Anthropologie statt Metaphysik...

...die aktuellste Losung der Philosophie.



Anthropologie ist die Beantwortung der Frage:


Ist das 'Wesen des Menschen'...

a) eine Bestimmung, die dem historischen Prozess als ein Auftrag „zu Grunde liegt“ und als Programm, das es ('nur noch') zu „erfüllen“ gilt? Oder

b) ein Problem, das „gelöst werden soll?



- Beide Auffassungen sind aber nicht (logisch) gleichwertig. Denn die Version a) ist um ihre Begründung verlegen. Wo immer sie ihre Begründung herleiten mag - es gibt immer noch „irgendwas“, das ‚hinter‘ ihr liegt; usw. in infinitum.


Dagegen bei b) ist der Anfang auch das Ende: Das `Wesen' des Menschen ist „ein Sein, das nach dem Sein fragt“; Heidegger. Also das Leben des Menschen hat den Sinn, dass er nach dessen Sinn fragen soll. Aber dazu ist es erst geworden. Der Sinn der ('menschlichen') Geschichte ist, dass er sich an ihrem Ausgang „zur Freiheit verurteilt“ findet.


*

Das Kernproblem der philosophischen Anthropologie: Wie kam der Mensch dazu, Qualitäten als wahr und wert zu nehmen, die etwas Anderes sind als größere oder geringere Zweckmäßigkeit bei der Selbst- und Arterhaltung? Mit andern Worten: Wie kam der Mensch zu seinem 'poietischen', d. h. ästhetischen Vermögen?





“Anthropologie statt Metaphysik” – unter diesem Titel veröffent- licht Ernst Tugendhat, jahrzehntelang der Leuchtturm der – auch von ihm so tugendhat-ernstgenannten – Analytischen Philoso- phie im deutschsprachigen Raum, sein jüngstes Buch. Wenn alle Wortverwendungen analysiert und alle sprachlichen Fallen entlarvt worden sind, bleibt trotzdem noch immer… die Welt ein Rätsel. Nach wie vor Wittgenstein. Und sogar der hat nichts anderes gemeint. Es ist begrüßenswert, wenn seine Systematisierer am Ende auch zu dieser Einsicht finden.


Heute schreibt Tugendhat, “dass die philosophische Anthro- pologie an die Stelle der Metaphysik als ‘philosophia prima’ treten sollte, und dass die Frage ‘Was sind wir als Menschen?’ diejenige Frage ist, in der alle anderen philosophischen Disziplinen ihren Grund haben.”* Und stante pe “ergibt sich sofort der Rekurs aufs menschliche Verstehen als natürlicher Ausgangspunkt, und genau so bei allen einzelnen philosophischen Disziplinen wie z.B. Logik, Ästhetik, Handlungstheorie usw. Es fällt schwer, sich eine philosophische Disziplin denken zu sollen, die nicht auf das menschliche Verstehen zurück weist.”


Ich habe noch nie eine philosophische Tageslosung gehört, der ich so vorbehaltlos zustimmen konnte. Und sogar seinen Vorbehalt gegen die philosophische Anthropologie, wie sie Scheler, Gehlen und Plessner hinterlassen haben, teile ich. Es ist ihnen nicht gelungen, den Ursprung des menschlichen Verstehens in der Evolutionsgeschichte sichtbar und… ‘verständlich’ zu machen.


An genau diesem Punkt glaube ich aber, mit der Unterscheidung zwischen ‘meiner’ Welt und ‘unserer’ Welt selber einen Beitrag geleistet zu haben, der manches Rätsel auflöst.

zwei_welten1

.

Nach zweieinhalb Tausend Jahren Philosophie mit systematischem Anspruch ein Begriffspaar einführen zu wollen, für das es in der Literatur kein Vorbild gibt, ist kühn und muss gerechtfertigt werden. Zunächst einmal: Ich bin nicht ex litteris und durch begriffliche Konstruktion (aus gegebenem Material) darauf gekommen, sondern aus lebendiger Anschauung. Das mag als Eingangsrechtfertigung gelten. Das Nachzeichnen des Erfahrungsgangs macht zugleich deutliche(er), was gemeint ist.


Paradigma der modernen (bürgerlichen, westlichen…) Weltanschauung ist das vernünftige Subjekt. Es ist ‘definiert’ – in seinen Grenzen festgelegt – durch seine zwei bestimmten Gegensätze, die im Prozess seiner historischen Ausbildung hinter ihm ‘zurück geblieben’ sind: Der Narr und das Kind. Sie beide sind nicht das, was das vernünftige Subjekt ist, der eine noch nicht, der andre wird es nie: ein nüchtern die Vorteile kalkulierender Teilhaber am allgemeinen Verkehr; mit andern Worten: “erwachsen”.

narr


Jahrzehnte lang hatte ich durch meinen Erwerbsberuf gerade mit diesen beiden ‘residualen’ Gegensätzen zur Vernünftigkeit zu tun – mit 1) Kindern, die 2) als närrisch alias “gestört” galten.

Worin bestand die “Störung”? Das Kind lebte mehr oder weniger zurückgezogen ‘in seiner eignen Welt’, zu der es nur ausnahmsweise und zufällig Andern Zutritt gewährte. Mit andern Worten, in der ‘Welt der Wirklichkeit’ lebte es nicht oder nur gelegentlich ‘aus Versehen’. Das ist wohl bemerkt keine Analyse, sondern bloß die Beschreibung eines anschaulich gegeben Phänomens. Aber sie beruht auf einer Prämisse: dass die ‘wirkliche Welt’ die wahre und die ‘eigne Welt des Kindes’ die falsche sei. Wodurch unterscheiden sich beide Welten aber in Wahrheit?


Die ‘Eigenwelt des Kindes’ ist ein Phantasma – zugegeben. Sie ist “subjektiv”. Ist ‘die Wirklichkeit’ objektiv? Das steht in der Sternen. Die Transzendentalphilosophie hat seit gut zweihundert Jahren ihre Einwände, aber wer weiß das heut schon noch? Doch seit der postmodernen Karriere des ‘Konstruktivismus’ pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Die ‘Wirklichkeit’ der verständigen Erwachsenen ‘ist auch nur ein Konstrukt’. Was bleibt also übrig vom Unterschied von Wirklichkeit und Eigenwelt des Kindes? Das eine ist ein öffentliches, das andre ist ein privates Konstrukt: Phantasmen alle beide! Was ist der Vorteil des einen vor dem andern? In diesem können Alle vorkommen und – mehr oder weniger – auskommen, in jenem nur Einer: Das ‘gestörte Kind’ selbst. Aber das ist ein rein pragmatischer Unterschied und kein (onto-)logischer.



Werfen wir einen zweiten Blick auf das Scenario: Zuerst unterschieden wir gar nicht zwischen einem Ich und einer Welt (geschweige denn zweien). – ‘Zuerst’? Ich war nämlich schon ‘da’, bevor ich ‘zur Welt gekommen’ bin. Nicht als der, der ich heute bin, aber auch nicht als ein wirklich anderer. Damals war ich eins mit dem, was mich umgab; buchstäblich. Im Moment der Geburt kam dann erstmals etwas Fremdes hinzu; zumindest fremde Hände. Das Kind schreit, wenn es ‘zur Welt kommt’. Wegen der Andersheit des Andern, der Andern…? Noch längere Zeit könne der Säugling, wird uns gesagt, nicht zwischen ’sich-selbst’ und der Mutterbrust unterscheiden. Jean Piaget spricht vom “ursprünglichen Adualismus” des Kindes.


Erst nach und nach treten Selbst und der-die-das Andere auseinander, und auch nicht gleich als ein Gegensatz, sondern eher in Gestalt von konzentrischen Kreisen, gestaffelt vom ganz-Eignen bis zum ganz-Fremden. Wie die Scheidung dann schließlich gelingt und immer tiefer geht, ist eine Frage der Psychologie. Die empirische Person ist ein unablässiges Werden. Das Ich der Philosophen ist etwas anderes, es ist nicht empirisch, sondern logisch, und als solches wird es nicht, sondern ist; jedenfalls in der Vorstellung. Aber die Welt, die die empirische Person nach und nach von sich unterscheidet, die wird. Und sie wird täglich größer. Es kommen immer neue ‘Dinge’ darin vor. Verglichen damit wird die Person kleiner…


Noch einmal zurück: In der ‘Eigenwelt’ des Narren kommen ja keine andern Gegenstände vor als in der Welt des Verständigen. Den einen oder andern Gegenstand mag er vielleicht nicht “wahr haben”, aber die, die er wahr nimmt, sind dieselben, die auch die andern wahr nehmen. Sie unterscheiden sich nicht darin, dass (oder ob) sie wahr genommen werden, sondern wie sie wahr genommen werden, “als was” sie wahr genommen werden. Sie unterscheiden sich nicht nach ihrer Gegenständlich- keit, sondern nach ihrer Bedeutung.


Die Bedeutungen der Dinge sind jedenfalls nicht ‘objektiv’. Etwas bedeutet etwas für jemanden. Bedeutung hat ihren Ort im Subjekt. Bedeutung steckt nicht im Ding selbst, sondern wird ihm zugeschrieben, zu-gedacht.

.

Was ist Bedeutung? Bedeutung ist ‘dasjenige an’ dem Ding, das mich oder einen andern dazu veranlassen kann, so oder anders zu handeln. Wobei unter Handeln schon das abstrakteste Entscheiden für das Eine und gegen das Andere verstanden sein soll: Urteilen im aller allgemeinsten Sinn.


Man möchte meinen, das sei genau das, was den Menschen von allen andern Lebewesen unterscheidet: dass er urteilt.


Dabei ist freilich die Unterscheidung zwischen einem ‘Ding’, wie es schlicht und einfach nur ‘da ist’, und dem, was es für mich bedeuten könnte, selber schon eine Urteil.


Wir nehmen nicht ‘zuerst’ die Gegenständlichkeit der Gegenstände wahr und denken uns ‘dann’ zu ihnen eine Bedeutung hinzu; sondern im unmittelbaren alltäglichen Erleben ‘begegnen’ sie uns ungeschieden als Eines und Dasselbe. Denn wir wurden in eine Welt geboren, in der alles eine Bedeutung längst hat; nämlich für die, die vor uns auf der Welt waren und uns Neuen ihre Welt nun zeigen – von unserm ersten Tag an. Die Welt ist von den tausenden Generationen, die vor uns waren, längst ausgedeutet worden. Diese Bedeutungen haben sie uns überliefert in einem gewaltigen Tableau von Symbolen, von denen jedes ’seine’ Bedeutung bezeichnet, und die untereinander artikuliert sind durch ein Netz von Verweisungen und Bezügen. Und das sind nicht bloß die Wörter, die wir aussprechen können! Die gesellschaftlichen Institutionen, jedes Kulturgut, die konventionellen Weisen des gesellschaftlichen Verkehrs tragen alle eine “Botschaft”, sie sind Symbol, sie ‘bedeuten sich selbst’.


Bedeutungen mögen sich im Laufe der Jahrtausende verschieben. Aber daran, dass ein jedes Ding seine Bedeutung hat, kann das nichts mehr ändern. Wer neu hinzu kommt, erhält keine Gelegenheit, daran zu zweifeln. Allenfalls kann er fragen: Was bedeutet Dieses? Und dass es fraglich ist, ist dann eine ganz eigentümliche Bedeutung des Dinges…



Und bevor die Menschen da waren? Hatten da die Dinge ‘noch keine Bedeutung’?


Die Menschen sind nicht über Nacht vom Himmel gefallen, sie waren “vorher schon da” – doch zu Menschen sind sie erst geworden. Sagen wir der Einfachheit halber: Vorher waren sie Tiere unter andern Tieren.


Ein Tier unterscheidet nicht zwischen einem Ding und seiner Bedeutung. Dazu müsste es urteilen können, aber dazu fehlen ihm die Voraussetzungen. (Lassen wir einstweilen beiseite, welche das sind.) Erlebt es nun ‘Dinge’ ohne Bedeutung?


Auch das Tier lebt nicht in einer Welt, die lediglich ‘der Fall ist’, sondern in Bedeutungen. Evolution ist Auslese und Anpassung. Im Laufe ihrer Geschichte hat jede Spezies ihre ökologische Nische gefunden, in die sie besser passte als in jede andere, und hat sie zu ihrer ‘Umwelt’ umgewidmet; baut Nester, Höhlen, Staudämme, und bestäubt die Pflanzen, von denen sie lebt. Jede tierische Umwelt bildet nach Jakob von Uexküll, dem Begründer des biologischen ‘Umwelt’-Begriffs, “eine in sich geschlossene Einheit, die in all ihren Teilen durch die Bedeutung für das Subjekt beherrscht wird. Alles und jedes, das in den Bann einer Umwelt gerät, wird umgestimmt und umgeformt, bis es zu einem brauchbaren Bedeutungsträger geworden ist – oder es wird völlig vernachlässigt.” Was nicht zum Funktionskreis Tier-Nische gehört, wird – selbst ‘in seiner Gegenständlichkeit’ – gar nicht erst wahr genommen.


Was nun die Dinge seiner Umwelt dem Tier bedeuten, “versteht sich von selbst”, es ist ins genetische Programm der Species eingegangen – da muss es das Individuum nicht auch noch verstehen. Durch Vererbung sind die Gattung und ihre Umwelt miteinander ‘verwandt’. Der Mensch dagegen muss die Bedeutungen der Dinge, die ihm durch Symbole übermittelt wurden, jedes Mal wieder selber realisieren, nämlich ’sich vorstellen’.


Die Bedeutungen tierischer Umwelten haben freilich einen gemeinsamen Nenner: Sie sind Funktionen der Erhaltung – der Individuen wie der Art. Was keinen Erhaltungswert hat, kommt in ihnen, wenn es auch ‘da’ ist, einfach nicht vor. Der Mensch hat jedoch vor Jahrmillionen seine Urwaldnische verlassen und ist aus der ererbten Umwelt in eine fremde Welt aufgebrochen.



Als sich vor zwei , drei Millionen Jahren in Ostafrika das Klima erwärmte und den Regenwald zu einer Feuchtsavanne ausdünnte, zogen sich unsere Vorfahren nicht, wie ihre äffischen Vettern, mit dem Dschungel zurück, sondern stiegen stattdessen auf den Boden herab. Eine Feuchtsavanne ist kein einheitlicher Lebensraum, an den man sich spezialistisch “anpassen” kann. Sie besteht aus vielen Vegetations- und Klimainseln, wo ganz unterschiedliche Bedingungen gegeben sein mögen, aber von denen keine einem großen Säuger als dauernder Wohnort ausreicht. Jedenfalls gewöhnten sie sich an, von einer zur andern zu wechseln. Über Millionen Jahre lebten unsere Vorfahren von da an als Nomaden und Entdeckungsreisende. 

okavangobecken


Dabei begegnet ihnen erstens immer wieder Unbekanntes – das ‘noch keine’ Bedeutung hatte; und zu den Bedeutungen, die ihnen der Urwald in Jahrmillionen angeerbt hatte, fanden sie nicht mehr die passenden ‘Dinge’. Sie mussten ’sich was einfallen lassen’, mussten Bedeutungen ahnend neu ‘heraus’-, d. h. hinein-finden, und mussten Fremdes mit dunklen Erinnerungen an Vergangenes vergleichen. Sie mussten sich ein Bedeutungsreservoir angelegen, das übertragbar, das tragbar, das transportabel war. Es kann mit Allem verglichen werden, was auftaucht, und alles, was auftaucht, ist mit der Erwartung ausgezeichnet, vergleichbar zu sein: “Passt oder passt nicht?” Erweist es sich als inkommensurabel – dann ist es nicht etwa ‘bedeutungslos’, sondern im Gegenteil etwas ganz Besonderes.


An die Stelle der verlorenen ‘Umwelt’ ist nun eine Welt getreten, die ‘zuerst’ (in Symbolen transportabel und) in der Vorstellung ‘da ist’, an der die begegnenden ‘Dinge’ gemessen und auf ihre Tauglichkeit geprüft werden. Was “passt”, hat Chancen, (für) ‘wahrer’ genommen zu werden, als was nicht passt oder nicht so gut passt. Jenes, das Fremde, hat dagegen Chancen, einer ‘höheren’ Wirklichkeit zugerechnet zu werden, die gleichermaßen anziehend und bedrohlich sei kann. (Es ist die animistische Welt des Totems.)



Und um diese Vorstellungswelt von einer Insel zur andern transportieren zu können, musste ein Behältnis ausgebildet werden. Die (schubweise) Vergrößerung des menschlichen Gehirns folgt der Erfindung des aufrechten Ganges und der Ausweitung des menschlichen Aktionsradius. Verlassen hatten wir einen sicheren Ort, wo alles so war, wie es war, und wo wir es darum nicht “bemerken” mussten. Ein Ich, das sich von diesem Ort unterscheiden musste, war nicht ‘da’. Das änderte sich drastisch, als wir ‘zur Welt kamen’. Dieser Ort war ein vages Durcheinander von Wundern und Unwägbarem, das “immer neu” begegnete. Ein ‘ruhender’ Pol im steten Wechsel ist allein die wandernde Menschengruppe, attisches Trinkgefäß, 6. Jhdt. v. Chr.die sich als beharrendes Subjekt in einer flüchtigen… ja eben: Welt behauptete. Der einstmals umweltlich ungeschiedene Erlebensraum der Individuen zerfällt in ein Drinnen – die gewisse Gruppe -, und ein ungewisses Draußen. Je dringlicher es der Vergewisserung des Draußen bedarf, umso nötiger wird die Verständigung im Innern.


Die – von nun an selbst gemachte – Geschichte der Gattung Mensch geschieht im Verkehr. Verkehr heißt Mitteilung. Mitteilung bedarf eines Vehikels, eines “Gefäßes”, in dem die je gemeinte Bedeutung vom Einen zum Andern gereicht wird. Je öfter das Mitteilen nötig wird, umso fester muss das Gefäß sein. Eine Bedeutung, die in einer Gebärde symbolisiert wird, ist weniger haltbar als eine, die in einem gesprochenen Wort symbolisiert ist. Und nur in unablässigem Verkehr kann die Bedeutung des Symbols andererseits auch Erhalten bleiben.

Claude Monet, Gare St. Lazare

.

Es folgt daraus, dass heute ‘alles, was vorkommt’, in seiner Bedeutung durch ein Symbol längst festgesetzt ist, bevor noch der Neuling die Welt betritt. So sehr, dass er in demselben Maße, wie sein Verkehr mit den Gattungsgenossen wächst, bei jedem ihm neu begegnenden Ding auf eine vorgegebene Bedeutung fest rechnet – und danach fragt, o ja. Und es ist jedes Mal eine Sensation, wenn ihm die sicher erwartete Bedeutung nicht benannt werden kann. Sie ‘bleiben’, d. h. werden dadurch nicht etwa bedeutungslos, sondern vielmehr rätselhaft, und das verleiht ihnen einen Reiz, den sie für ein ‘nicht-symbolisierendes’ Tier nie gewinnen können. Dieses wendet sich von ihnen schließlich ab, sobald feststeht, dass sie sich zum Verzehr jedenfalls nicht eignen…


Und hier begegnet zum ersten Mal der Unterschied zwischen ‘meiner’ und ‘unserer’ Welt: Weil dem Ding im Symbolnetz ‘unserer’ Welt die Bedeutung, die es doch haben sollte, mangelt, gewinnt es in ‘meiner’ Welt seinen Reiz. “Das Schönste, das wir erleben können, ist das Geheimnisvolle”, meinte Albert Einstein. Man kann das den ästhetischen Sinn der Menschen nennen.



Das Symbolnetz, das uns ‘unsere’ Welt bedeutet, war seinerseits nicht einfach ein Neuerwerb, ein Plus, das hinzukam; sondern ein Ersatz, eine Kompensation für den Verlust der angestammten, naturbedeuteten tierischen Umwelt. An die Stelle der Selbstverständ- lichkeiten ihrer verlassenen ökologischen Nische mussten unsere Urahnen das Verstehen einer selbsterworbenen, selbstbedeuteten Welt setzen.


“Wir kommen mit erheblichem Vorwissen über die Welt in diese”, schreibt Wolf Singer. Erfahrungswissen tausender Generationen ist erblich in unserm Gehirn gespeichert. Raum und Zeit gehören sicher dazu, auch wohl, wie Singers Forschungen nahe legen, die sog. Gestaltgesetze der empirischen Psychologie. Ob alle zwölf Kant’schen Kategorien dazu gehören oder mehr oder weniger, ist eine empirische Detailfrage ohne theoretische Tragweite.


Ich ‘habe’ diese Vorkenntnisse, aber ich weiß nichts davon. Sie gehören zu den Konstituenten ‘meiner’ Welt. Sie sind das Instrumentarium, mit dem ich meine Welt ‘konstruierte’ (und ein ‘Ich’ überhaupt erst wurde). Am Konstrukt selber ist es nicht mehr kenntlich. Mit andern Worten, in ‘meiner’ Welt kommen die Instrumente selbst nicht vor.


Aber ich bin – auch in ‘meiner’ Welt! – nicht allein. Ich stehe von Anbeginn in demselben Verkehr, aus dem das Instrumentarium stammt. Im Verkehr kann der Eine an die Stelle des Andern treten. Im Verkehr wird der Wechsel der Perspektiven habituell. Aus dem Verkehr erwachsen Abstände und Nähen, der Verkehr manifestiert Unterschiede und schafft Reflexion. Verkehr ist Vermittlung. In der Welt, die Verkehr ist, ist nichts unmittelbar. Genauer gesagt: In ‘unserer’ Welt ist nichts unmittelbar, ist alles nur ‘vermittels…’. Das Unmittelbare kommt allein in ‘meiner’ Welt vor. In ‘unserer’ Welt kann ich es nur symbolisch vermittelt “zur Sprache bringen” (was in ‘meiner’ Welt gar nicht nötig ist).



Und doch ist auch ‘meine’ Welt keine Nische, sondern Welt. Sie ist offen und nicht geschlossen, und in Hinblick auf das Mögliche ist sie woMöglich noch um einiges “offener” als ‘unsere’ Welt. In ihr ist nicht nur doppelt rätselhaft, was in ‘unserer’ Welt schon einfach rätselhaft war, sondern ist gar manches rätselhaft, was in ‘unserer’ Welt flach auf der Hand liegt. So wenig wie die Welten der Kinder und der Narren von der Welt der Verständigen, so wenig unterscheidet sich ‘meine’ Welt von ‘unserer’ Welt nach den Gegenständen, die darin vorkommen: Alles, was in ‘unserer’ Welt vorkommt, könnte auch in ‘meiner’ Welt vorkommen (wenn ich genügend Zeit hätte, mich mit allem bekannt zu machen).


Nur – was in ‘meiner’ Welt vorkommt, kann nicht alles auch in ‘unserer’ Welt vorkommen – d. h. symbolisch repräsentiert werden. Manches kann nur in analogen Bildern ‘nachgezeichnet’ und einiges gar lediglich in Gebärden ‘ausgedrückt’ werden. Das, was sich in den westlichen Kulturen als Kunst zu einer eignen gesellschaftlichen Instanz erhoben hat, ist ein Zwischenreich, wo je-’meine’-Welten in ‘unserer’ Welt “in Erscheinung treten”. Denn die Kunst findet in der Öffentlichkeit statt, und die ist Verkehr-schlechthin.


Öffentlichkeit ist ‘unsere’ Welt par excellence. Wissenschaft ist öffentliches Wissen; Wissen, das auf öffentlich kontrollierbaren Wegen erworben wurde und öffentlicher Prüfung standgehalten hat. Sie ist das Wissen-’unserer’-Welt. Aber nicht allein Wissen von ‘unserer’ Welt, sondern auch von ‘meiner’ Welt! Dabei ist nicht von Tiefenpsychologie die Rede. Ob da öffentlich überprüfbares Wissen – Wissen über ‘meine’ Seelenzustände, nicht bloß über nützliche therapeutische Kunstgriffe – zustande kommt, mag man mit Gründen bezweifeln. Die Rede ist von dem Instrumentarium, mit dessen Hilfe ich mir ‘meine’ Welt gezimmert habe, um mich in ‘unserer’ Welt zurecht zu finden.


So kann die empirische Psychologie die ‘Gestaltgesetze’ erforschen und beschreiben. Und kann die Transzendentalphilosophie die Unbedingtheit von Raum und Zeit im Subjekt lokalisieren. Was mir so durch öffentlich wissenschaftliche Reflexion fraglich geworden ist, kann mir – als ‘noch ein’ Rätsel – auch in ‘meiner’ Welt bewusst werden. Doch stehen sie da in einem ganz andern “Horizont”! Sie geben dort nicht neue Fixpunkte ab, aus denen ich weiter schlussfolgern kann (wie in den Wissenschaften), ganz im Gegenteil. Sie verbinden sich unter einander zu einem Zweifel am Sinn der Welt, am Sinn des Lebens. Und das ist gut. Denn ein Sinn, der “sich von selbst versteht”, ist keiner. Jedenfalls nicht ‘für mich’, sondern nur für den mich beobachtenden Wissenschaftler (der persönlich gar nix davon hat). 

zwiespalt2


Sinn wird erst, sobald an ihm gezweifelt wurde. Und er bleibt nur, solange nach ihm gefragt wird. Er ist das Ureigenste von ‘meiner’ Welt, über das ich in ‘unserer’ Welt bestenfalls Geschichten erzählen kann; Romane schreiben, Lieder singen, Bilder malen.

__________________________________________________________________

*) Ernst Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, S. 34; 35f.



 

Wie das Ästhetische in die Welt gekommen ist.


Wissen kommt nicht zustande ohne Absicht. Erst wenn ich an die Dinge meine Absicht* herantrage, bekunden sie ihre Eigenschaften - nämlich wie sie zu dem, worauf ich es abgesehen habe, 'Stellung nehmen'; alias was sie bedeuten. Von einem Ding "an sich" gibt es schon darum nichts zu wissen, weil es in dem Moment aufhört, "an sich" zu sein, als es meiner Absicht begegnet. Ohne meine Absicht bedeutet es nichts. Doch ihm ohne Absicht begegnen kann ich nicht.

Richtiger gesagt: kann ich nicht natürlich, sondern nur künstlich. Kann ich erst durch Reflexion. Nämlich wenn ich absichtlich von den Absichten - allen möglichen Absichten - durch freien Entschluss, nicht natürlich, sondern künstlich, absehe und das Ding betrachte, wie es 'sich zeigen' würde, wenn ich es ohne Absicht betrachten könnte. Wenn ich also von mir absehen würde. So entsteht kein Wissen von Etwas, sondern lediglich Anschauung von Erscheinung.

Wenn ich mich absichtlich in den ästhetischen Zustand versetze: "In dem ästhetischen Zustand  ist der Mensch Null", sagt Schiller. "An sich" sind die Dinge, wie sie ästhetisch (er)scheinen. Sie sind das Kunstprodukt der Reflexion, die ihrer selbst entsagt. 

Mit andern Worten, ästhetisches Erleben ist nicht möglich ohne vorheriges Wissen und nicht ohne Hintergedanken. Es ist ein modernes Phänomen. Und dass uns die Bilder, die wir in diesem Zustand sehen, hinterher immer so vorkommen, als ob sie 'was zu bedeuten' hätten, ist kein Wunder.


*) Auf ein Bewusstsein, das erst durch Reflexion entsteht, kommt es noch gar nicht an.



Das ist die vorletzte, unvollständige Fassung dieses Textes; die Endfassung hat Google verschluckt:


Anthropologie als Grund und Zweck der Philosophie




Dies ist das Kernproblem der philosophischen Anthropologie: Wie kam der Mensch dazu, Qualitäten als wahr und wert zu nehmen, die etwas Anderes sind als größere oder geringere Zweckmäßigkeit bei der Selbst- und Arterhaltung? Mit andern Worten: Wie kam der Mensch zu seinem 'poietischen', d. h. ästhetischen Vermögen? 

Die größte Kunst im Lehr- und Weltleben bestünde darin, ein Problem in ein Postulat zu verwandeln, schrieb Goethe an Zelter; "damit kommt man durch".

*

Ein Tier nimmt all das - aber nur das - 'wahr', was ihm in der Umweltnische, in der sich und die sich seine Gattung im Laufe ihrer Naturgeschichte eingerichtet hat, für sein Überleben und seine Fortpflanzung hilfreich ist. Und was dieses oder jenes Ding ihm 'wert' ist, darüber entscheidet die Dringlichkeit, mit der im gegebenen Augenblick sein physisches Bedürfnis danach verlangt. Das alles kommt ihm als Gegebenes vor und bedarf nicht seines Urteils. Es ist, und damit gut.
In der Gefangenschaft und namentlich in der Beobachtungsstation muss das Tier fürs Leben und seine Fortpflanzung nichts von dem tun, was in freier Natur seinen Alltag erfüllt. Es ist unterbeschäftigt und hat, wie wir, Langeweile. Da nimmt es gern fremde Dinge an, die ihm von seinen Verpflegern vor-gegeben werden. Es kompensiert nur einen Mangel.

Aber das kann es. Es hat offensichtlich Reserven,* die unter seinen herkömmlichen natürlichen Lebensumständen ungenutzt bleiben, die ihm aber unter ungewöhnlichen Bedingungen, bei Stress, und sei es dem Stress der Langenweile, ungewohnte Leistungen erlauben. Und  halten die ungewöhnlichen Bedingungen an – warum soll die Nutzung der verborgenen Reserven, soll die außergewöhnliche Leistung nicht habituell und selber zu einem Selektionskriterium werden?

Dass also unsere Vorfahren, nachdem sie den Schritt aus der Urwaldnische in die offene Savanne einmal getan hatten, erbliche Fähigkeiten erworben haben, die sie als eine völlig neue Gattung unter den Lebewesen ausweisen, ist für sich genommen kein Mysterium. Unerklärt bleibt noch immer, warum sie diesen Schritt getan, bzw. warum ihre äffischen Vettern ihn nicht unternommen haben; und darf getrost unerklärt bleiben, denn was ist daran gelegen?

*

Die Hominisation ist als bloße Kompensation – für den Verlust der angestammten Selbstverständlichkeiten - nicht hinreichend verstanden. Tatsächlich handelt es sich um eine Überkompensation. Denn der selbstverursachte Mangel wird nicht aufgefüllt mit je demselben, sondern mit etwas qualitativ Neuem; eben dem, dass sich die Bedeutungen der offenen Savannenwelt nicht mehr von selbst verstanden, sondern erfragt werden mussten. Das ist nicht einfach ‚mehr‘,  es ist eine andere Dimension als die rein positive Umwelt der Tiere. 

Die Welt, in die seither die Menschenkinder hineingeboren werden, hat vom ersten Tag an und womöglich schon vorher den Charakter der Fraglichkeit. Wenn auch die moderne Hirnforschung längst nicht so viel des spezifisch Menschlichen herausgefunden hat, wie sie meint, so hat sie doch erwiesen, dass die Menschen nicht warten, bis ihnen die Außenwelt mit hartem Griffel ihre Hieroglyphen ins Gemüt ritzt, sondern ex sponte ihre eigenen Erwartungen an die Dinge tragen und achten, was sie darauf antworten.

*

Bis hier ist noch nicht ersichtlich, wie Qualitäten in Erwägung kommen können, die etwas anderes bedeuten als Bei- oder Abträge zur Art- und Selbsterhaltung. Das ist es aber, was die Anthropologie, die Wissenschaft davon, was die Menschen als solche auszeichnet, beantworten muss. Ernst Tugendhat, der die Losung Anthropologie statt Metaphysik in die Welt gesetzt hat, hat dafür leider keinen Finderzeig gegeben, jedenfalls keinen brauchbaren. "In 'gut' ist der Komparativ ('besser') das Primäre. Alles, was wir gut machen, können wir besser machen. ... Das Wort 'gut' bezieht sich immer erstens auf einen Komparativ, der ein Komparativ des Vorziehens ist, und zweitens auf ein solches Vorziehen, das eine Prätention von Objektivität oder zumindest Intersubjektivität erhebt."** Doch trotz der Prämisse der Allgemeingültigkeit bleibt er im Rahmen einer naturalistischen Voraussetzung, denn von logischem Gelten im Unterschied zu sinnlichem Sein ist auf dieser 'komparatistischen' Stufe ja gerade noch nicht die Rede; er soll im Gegenteil relativistisch erüberflüssigt werden. 


Maß für das Vorziehen ist erst noch der Erhaltungswert, und das Bessere wäre, was noch mehr zur Erhaltung beiträgt als das weniger Gute. Das Gute selbst müsste dann als Idee von der maximalen Erhaltung, dem Erhalt-an-sich aufgekommen sein. Weder die Historiker der Mentalitäten noch die Ethnologen, die in Amerika cultural anthropologists heißen, haben aber so ein geistiges Gebilde irgendwo in der Wirklichkeit auffinden können. Auffinden lässt sich allerdings, bis heute und quer durch alle Kulturen, eine Idee des Guten-an-sich. Woher mag die kommen? Aus der im Dunkel der Vorgeschichte untergegangen Idee vom Erhalt-an-sich, die irgendwann einmal aus Quantität 'in Qualität umgeschlagen' wäre? Eine solche Anleihe bei einer der dümmsten Ideen des ohnehin nicht geschätzten Hegel wird Tugendhat doch nicht machen wollen.

Für das Tier sind die Bedeutungen der Dinge immer konkret, sie bedeuten stets dies oder das, und was es ist, ist ihm durch seine physische Organisation, durch den Platz, den es in seinem 
Merknetz einnimmt, vorgegeben. Erkennen muss es das nicht.



Bedeutung als geistige Dimension entsteht aus dem Mangel an ihr: als Frage. Erst im Fragemodus gibt es Bedeutung-an-sich. Das ist ein alter Hut: Verallgemeinerung, Begriff gibt es zuerst in der Verneinung. Dieses Pferd kann ich sehen, ich muss an ihm nichts begreifen. Aber 'die Pferdheit' kommt mir erst in den Blick, wenn ich nach dem suche, was dieses und jedes andere Pferd von allem unterscheidet, was Nicht-Pferdheit ist.

Frage (und Verneinung) gibt es wiederum nur im digitalen Modus der Repräsentation; im begrifflichen Denken. Der Übergang zum begrifflichen Denken, als dem Auszeichnen von Qualitäten durch bedeutende Zeichen, setzt voraus das… Identifizieren von Qualitäten; sie sind ‚das, was‘ im Begriff dargestellt ist, sie sind das Gemeinte.

*

Aber auch das zeigt nur, dass Fragen, Qualitäten und Begreifen genetisch zu einander gehören. In welchen historischen Schritten sie im Einzelnen aus und durch einander entstanden sind, ist ersten nicht in Erfahrung zu bringen und zweitens unerheblich. Dass es geschehen ist, wissen wir, und das reicht.

Aber noch immer nicht wissen wir, warum – nicht aus welchen Ursachen, sondern unter welchen Bedingungen – es geschehen konnte.



...

Ist das essbar? stellt sich dem Tier nicht als Frage. Es versucht; wenn der Versuch scheitert, lässt es von dem Ding ab. Es findet keinen Eingang in sein Merknetz – weil es sich nicht in seinem Wirknetz verfangen hat.

Beim Tier sind Merk- und Wirknetz kongruent; sie ‚bedecken‘ dasselbe Gegenstandsfeld und bilden einen geschlossenen Funktionskreis.
http://universal_lexikon.deacademic.com/240666/Funktionskreis.

Aber die Menschen haben sich, indem sie ihre Umweldnische verlassen hatten, auf die Hinterbeine aufgerichtet und so das Spiel von ‚Gesicht und Hand‘*** begonnen. Während einerseits das überkommene Merknetz obsolet geworden war, hat sich das Wirknetz dimensional erweitert. „Ich kann mit allem was anfangen“**** – aber was?!

Der Funktionskreis ist zerrissen. Zwischen merken und wirken muss als Vermittler die (symbolisierte)Bedeutung rücken, um den Funktionskreis neu zu schließen.. Bedeutung ist ein praktisches Problem.



*) Hypertelie nennt es Adolf Portmann

**) Anthropologie statt Metaphysik, S. 29; 33

***) Leroi-Gourhan, http://erkenntnisethik.blogspot.de/2013/03/andre-leroi-gourhan-hand-und-wort-die_2.html
http://www.anthro.unibe.ch/unibe/philhist/anthro/content/e297/e1386/e3847/e3849/linkliste3889/arbeit-2_ger.pdf
http://www.gib.uni-tuebingen.de/image?function=fnArticle&showArticle=198

1
2
3
4
5

****) „Dem Menschen kann alles bedeutsam werden.“  wer?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen