der Erkrankung.

lsl. / (sda) Schizophrene Psychosen sind eine Gruppe psychiatrischer Erkrankungen, die durch Wahnvorstellungen und Halluzinationen geprägt sind. An der Entstehung sind wahrscheinlich biologische, soziale und Umweltfaktoren beteiligt. Bei den Patienten sind bestimmte Hirnstrukturen verändert. Bisher war unklar, ob diese Veränderungen die Ursache oder die Folge der Psychose beziehungsweise der Medikation sind, wie die Universität Basel mitteilte.

Um diese Frage zu klären, untersuchte eine Forschungsgruppe unter der Leitung von Fabienne Harrisberger und Stefan Borgwardt die Hirnstruktur von Personen, bei denen sich eine Psychose zum ersten Mal manifestierte und solchen, mit einem hohen Risiko, bei denen erste Anzeichen von Wahrnehmungsveränderungen auftraten.

Veränderungen sind keine Folge der Medikamente

Die Hochrisikopatienten wiesen bereits vor einer ersten akuten Psychose ähnliche Veränderungen wie die akut psychotischen auf: Das Volumen des Hippocampus – einer wichtigen Schaltzentrale des Gehirns – war bei ihnen kleiner als bei Gesunden, wie die Forscher im Fachjournal «Translational Psychiatry» berichten. Die Veränderungen scheinen somit nicht die Folge der Erkrankung beziehungsweise der Medikation zu sein.

Ausserdem untersuchten die Forschenden, ob für eine Schizophrenie bekannte Risiko-Gene mit der veränderten Hirnstruktur zusammenhängen. Tatsächlich ergab die Analyse, dass das Volumen des Hippocampus umso kleiner war, je mehr Risiko-Gene die Person aufwies.

Keine Vorhersage möglich

Das könnte darauf hinweisen, dass die Risiko-Gene direkt die Hirnstruktur beeinflussen; ein solch direkter Zusammenhang lasse sich aus den Resultaten allerdings nicht ableiten, erklärte Borgwardt. Auch Umweltfaktoren können das Volumen des Hippocampus beeinflussen.

Keiner der bekannten Risikofaktoren, wie bestimmte Genvarianten oder ein schwieriges soziales Umfeld, sei dazu geeignet, den Ausbruch einer Psychose vorherzusagen, schrieb die Universität Basel. Gleiches gilt für den verkleinerten Hippocampus. Für die Therapie könnte die Erkenntnis aber dennoch von Bedeutung sein.

«Es ist durchaus denkbar, dass Personen mit einem kleinen Hippocampus anders auf Therapien ansprechen als Personen, bei denen der Hippocampus normal ausgeprägt ist», liess sich Borgwardt in der Mitteilung zitieren. Dies wollen er und seine Kollegen in weiteren Studien untersuchen.



Donnerstag, 11. August 2016

Warum hat der moderne Mensch den Neanderthaler verdrängt?

ҀLTERE EUROP�ER UND NEANDERTALER�aus Die Presse, Wien, 4. 8. 2016

Neandertaler vertrugen Rauch schlechter als wir.
US-Forscher fanden eine offensichtliche Adaption von Homo sapiens an das Feuer: Sie betrifft einen Rezeptor für Rauchinhaltsstoffe.

von Thomas Kramar

Würden Sie auf einer Party einen Neandertaler erkennen – vorausgesetzt, er hält sich an den Dresscode? Eine in Molecular Biology and Evolution (2. 8.) erschienene Arbeit legt nun zumindest ein Ausschluss-kriterium nahe: Er würde nicht rauchen, und er würde sich eher nicht nahe am Grill aufhalten.

Forscher um Gary Perdew an der Pennsylvania State University haben nämlich eine Stelle in einem Gen gefunden, in der Homo sapiens sich von allen anderen Primaten, eben auch vom Neandertaler unterscheidet: in einem Gen für ein Protein namens Aryl-Hydrocarbon-Rezeptor (AHR), an das sich, wie der Name sagt, aromatische Kohlenwasserstoffe binden. Solche entstehen bei unvollständiger Verbrennung etwa von Holz oder Kraut, sie kommen im Rauch, auch im Tabakrauch vor, viele sind krebserregend, das berüchtigte Benzpyren etwa.

Protein bindet Aromaten schlechter

Es ist eine einzige Base in diesem AHR-Gen, die sich offenbar in der Evolution des Homo sapiens geändert hat, und diese Änderung beeinflusst die Funktion des AHR-Proteins: Es bindet die aromatischen Kohlenwasserstoffe deutlich schlechter als die ursprüngliche Version, die alle anderen Primaten haben. Das AHR-Protein hat auch andere Aufgaben, zu deren Erfüllung es sich an diverse Moleküle im Körper binden muss – dabei funktionieren beide Versionen gleich gut.

Eine ganz spezifische Adaption also. Woran könnte sich das AHR angepasst haben? An den Rauch des Feuers, das in den Höhlen der Urmenschen brannte – und ihnen Vorteile brachte: Es wärmt, und Gekochtes und Gebratenes ist leichter zu essen und verdauen.

Doch der Rauch macht nicht nur Augen, Kehlen und Lungen zu schaffen, er provoziert auch – via AHR – das Immunsystem zu Abwehrreaktionen, die auf Dauer vielleicht von Vorteil sind, aber akut schwächen. Eine Desensibilierung des AHR könnte also dem Homo sapiens einen Vorteil in der Konkurrenz mit den Neandertalern beschert haben, meint Perdew: Diesen hätten die Rauchinhaltsstoffe eine geringere Fruchtbarkeit der Frauen und eine größere Krankheitsanfälligkeit der Jugendlichen gebracht, unseren Ahnen hätten sie weniger geschadet, weil sie sie langsamer verarbeiten.

Was nicht heißt, dass die krebserregende Wirkung für Homo sapiens geringer ist. Dass dieser heute oft zum Inhalieren von Tabakrauch neigt, könnte aber an der Mutation liegen, die den Rauch für uns verträglicher macht, meint Perdew: „Sie hat uns erlaubt, diese schlechte Gewohnheit anzunehmen.“


Nota. - Es gab schon viele Mutmaßungen darüber, was wohl zum raschen Aussterben der Neanderthaler geführt haben mag. Diese hier ist von allen, die ich kenne, die ausgefallenste. Aber sie ist - ja, sie ist plau-sibler als die andern! 
JE



Mittwoch, 10. August 2016

Eine Gehirnregion extra für die Physik!

aus scinexx

Physik-Zentrum unseres Gehirns aufgespürt
Intuitives Physikverständnis ist eng mit Arealen für die Handlungsplanung verknüpft

Ob fallende Bauklötze oder fließendes Wasser: Die Physik hinter solchen Alltagsphänomenen verstehen wir intuitiv. Denn unser Gehirn besitzt dafür ein eigenes Physik-Zentrum – ein Areal, das ständig die physikalischen Regeln unserer Umwelt auswertet, wie Forscher herausgefunden haben. Demnach sitzt dieses Physik-Zentrum im motorischen Cortex, dem Teil der Hirnrinde, der auch unsere Handlungen und Bewegungen steuert.

In unserem Alltag erleben wir ständig Ereignisse, die klaren physikalischen Gesetzmäßigkeiten folgen. Unbewusst erkennen wir die Wirkung der Schwerkraft, die Impulserhaltung oder die Ballistik des Werfens und beziehen dies intuitiv in unsere Handlungen mit ein. Diese Regeln verstehen schon Säuglinge intuitiv: Sie stutzen, wenn ein Objekt plötzlich nach oben statt nach unten fällt oder Wasser sich wie ein Festkörper verhält.

"Im Kopf führen wir ständig Physik-Simulationen durch, um uns auf Handlungen vorzubereiten", erklärt Erstautor Jason Fischer von der Johns Hopkins University. "Diese physikalischen Regeln zu erkennen, gehört zu den wichtigsten mentalen Fähigkeiten für unser Überleben." Doch wie und wo unser Gehirn diese instinktiven Physik-Berechnungen anstellt, war bisher unbekannt.

Wandernde Punkte und wackelnde Türme

Um das Physik-Zentrum unseres Gehirns ausfindig zu machen, haben Fischer und seine Kollegen eine Reihe von Experimenten durchgeführt. Sie zeigten dafür Probanden verschiedene Videos, während sie deren Hirnaktivität mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) aufzeichneten. In einem Video sahen die Teilnehmer zwei sich bewegende Punkte, deren weiteren Weg sie vorhersagen sollten.

In einem weiteren Video waren wackelige Türme aus gelben und blauen Holzklötzen zu sehen. Die Probanden sollten nun entweder schätzen, wo die Klötze beim Einsturz des Turmes hinfallen würden, oder aber raten, ob es mehr gelbe oder blaue Klötze im Turm gibt. Während die zweite Frage vor allem die visuelle Wahrnehmung aktivierte, zielte die erste auf die Physik-Intuition – und müsste daher das Physikzentrum im Gehirn aktivieren.
Wohin fallen die Klötzchen? Wenn wir darüber nachdenken, wird das Physik-Zentrum in unserem Gehirn aktiv.

Physik-Kalkulation im motorischen Cortex

Und tatsächlich: Immer dann, wenn die Probanden unbewusst physikalische Gesetzmäßigkeiten mit einbeziehen mussten, wurden in ihrem Gehirn andere Areale aktiv als bei rein visuellen Aufgaben. Und je mehr Physik sich hinter einer Aufgabe versteckte, desto intensiver feuerten diese Hirnbereiche bei den Probanden.

Wie die Forscher herausfanden, liegen diese "Physik-Areale" im prämotorischen und motorischen Bereich der Großhirnrinde. Diese Hirnbereiche sind dafür zuständig, unsere Bewegungen zu planen, verarbeiten aber auch Informationen über die Bewegung und Lage anderer Körper im Raum. Das Physikzentrum unseres Gehirns liegt demnach in der Region, die für unsere motorische Interaktion mit der Außenwelt zuständig ist - physikalische Intuition und Handlungsplanung sind eng verknüpft.

Das Physik-Zentrum unseres Gehirns (gelb-orange) liegt im motorischen und prämotorischen Cortex
Das Physik-Zentrum unseres Gehirns (gelb-orange) liegt im motorischen und prämotorischen Cortex

Ursprung in der frühen Kindheit

"Wir glauben, dass das der Fall ist, weil Kinder physikalische Modelle der Welt lernen, während sie ihre motorischen Fähigkeiten trainieren – während sie mit Objekten hantieren, lernen sie, wie sich diese verhalten", sagt Fischer. Wenn ein Kind beispielsweise nach etwas greift, muss sein Gehirn lernen und vorausberechnen, wie schwer dieses Objekt wohl sein könnte, mit wie viel Kraft man es anfassen und heben muss.

Noch mehr Physik ist beim Laufenlernen nötig: Wie viel Vorwärtsschub ist nötig, wie viel ist zuviel und führt zum Sturz? All diese unbewussten Kalkulationen führt unser Physikzentrum im Gehirn von Kindesbeinen an durch und formt so im Laufe der Zeit unser intuitives Verständnis der Physik im Alltag. "Wir ziehen ständig physikalische Schlussfolgerungen, selbst wenn wir nicht bewusst darüber nachdenken", so Fischer.

Wie die Forscher erklären, deckt das Wissen um dieses Physikzentrum nicht nur auf, wie und wo unser Gehirn solche Gesetzmäßigkeiten erkennt, es könnte auch helfen, verborgenen Defizite bei Menschen aufzudecken, deren motorische Hirnrinde durch Unfall oder Krankheit geschädigt ist. Gleichzeitig könnte das Lern- und Arbeitsprinzip unseres eingebauten Physikmoduls dazu beitragen, Robotern zu einem besseren Verständnis ihrer Umwelt zu verhelfen. (Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), 2016  (doi: 10.1073/pnas.1610344113) 

(Johns Hopkins University, 09.08.2016 - NPO)


Nota. -

Warum lässt sich die Mathematik “auf die Welt der Dinge anwenden”? Weil ich mir die Welt der Dinge so vorstellen kann, als ob ich sie selber konstruiert hätte; dann beschreibt die Mathematik in ihrem Zeichen-system, wie ich hätte verfahren müssen, um sie so zu konstruieren.

Mathematik ist das allgemeine operative Schema der möglichen Handlungen in Raum und Zeit. Logik ist das allgemeine Schema der möglichen Handlungen in der bloßen Vorstellung. 

aus Ist die Welt logisch aufgebaut?