Dienstag, 29. Mai 2018

Newton schrieb absichtlich unverständlich.



aus derStandard.at, 29. Mai 2018, 06:00

Newtons größter Fehler war, absichtlich kompliziert zu schreiben
Der große wissenschaftliche Revolutionär vertrug Kritik schlecht. Er schrieb "absichtlich verworren", um Leser abzuschrecken – eine wissenschaftliche Unverantwortlichkeit

von Florian Freistetter

Im Jahr 1987 entdeckte der Physikstudent Robert Garisto von der Universität Chicago einen Fehler in einem der einflussreichsten Werke der Naturwissenschaft: dem 300 Jahre zuvor veröffentlichten Buch "Philosophiae Naturalis Principia Mathematica", den "Mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie" von Isaac Newton.

Das, was Newton in diesem Buch der Welt verkündete, hat die moderne Naturwissenschaft gewissermaßen erst begründet. Es ging darin um weit mehr als "nur" um die Formel zur Berechnung der Gravitationskraft. Nicht umsonst nannte er den dritten Band "De mundi systemate", also das "System der Welt". Es war tatsächlich eine in ihrer Allgemeingültigkeit beispiellose Arbeit.

Universeller Durchbruch

Newton zeigte nicht nur, dass man die zwischen zwei Objekten wirkende Gravitationskraft mathematisch berechnen konnte. Seine wirklich große Leistung lag im Nachweis der Universalität dieser Kraft. Die gleichen Gesetze, die die Bewegung der Himmelskörper im Universum bestimmten, galten auch für den Fall eines Apfels oder den Flug einer Kanonenkugel. Die gleiche Kraft war verantwortlich für die Gezeiten, die Form der Erde und die Schwankung der Erdachse. Isaac Newton zeigte der Welt, dass der Kosmos von allgemeingültigen Naturgesetzen bestimmt wird – und dass es möglich ist, diese Gesetze mathematisch zu beschreiben und anzuwenden.

Für diese Leistung gilt er zu Recht als einer der größten Wissenschafter aller Zeiten. Das ändert aber nichts am Befund des Physikstudenten aus dem Jahr 1987: Newton hatte sich verrechnet. Um die Leistungsfähigkeit seiner Theorie zu demonstrieren, berechnete Newton unter anderem Masse und Dichte der Planeten. Dafür waren astronomische Beobachtungsdaten nötig; unter anderem die scheinbare Größe der Erde, von der Sonne aus betrachtet. Laut Newton betrug dieser Wert 10,5 Bogensekunden, in seiner Rechnung verwendete er aber elf Bogensekunden.

Unentdeckt über Jahrhunderte

Vermutlich hatte Newton einfach nur irgendwo bei seinen Rechnungen eine falsche Zahl aufgeschrieben oder zwei Zahlen durcheinandergebracht. Und vermutlich ist dieser Fehler unbemerkt in der endgültigen Version des Buches gelandet. Das ist weder besonders außergewöhnlich noch verwerflich. Man wird kaum ein Buch finden, das keine Druck- oder Tippfehler enthält. Abgesehen davon war Newtons Fehler auch nicht sonderlich tragisch. Seine großen Entdeckungen und seine beeindruckende Beschreibung des Kosmos werden dadurch nicht beeinflusst (und außerdem wissen wir dank der heute viel besseren Instrumente, dass der korrekte Wert sowieso weder 10,5 noch elf Bogensekunden beträgt, sondern 8,8). 


Das wirklich Bemerkenswerte an der Episode über den Physikstudenten, der einen Rechenfehler in Newtons Arbeit fand, ist etwas ganz anderes: nämlich die Tatsache, dass der Fehler 300 Jahre lang unentdeckt geblieben ist. Auch wenn es sich nur um einen nicht sehr bedeutenden Flüchtigkeitsfehler handelt, sollte man eigentlich davon ausgehen, dass ein so epochales Werk im Lauf der Zeit von so vielen Menschen gelesen wurde, dass alle Fehler längst auffallen mussten.

Genau das ist aber bei den "Mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie" nicht der Fall – zumindest nicht in dem Maße, wie es der Bedeutung des Werkes angemessen wäre und wie es auf ähnlich einflussreiche Bücher zutrifft.


"Die Entstehung der Arten" von Charles Darwin etwa findet man immer noch überall in den Buchhandlungen, und bis heute erscheinen neue Ausgaben und Übersetzungen. Auch wenn sich die Biologie seit damals massiv weiterentwickelt hat und vieles aus Darwins Werk veraltet ist, ist sein Buch immer noch eine interessante und spannende Lektüre. 

"Kleine mathematische Stümper"

Die Theorien von Isaac Newton hingegen lehrt man zwar in der Schule und auf der Universität, den Originaltext der "Principia Mathematica" liest aber so gut wie keiner. Das liegt vor allem daran, dass Newtons Buch kaum lesbar ist und auch nie lesbar sein sollte. "Denen, die sich nicht ausreichend mit den Grundlagen vertraut gemacht haben, fällt es schwer, die Stärke der Argumente zu verstehen oder die Vorurteile abzulegen, an die sie viele Jahre lang gewöhnt waren. Um daraus entstehende Debatten zu vermeiden, habe ich mich entschieden, den Inhalt des Buches auf die mathematischen Theoreme zu reduzieren, die von denen gelesen werden sollen, die sich schon ausreichend mit den Grundlagen beschäftigt haben." Das schreibt Newton selbst in der Einleitung zum dritten Band seines Werks.

Newton war bekannt dafür, keine Kritik zu vertragen. Deswegen publizierte er seine Arbeiten nur zögerlich und wenn, dann wie in diesem Fall auf eine Art, die möglichst viele Leser abschreckt. Der Naturphilosoph William Derham schrieb in einem Brief aus dem Jahr 1733, Newton habe ihm erzählt, er habe sein Buch "absichtlich verworren" gemacht, um zu vermeiden, "dass kleine mathematische Stümper auf ihm herumhacken" könnten. Und tatsächlich ist Newtons Werk viel komplizierter, als es sein müsste. Mit dem mathematischen und physikalischen Wissen, das Newton sich mühsam erarbeitet hatte, hätte es viel einfacher formuliert werden können. Aber Newton wollte nicht verstanden werden – und deswegen blieb (und bleibt) eines der wichtigsten Werke der Naturwissenschaft über Jahrhunderte hinweg für die große Mehrheit der Menschen unzugänglich.

Schlechtes Vorbild

Genau das ist der eigentliche Irrtum Newtons, um den es in dieser ganzen Geschichte geht, nicht der simple Rechenfehler (von denen sich in seinem Buch noch einige mehr finden), sondern der Verzicht darauf, seine revolutionären Gedanken auf eine Art und Weise zu formulieren, die allen zugänglich ist – und nicht nur denjenigen, die sich durch die verworren-mathematische Sprache seines Werks kämpfen.

Natürlich haben im Lauf der Zeit viele andere die Gelegenheit ergriffen und Newtons Theorien allgemeinverständlich dargelegt. Aber mit seiner Geringschätzung dafür, was wir heute "Öffentlichkeitsarbeit" nennen, kann Newton nur als schlechtes Vorbild für alle Forscherinnen und Forscher dienen. Die genialste Entdeckung ist nichts wert, wenn sie nicht kommuniziert wird. Das gilt heute noch viel mehr als damals.

Mittlerweile leben wir in einer Welt, die von den Erkenntnissen der Forschung und Technik so stark geprägt ist wie nie zuvor. Wir sollten uns bemühen, die Welt zu verstehen, in der wir leben. Unverständnis führt zu Ignoranz, und die führt haufenweise zu Problemen. Die Kommunikation der Forschung ist ebenso wichtig wie die Forschung selbst, sie sollte daher im Wissenschaftsbetrieb einen ebenso großen Stellenwert haben. Dass das immer noch nicht der Fall ist, ist ebenso unverantwortlich wie Isaac Newtons selbstgewählte Unverständlichkeit.


Nota. - Dass Newton kein Vertrauen in die Scientific Community seiner Zeit hatte, ist ganz unverständlich nicht. Die Universitäten standen noch unter der Vormungschaft der Theologie, die erste rein weltliche Gelehrtengesellschaft, die Académie française, war erst 1630 und seine eigene Royal Society gar erst 1660 gegründet worden, und die Leibniz'sche Sozietät der Wissenschaften in Berlin folgte erst 1700. Aber außerdem genügte es ihm völlig, selbst ein großer Geist zu sein, und für die Wissenschaft fühlte er sich nicht verantwortlich. Er war wohl überhaupt ein sehr unerfreulicher Zeitgenosse
JE

Sonntag, 27. Mai 2018

Das Verstehen folgt im Schlaf.

aus Die Presse, Wien,




Was macht uns just im Schlaf so kreativ?
Ein neues Modell sieht den Schlüssel im Zusammenspiel von REM- und Non-REM-Schlaf.

Die Wissenschaft hat dem Schlaf viel zu danken: Dem Chemiker Kekulè erschien im Traum die Ring- struktur des Benzol, seinem Kollegen Mendelejeff die Periodentafel der Elemente. Auch Otto Loewi, deutscher Pharmakologe an der Uni Graz, hatte einen Schlüsseltraum, 1921 sah er darin, mit welchem Experiment er seine Vermutung bestätigen könnte, dass Nervenzellen mit Botenstoffen kommunizieren, Neurotransmittern.

Er schrieb es nieder, am nächsten Morgen konnte er es nicht entziffern. So hoffte er auf die nächste Nacht: „Um drei Uhr früh kam die Idee wieder“, erinnerte er sich später, nun ging er ins Labor und führte das Experiment durch. Es gelang und trug ihm 1936 den Nobelpreis ein (1938 durfte er, ein Jude, nur unter Zurücklassung des Preisgeldes aus Österreich emigrieren).

Abwechslung der Schlafphasen

Sind das nur milde Erinnerungen an den einen Schlag, mit dem lange Denkmühen ihre Lösung fanden? Heute ist klar, dass im Schlaf der Tag noch einmal durchgegangen wird, Wichtiges wird verfestigt, anderes entsorgt, anderes neu kombiniert, insofern ist man im Schlaf kreativ, das hat sich oft in Experimenten bestätigt, etwa in einem, in dem die Probanden Aufgaben zu lösen hatten, in denen ein Abkürzungsweg verborgen war. Eine Gruppe bekam die Aufgaben morgens und sollte sie am Abend lösen; die andere bekam sie am Abend und überschlief sie: 59 Prozent davon fanden die Abkürzung, bei den anderen nur 23 (Nature 427, S. 352).

Solche Befunde sind unstrittig, die Frage ist nur, in welchem Schlaf Probleme gelöst werden: Wir haben zwei Typen, im einen rollen die Augen wild – rapid eye movement, REM –, im anderen sind wir äußerlich ruhig, Non-REM. In welchem kommt Kreativität? In einem Zusammenspiel beider, schlägt die Psychologin Penelope Lewis (Cardiff) vor, die die Literatur sichtete (und dann wohl darüber schlief): Die Typen wechseln einander ab, etwa im 90-Minuten-Takt, es beginnt mit Non-REM. In dem sind zwei Hirnregionen in enger Kommunikation, der Hippocampus und der Neokortex. In Ersterem lagern Erinnerungen etwa an Ereignisse, in Letzterem Erinnerungen etwa an Ideen und Konzepte.

In dieser Phase überspielt laut Lewis der Hippocampus seine Erinnerungen an den Neokortex, der ordnet sie in Konzepte. Dann kommt REM, die Regionen werden entkoppelt – durch den Neurotransmitter, den Loewi entdeckte: Acetylcholin –, dafür erhöht sich die Kommunikation im Neokortex, das Geordnete wird mit anderen Konzepten verbunden (Trends in Cognitive Science 15. 5.). „Eine Analogie wären zwei Forscher, die erst gemeinsam an einem Problem arbeiten, es dann getrennt durchdenken und dann wieder zusammen kommen“, erklärt Lewis.

Das klingt plausibel, ist allerdings eher spekulativ und hat Schwächen: Es gibt Menschen, die keinen REM-Schlaf haben, etwa einen Israeli, der REM durch einen Unfall verlor. Seine Kreativität litt nicht, er ist erfolgreicher Anwalt und denkt sich in der Freizeit Rätsel für eine Zeitung aus.


Nota. - Von Bewusst-Sein kann da beim besten Willen nicht gesprochen werden. Aber genau darum scheint es zu gehen: Erlebtes nach Vorstellungskomplexen zu ordnen und sie dadurch erinnerbar zu machen. Das ist die Voraussetzung für Reflexion - das Denken in specie.
JE


Samstag, 26. Mai 2018

Die Intelligenz von Bienen und Hummeln.

String-Praxis. Hummeln können komplizierte Aufgaben lösen, etwa an einer Schnur Gefäße unter einer Scheibe hervorziehen. Für Lars Chittka, der sein Verhältnis zu den Hautflüglern gerne über seine Kleidung kommuniziert, ist das Intelligenz.

Im heutigen Tagesspiegel berichtet Richard Friebe über den britischen Bienenforscher Lars Chittka, der zur Zeit am Berliner Wissenschaftskolleg forscht. In Berlin hat er in den 80er Jahren seine Leidenschaft für Bienen und Hummeln entwickelt.

... Zu den Annehmlichkeiten, die er hier genießt, gehört „dieser unglaubliche Bibliotheksservice“, sagt Chittka, die Hände im Genick verschränkt. Ein Buch, das ihm der fleißige Bienenstock von Mitarbeiterin- nen und Mitarbeitern hier innerhalb weniger Tage besorgt hat, stammt von einem Francois Huber. Der blinde schweizerische Privatgelehrte beschrieb darin schon vor über 200 Jahren etwas, das für Chittka ein Beleg dafür ist, dass Bienen nicht nur viel lernen können, sondern dass ihre geistigen Fähigkeiten weit größer sind als man es ihnen je zugetraut hätte. Huber beobachtete mit Hilfe seines Dieners und dessen Frau unter anderem, wie Honigbienen ihre normalerweise flachen Waben 90 Grad um die Ecke weiter- bauen, sobald auf der Seite des Nestes, wo die Wabe eigentlich enden sollte, eine für das Anheften ungünstige Glasscheibe angebracht wird. Keiner weiß, wie sie das machen, wie sie die Veränderung bemerken und dann vereint derart präzise umplanen. Einen solchen „Plan“ zu haben und diesen auch anpassen zu können – die Konsequenzen des eigenen Handelns vorherzusehen – ist für Chittka ein Zeichen von Bewusstsein.

Hummeln schauen sich Problemlösungen ab

Er meint, Hinweise auf solch flexibles, vorausschauendes Verhalten nicht nur bei jenen gerne auch als „Superorganismen“ bezeichneten Kolonien zu sehen, sondern auch bei Individuen von Honig- und Wildbienen, Wespen und Hummeln. Mit letzteren, die auch zur Gruppe der Bienen gehören, machen er und seine derzeit etwas vernachlässigten Mitarbeiter an der Queen Mary University viele ihrer Experimente. Dass das Verhalten dieser Tiere weit jenseits von reinen Reiz-Reaktions-Mustern und simplen Lernprozessen liegt, zeigen viele solcher Versuche.

Insekt am Zug
Insekt am Zug

Hummeln etwa lernen nicht nur, dass am gelben Töpfchen die Zuckerlösung ist, weil sie mehrfach die Gelegenheit bekommen haben, das volle gelbe und das leere rote Töpfchen zu testen. Sie erarbeiten sich etwa auch die Technik, ein Nektargefäß an einem Bindfaden unter einer Glasscheibe hervorzuziehen (siehe Abbildung). Und wenn sie vor einer solchen schwierigen Herausforderung wie „Nektar von Glasscheibe verdeckt“ stehen, versuchen sie sich bei anderen abzuschauen, wie diese an das Futter kommen. „Das ist ist ein kulturelles Phänomen“, sagt Chittka. Sie können das, was richtig ist – also Futter bringt – sogar indirekt aus Beobachtungen ableiten, „zeigen also auch Verhaltensweisen, die sie so gar nicht gelernt haben“, sagt Chittka.

Bienen leben "in einer uns fremden Welt"

Sind das Zeichen für Intelligenz und Bewusstsein? Das sei „auch eine Definitionsfrage“. Allerdings gehören Aufgaben, bei denen Bienen sogar oft besser abschneiden als manch ganz normaler Mensch – etwa räumliche Orientierung, Kategorien bilden, Symbole verstehen, Regeln lernen – zu jedem einigermaßen seriösen Intelligenztest. Tatsächlich geht Chittka aber die Diskussion, was Bienen oder andere Tiere so gut wie oder vielleicht sogar besser können als Menschen, sogar auf die Nerven. Denn Bienen sind eben keine Menschen. Sie haben ein völlig unterschiedliches Nervensystem, können anderes wahrnehmen, etwa Magnetfelder oder polarisiertes Licht. „Sie leben in einer uns fremden Welt“, sagt Chittka.

Dass gerade Bienen immer wieder Fähigkeiten zeigen, die man einem Gehirn von der Größe eines Staubkorns oder – bei großen Arten – maximal eines Stecknadelkopfes eigentlich nicht zutrauen würde, hat für Chittka gleich mehrere Implikationen. Es zeige einerseits, dass die Fähigkeiten eines Nervensystems nicht mit dessen Größe wachsen, sondern eher mit seinen Aufgaben. Im Unterschied zu anderen Insekten etwa müssen Bienen sich extrem gut orientieren können, um Futterplätze zu suchen, wiederzufinden und auch immer wieder zum Nest zurückkehren zu können. Sie müssen ihre Wege optimieren und dafür alle möglichen Informationen integrieren – vom Energieaufwand für eine Strecke bis hin zu Qualität und Quantität einer Futterquelle. Im Vergleich etwa zu einer Stechmücke, die nicht viel mehr können muss als Opfer, Paarungspartner und Plätze für die Eiablage zu identifizieren, haben Bienen also ein deutlich anspruchsvolleres Leben. Andererseits könnte man, wenn man die Prozesse im Mini-Bienenhirn verstünde, potenziell auch Hardware und Programme entwickeln, die ebenfalls auf extrem wenig Raum und mit extrem geringem Energieaufwand hochkomplexe Rechenleistungen ermöglichen. Das ist ein Grund, warum Chittkas Arbeit unter anderem auch vom britischen Ingenieurswissenschaftsrat finanziert wird.

"Unglaubliche" Navigationsleistungen

Beim Spaziergang durch das grüne Grunwald zeigt Chittka auf ein „Bienenhotel“. Es besteht aus einer Menge durch ein kleines Dach geschütztem, löchrigem Holz. Einzeln lebende Wildbienen können dort ihre Eier ablegen und mit Pollen- und Nektarvorräten ausstatten. Und jede findet immer wieder und auch nach kilometerweiten Ausflügen genau ihr Nest, auch wenn das nächste zwei Millimeter daneben genau so aussieht. „Das sind unglaubliche Leistungen und es ist gut möglich, dass es ab einem gewissen Punkt sogar ökonomischer war, sich nicht auf einzelne, im Nervensystem fest verdrahtete und erblich weitergegebene Schaltkreise zu verlassen“, sagt Chittka, sondern auf ein System, das deutlich „offener“ sei. Vielleicht sei dies sogar schon sehr früh in der Evolution passiert und einer der Gründe, warum das tierische Leben sich vor gut 500 Millionen Jahren plötzlich so rasant entwickelte.

Am Sonntag, 27.5.2018, um 20 Uhr, hält Lars Chittka am Wissenschaftskolleg seinen Vortrag „Können Bienen denken?“ Infos und Anmeldung unter: wiko-berlin.de/veranstaltungen


Nota. - Wie immer man Intelligenz definiert - die intellektiven, "durchblickenden" Fähigkeiten der Bienen und Hummeln dürften in die Definition passen.

Mit dem Bewusstsein ist es ganz was anderes. Es hat nur einen Sinn, wenn es eine Intelligenz bezeichnet, die ihrer selbst 'bewusst' wird. Nämlich indem sie sich und die Dinge außer ihr von einander unterscheidet, um sich zu ihnen in ein Verhältnis zu setzen; allgemein gesprochen: aus einem unbestimmten Zustand in einen bestimmteren zu versetzen. Das geschieht nicht 'von allein', sondern mit Absicht [denn das ist es, was wir unter Absicht verstehen].

Einem Lebewesen Bewusstsein zuschreiben bedeutet, ihm die Fähigkeit zuschreiben, seine Absichten aus eigenem Antrieb (sponte sua) zu fassen und nicht blindlings einem genetischen Progamm zu folgen. Das wird man Bienen und Hummeln wohl nicht nachsagen können, so komplex ihre intellektiven Leistungen immer seien.

Aber philosophisch und gar transzendental philosophisch sind sie doch. In der Vernunftkritik ist stets ein- schränkend die Rede von unserer "endlichen"  Intelligenz - im Unterschied zu einer möglichen 'höheren', unendlichen Intelligenz (die nur die Intelligenz des Schöpfers sein könte, der selbst noch das Ding an sich durchschaut, weil er es ja erschaffen hat). 

Die auch nur hypothetische Annahme einer solchen höheren Intelligenz ist aber theoretisch gar nicht zu- lässig. Es bliebe der Reflexion also nur 'unsere endliche' Intelligenz ohne eine sie spezifizierenden Gegen- satz. Da kommen Bienen und Hummeln gerade recht. Während man die intellektiven Fertigkeit der Säuge- tiere* noch weitgehend unter Bezug auf die menschlichen beschreiben kann, und zwar durch mehr oder we- niger, leben die Bienen (Insekten) "in einer anderen Welt", und das ist der springende Punkt: Die Intelli- genz ist, nach Form und Gehalt, eine andere, weil die Welt, der sie gilt, eine andere ist. Oder umgekehrt? Aber das wäre ja dasselbe. 

Eins bleibt aber übrig: Unsere Intelligenz entspricht nach Form und Gehalt unserer Welt, oder umgekehrt. Einen andern Gegensatz, der sie bestimmen könnte, braucht sie gar nicht.

*) Fledermäuse und Meeressäuger fielen schon ein bisschen aus dem Rahmen.
JE



 

Montag, 21. Mai 2018

Nominaler Stil - im Reden und Denken.

 aus derStandard.at,15. Mai 2018, 12:36

Substantive verlangsamen den Redefluss, Verben dagegen kaum
Laut Linguisten sind Substantive schwieriger zu planen, weil sie meist neue Informationen beinhalten

Zürich/Amsterdam – Wenn wir sprechen, sprechen wir unbewusst einige Wörter langsamer aus als andere. Manchmal machen wir kurze Pausen oder werfen Laute wie "Äh" ein. Solche Verlangsamungseffekte liefern wichtige Hinweise darauf, wie unser Gehirn die Sprache verarbeitet. Sie weisen auf Schwierigkeiten bei der Planung der Äußerung eines bestimmten Wortes hin. Nun zeigt sich, dass wir solche Unterbrechun- gen im Redefluss vermehrt vor Substantiven einfügen. Vor Verben hingegen gibt es viel weniger Verlangsa- mung und Pausen, wie Forscher der Universität Zürich um Balthasar Bickel gemeinsam mit Kollegen der Universität Amsterdam herausfanden.

Die Wissenschafter untersuchten, wie Verlangsamungseffekte in verschiedenen Sprachen funktionieren und analysierten dafür tausende Sprachaufnahmen von sprachlich und kulturell verschiedenen Bevölkerungs- gruppen aus aller Welt. Darunter waren Sprachen aus dem Amazonas-Regenwald, aus Sibirien, dem Hima- laja und der Kalahari-Wüste, aber auch Englisch und Niederländisch. Die Linguisten maßen die Äuße- rungsgeschwindigkeit in Lauten pro Sekunde und stellten fest, ob die Sprecherinnen und Sprecher entweder vor Substantiven wie "Freund" oder Verben wie "gehen" eine kurze Pause einlegten.

Schwerer planbare Substantive

Sie entdeckten, dass es in dieser vielfältigen Auswahl an Sprachen eine starke Tendenz gab: Während die Sprecher vor Substantiven häufiger Pause machten, taten sie dies vor Verben kaum. Der Grund dafür ist, dass Substantive schwieriger zu planen sind, weil sie normalerweise nur verwendet werden, wenn sie neue Informationen beinhalten. Andernfalls werden sie durch Pronomen ersetzt oder weggelassen.

Solche Ersetzungsprinzipien gelten hingegen nicht für Verben. Sie werden in der Regel unabhängig davon verwendet, ob sie neue oder alte Informationen darstellen, wie die Wissenschafter in der Fachzeitschrift "PNAS" berichteten. Sie stellten zudem fest, "dass Englisch, auf dem die meisten Forschungen basieren, das außergewöhnlichste Verhalten in unserer Studie zeigt", wurde Bickel in einer Mitteilung der Uni Zürich zitiert. Daher sei es wichtig, bei solchen Untersuchungen mehrere Sprachen zu berücksichtigen, etwa auch kleinere, gefährdete Idiome aus der ganzen Welt.

Wie das Gehirn Sprache verarbeitet

Die Befunde helfen laut den Autoren, zu verstehen, wie das menschliche Gehirn Sprache verarbeitet. Dies könnte angesichts der Herausforderungen, vor denen die sprachliche Kommunikation im digitalen Zeitalter steht, wichtige Aufschlüsse liefern. So kommunizieren die Menschen mehr und mehr mit künstlichen Systemen – Systemen, die vor Substantiven nicht verlangsamen, wie es der Mensch natürlicherweise tut. (APA, red.)

Abstract
PNAS: "Nouns slow down speech across structurally and culturally diverse languages."



Nota. - Die nächstliegende Vermutung: Wer zum nominalen Stil neigt, denkt mehr nach. Gleich anschlie- ßende Vermutung: Sprachen, die - wie die Abkömmlinge des Lateinischen - die Nomina privilegieren, erziehen zum Überlegen.

Aber das liegt zu nahe, um es ungeprüft zu lassen. Denn der Widerpart zum Reden ist das Verstehen. Deut- lich wird es an Sprechen, die, wie das Deutsche, die Nomina deklinieren: Das deklinierte Nomen steht zu andern Nomina im Verhältnis, und zwar in einem hierarchischen; das eine ist dem andern vor- oder überge- ordnet. Bei deklinierenden Sprachen liegt die Mühe der Festlegung beim Sprecher. Bei nicht deklinierenden Sprachen liegt die Entschlüsselung beim Hörer. Was ist mühseliger?

Tun wir einen Schritt zurück. Nomina heißen im Deutschen vorzugsweise Substantive. Da steckt die Sub- stanz drin, das, was der (wechselhaften) Erscheinung - der Form - (dauerhaft) zu Grunde liegt. Eine mit Substantiven getrüffelte Sprache vermittelt ein Weltbild: eines, das von statischen Wesenheiten, von Be- stimmtem und Währendem geprägt ist. Vermitteln tun sie sich untereinander und ganz von allein: durch Deklination. 

Im Französischen etwa kann man verschachtelte Bandwurmsätze schreiben, in denen es von Substantiven wimmelt - und die ganz am Schluss lediglich von einem Hilfsverb - être oder avoir - zusammengehalten werden. Die hierarchische Ordnung der Nomina gerät ins Schwimmen, was sie jeweils einzeln bedeuten sollen, wird völlig unklar. Der nominale Stil spiegelt eine Beständigkeit vor, die es gar nicht gibt.*

Sprachen wie das Deutsche und wohl alle andern germanischen Sprachen, die mehr auf den Zeitwörtern aufbauen, sind erstens dynamischer und stellen zweitens statt der Substantive die Handlungen und eo ipso die Handelnden in den Vordergrund. Es gibt weniger feste Größen, bloßes Wiederkennen reicht nicht, man muss sich aktiv immer selber etwas vorstellen. An Präzision bleibt viel zu wünschen, oftmals müssen latei- nische Fremdwörter - Substantive - den germanischen Sprachen unter die Arme greifen. Aber das ist kein Problem - solange es nicht zu viele sind.

*) Der Philosoph J. G. Fichte gilt wegen seiner Reden an die deutsche Nation als geistiger Vater des deut- schen Nationalismus. Allerdings handelten sie nicht vom Aufstand gegen Napoleon, sondern von einem nationalen Erziehungprogramm. Die Deutschen wären nämlich noch keine Nation, sondern müssten sich dazu erst bilden. (Statt einen Begründer des deutschen Nationalismus, müsste man Fichte eher den Vater der deutschen Bildungsidee nennen.)

Die Hauptrolle maß er dabei der Sprache bei. Denn nicht ethnisch hielt er Deutsche und Franzosen für unter- schieden: Die Franzosen seien die Nachkommen der Franken und also ursprünglich selber ein deutscher Stamm. Der Unterschied bestünde nur darin, dass sie im Laufe der Geschichte eine "neulateinische", nämlich französische Sprache angenommen hätten. Er hielt das zeitwörtliche dynamische Deutsche dem nominalen statischen Französisch für überlegen - aber auch dies nur zeitbedingt: Seit Langem habe Französisch in Euro- pa dominiert und die einheimischen Sprachen unter Napoleon vollends an die Wand gedrückt, da sei es Zeit, gegenzusteuern. - Später, unter veränderten Umständen, könnte sich das Verhältnis aber durchaus auch um- kehren...
JE


Samstag, 19. Mai 2018

'Gedächtnis'-Spur.

Aplysia, das Labortier der Gedächtnisforscher: An den riesigen Nervenzellen der Meeresschnecke lässt sich unser Gedächtnis studieren. 
aus DiePresse.com,

Wo wohnt die Erinnerung? 
Das Gedächtnis lebt von Verbindungen zwischen Nervenzellen, so steht es in den Büchern. An einer Meeresschnecke zeigt sich, dass in den Zellen erinnert wird.

 

In seiner Kurzgeschichte „Das unerbittliche Gedächtnis“ spielte Jorge Luis Borges durch, dass es nicht nur das Grauen des Erinnerungsverlusts gibt, das mit dem Alter droht. Sondern auch das gegenläufige, das des Nicht-vergessen-Könnens: Der Proponent erinnert sich an jedes Detail seines Lebens und des Weltgeschehens, irgendwann bricht er unter der lähmenden Last zusammen und setzt seiner Existenz ein Ende. Das tun in der Realität auch manche, die von einer einzigen Erinnerung verfolgt werden, einer fürchterlichen, etwa die an einen Unfall oder, häufiger, an ein Erlebnis im Krieg.

Die Medizin hat einen Namen dafür – posttraumatic stress disorder –, viel mehr hat sie nicht, es gibt nur ein Medikament – Propranolol –, das muss rasch nach dem traumatisierenden Erlebnis verabreicht werden. Es verhindert die Bildung bzw. Stärkung von Synapsen, Verbindungen zwischen Nervenzellen des Gehirns, die sorgen für Erinnerung auf Dauer, so steht es seit Jahrzehnten in den Büchern.

Aber vor vier Jahren bemerkte Neurobiologie David Glanzman (UC Los Angeles) etwas ganz anderes, am Labortier vieler Gedächtnisforscher, der Meeresschnecke Aplysia, die ist riesig – 20, 30, 40 Zentimeter lang –, und sie hat enorme Zellen im Zentralnervensystem, deshalb studiert man das an ihnen. Glanzman tat es mit Tieren, denen er am Körperende einen Elektroschock versetzte. Darauf reagierten sie mit einem Abwehrreflex, und der stellte sich später auch ein, wenn die Tiere nur leicht berührt wurden, nicht geschockt: Sie haben eine Erinnerungsspur aufgebaut, ein Engramm.

„Gedächtnisspur nicht in Synapsen“

Das ist ein Routineexperiment, Glanzman erweiterte es, er entnahm Aplysia-Zellen, die sich in Reaktion auf den Schmerz mit Synapsen verbunden hatten, platzierte sie in Petrischalen und gab Propranolol dazu. Das schaffte Synapsen weg. Aber nicht die Erinnerung, die war nach 48 Stunden noch da, wenn an den Schock erinnert wurde (eLife e03896): „Das impliziert für mich, dass die Gedächtnisspur nicht in den Synapsen gespeichert wurde“, interpretierte Glanzman.

Wo dann? Es konnte nur irgendwo in den Nervenzellen selbst geschehen sein. Aber wo und wie? Darauf bietet Glanzman nun eine Antwort, wieder gewonnen an Aplysia, die er einem Elektroschock aussetzte. Dann entnahm er ihnen RNA eines besonderen Typs und injizierte sie in Gehirne von Schnecken, die den Schock nicht erlebt hatten. Nun erinnerten sie sich an das, was sie nicht erlebt hatten: Auf die leichte Berührung folgte der Abwehrreflex (eNeuro 14. 5.). „RNA ist ausreichend für Langzeiterinnerung in Aplysia“, interpretiert Glanzman diesmal und vermutete epigenetische Effekte dahinter – das sind durch Umwelteinflüsse geänderte Genaktivitäten –, an denen man pharmakologisch ansetzen könnte, gegen das böse Vergessen und das böse Erinnern, sofern es nur in unseren Gehirnen auch so zugeht wie bei Aplysia.


Nota. - So ergibt die Meldung immerhin einen Sinn: Dass 'Erinnerungen' (auch) in Gliedmaßen gespeichert wird, war bekannt. Der springende Punkt bei diesem Experiment war aber: Bei der Transplantation wurde die 'Gedächtnis'-Spur über die RNA ins Gehirn weitergegeben, und dort wurde sie gespeichert und leistete ihren Dienst, obwohl sich keine Synapsen gebildet hatte. Das ist allerdings überraschend.

Merke: Man kann Wissenschaftsjournalismus seriös betreiben - wenn man nämlich die richtigen Wissen- schaftsjournalisten hat. Und da ist nicht eine Zeitung so gut wie die andere.
JE


Donnerstag, 17. Mai 2018

Schlanke Vernetzung.

lean management
aus derStandard.at, 16. Mai 2018, 07:00

Intelligente Menschen haben weniger vernetzte Neuronen im Großhirn
Forscher stellen bei MRT-Untersuchung fest: Intelligenz hängt mit Anzahl der Zellfortsätze zusammen

Bochum – Internationale Wissenschafter haben eine paradox klingende Entdeckung gemacht: Je intelligenter ein Mensch ist, desto weniger vernetzt sind die Nervenzellen in seiner Großhirnrinde. Die Forscher um Erhan Genç und Christoph Fraenz von der Ruhr-Universität Bochum gelangten gemeinsam mit Kollegen aus Berlin und den USA zu dieser Erkenntnis, nachdem sie Probanden mit einer besonderen Form der Magnetresonanztomografie (MRT), die Einblicke in die mikrostrukturelle Verschaltung des Gehirns erlaubt, untersucht hatten.

Die Wissenschafter untersuchten die Gehirne von 259 Männern und Frauen mittels Neurite Orientation Dispersion and Density Imaging. Mit dieser Methode konnten sie in der Großhirnrinde die Menge an Zellfortsätzen, sogenannten Dendriten, messen, mit denen eine Nervenzelle Kontakt zu anderen Nerven- zellen aufnimmt. Alle Testteilnehmer absolvierten außerdem einen Intelligenztest. Dann setzten die Forscher die Daten in Beziehung zueinander und stellten fest: Je intelligenter ein Mensch ist, desto weniger Dendriten besitzt er in der Großhirnrinde.

Zweiter Datensatz bestätigt Befund

Anhand eines unabhängigen öffentlich zugänglichen Datensatzes, der im Human-Connectome-Projekt erhoben worden war, bestätigte das Team das nun im Fachjournal "Nature Communications" präsentierte Ergebnis. Der Zusammenhang zwischen Dendritenmenge und Intelligenz trat auch in dieser Stichprobe auf, die rund 500 Leute umfasste.

Mit den neuen Erkenntnissen lassen sich zuvor widersprüchliche Ergebnisse aus der Intelligenzforschung erklären. Diese hatten zum einen ergeben, dass intelligentere Menschen tendenziell größere Gehirne besitzen. "Man ging davon aus, dass größere Gehirne mehr Nervenzellen enthalten und somit eine höhere Rechenleistung erzielen könnten", sagt Genç.

Effiziente Vernetzung

Andere Studien ergaben allerdings, dass intelligentere Menschen, trotz ihrer vergleichsweise hohen Anzahl an Nervenzellen, weniger neuronale Aktivität beim Bearbeiten eines Intelligenztests zeigen als die Gehirne von weniger intelligenten Menschen. "Intelligente Gehirne zeichnen sich durch eine schlanke, aber effiziente Vernetzung ihrer Neurone aus", resümiert Genç. "Dadurch gelingt es, eine hohe Denkleistung bei möglichst geringer neuronaler Aktivität zu erzielen." (red.)

Abstract
Nature Communications: "Diffusion markers of dendritic density and arborization in gray matter predict differences in intelligence."



aus scinexx

Sind kluge Köpfe weniger stark vernetzt? 
Gehirne intelligenter Menschen scheinen schwächer verschaltet zu sein
Weniger ist mehr: Je intelligenter ein Mensch ist, desto weniger vernetzt sind die Nervenzellen seiner Großhirnrinde. Zu diesem überraschenden Ergebnis kommt nun eine Studie mit Beteiligung deutscher Forscher. Demnach ist das Gehirn bei intelligenteren Personen schlank, aber effizient verschaltet. Dies könnte womöglich einige frühere, widersprüchliche Ergebnisse aus der Intelligenzforschung erklären, wie das Team im Fachmagazin "Nature Communications" berichtet.

Die Grundlagen des menschlichen Denkens faszinieren Wissenschaftler und Laien seit jeher. Unterschiede in kognitiven Leistungen werden dabei vor allem auf individuell unterschiedlich ausgeprägte Intelligenz zurückgeführt. Klar ist inzwischen, dass diese Fähigkeit unter anderem durch die Gene beeinflusst wird. Doch was macht ein intelligentes Gehirn genau aus? Das beginnen Forscher erst nach und nach zu verstehen.

Studien haben ergeben, dass intelligentere Menschen tendenziell größere Denkorgane besitzen. Zudem scheint ihr Gehirn bei kognitiven Herausforderungen andere Aktivitätsmuster zu zeigen. Auch die Vernetzung spielt offenbar eine Rolle. So legte eine erst kürzlich veröffentlichte Untersuchung nahe: Bei "Intelligenzbestien" sind bestimmte Hirnregionen stärker miteinander verschaltet, andere dagegen jedoch schwächer vernetzt.

Blick in die Großhirnrinde

Diesem Zusammenhang haben sich nun auch Wissenschaftler um Erhan Genç von der Ruhr-Universität Bochum gewidmet. Dafür untersuchten sie die Gehirne von 259 Männern und Frauen mithilfe einer speziellen Form der Magnetresonanztomografie, dem Neurite Orientation Dispersion and Density Imaging. Dank dieser Methode konnten die Forscher in der Großhirnrinde die Menge an Zellfortsätzen messen, mit denen eine Nervenzelle Kontakt zu anderen Nervenzellen aufnimmt - den sogenannten Dendriten. Alle Probanden absolvierten zudem einen Intelligenztest.

Die Auswertung ergab Überraschendes: Je besser die Teilnehmer im Intelligenztest abgeschnitten hatten, desto weniger Dendriten besaß ihr Cortex. Insgesamt, so scheint es demnach, überwiegt bei intelligenteren Menschen die schwächere und nicht die stärkere Vernetzung im Gehirn. Dieses Ergebnis bestätigte auch ein unabhängiger, öffentlich zugänglicher Datensatz des Human-Connectome-Projekts: In der rund 500 Menschen umfassenden Stichprobe zeigte sich der Zusammenhang zwischen Dendritenmenge und Intelligenz ebenfalls.

Erklärung für Widersprüche?

Nach Ansicht der Forscher könnten die neuen Erkenntnisse einige widersprüchliche Ergebnisse aus der Intelligenzforschung erklären. "Man ging davon aus, dass größere Gehirne mehr Nervenzellen enthalten und somit eine höhere Rechenleistung erzielen", sagt Genç. Andere Studien ergaben allerdings, dass intelligentere Menschen trotzdem weniger neuronale Aktivität beim Bearbeiten eines Intelligenztests zeigen als die Gehirne von weniger intelligenten Menschen.
 

"Intelligente Gehirne zeichnen sich durch eine schlanke, aber effiziente Vernetzung ihrer Neurone aus", resümiert Genç. "Dadurch gelingt es, eine hohe Denkleistung bei möglichst geringer neuronaler Aktivität zu erzielen." Bereits zuvor hatten Wissenschaftler vermutet, dass die geringere Verschaltung bestimmter Hirnbereiche zum Beispiel dabei hilft, sich zu fokussieren und Unwichtiges auszublenden.

Nichtsdestoweniger bleiben noch viele Fragen offen und manch ein Widerspruch ungeklärt. Wie kluge Köpfe wirklich vernetzt sind und ob es das typische intelligente Gehirn überhaupt gibt, das wird Neurowissenschaftler wohl auch in den nächsten Jahren weiter intensiv beschäftigen. (Nature Communications, 2018; doi: 10.1038/s41467-018-04268-8)
(Ruhr-Universität Bochum, 16.05.2018 - DAL)


Nota. - Das ist nun aber wirklich mal eine Neuigkeit! Bislang meinte man, und das war ja auch plausibel: je mehr Synapsen, je weiter die Vernetzung, umso größer die Intelligenz. Nun erfahren wir: Auf die Menge kommt's gar nicht an. Kluge Leute haben ein weniger vernetztes Gehirn. Heißt das nun: je weniger vernetzt, umso intelligenter? Nein nein, es kommt darauf an, dass ein weniger vernetztes Gehirn "effizienter genutzt" wird!

Stellt sich freilich die Frage: Worin besteht die effizientere Nutzung? Wo ist sie lokalisiert, wie ist sie co- diert? Woran erkennt man sie (in ihrem Verfahren, nicht erst in ihrer Leistung)? Anstelle einer Antwort eine neue Frage, und die ist viel schwerer; aber auch interessanter. 

Denn dann läge die 'Intelligenz' schon in der Anlage selbst - nicht erst in ihrer Nutzung. Wäre das materielle Substrat der Intelligenz das schiere Ausmaß der Vernetzungen, stünde sie ja immer noch vor der Aufgabe, sich darin zurechtzufinden - und erst das wäre ihre eigentliche Leistung. Aber es liegt offenbar schon in der Architektur der Vernetzung und ist daher mehr als bloß 'materielles' Subtrat. Es läge bereits ein intelligent design zugrunde.  

Und zu bedenken: Die Architektur ist vermutlich nicht ein für allemal gegeben, sondern plastisch und wird ständig umgebaut.
JE





Mittwoch, 16. Mai 2018

Bewusstseinstransplantation.

Geringelter Seehase Aplysia dactylomela Gezeitentümpel La Gomera Kanarische Inseln Kanaren Sp  
aus Süddeutsche.de, 15. Mai 2018, 15:14 Uhr                                  Meeresschnecke Aplysia

Gedankenübertragung

Wie Biologen Erinnerungen verpflanzt haben wollen
 
Von Kathrin Zinkant
 
Die Idee könnte gruseliger kaum sein: Man erlebt etwas, speichert das Erlebte in seinem Gedächtnis - und dann kommt jemand mit einer Spritze und saugt diese Erinnerung ab. Und das auch noch, um sie auf jemand anderen zu übertragen.

Unvorstellbar? Nicht ganz. Für die Meeresschnecke Aplysia ist die Science-Fiction-Idee vom transplantier- ten Gedächtnis nämlich Realität geworden. Wie eine Studie im Fachjournal eNeuro nahelegt, haben Neurowissenschaftler der University of California in Los Angeles ein erlerntes Verhalten erfolgreich von einer Schnecke in eine andere, untrainierte Schnecke verpflanzt.

Die Forscher übten am Körperende der Spendertiere dabei zunächst eine Reihe von starken Reizen aus, bis die Tiere eine gleichbleibende Schutzreaktion zeigten. Dann entnahmen sie Zellflüssigkeit aus dem Nervengewebe der auch als Seehasen bekannten Weichtiere und spritzten sie in die entsprechenden Neuronen von Seehasen ohne Reizerfahrung.

Die Schnecken können sich nicht bewusst erinnern

Tatsächlich zeigten diese Schnecken nun ebenfalls eine starke Schutzreaktion, obwohl sie dem Reiz zuvor gar nicht ausgesetzt waren. Die Wissenschaftler erklären den Effekt mit einem sogenannten epigenetischen Prozess. Demnach bilden die Nervenzellen der trainierten Tiere auf den Reiz hin winzige Botenmoleküle, RNAs. Diese Signalstoffe wiederum vermitteln winzige Veränderungen an der Oberfläche des Erbguts, beeinflussen die Aktivität der Gene und initiieren eine Verhaltensänderung.

Der Effekt ist aber nicht von den Zellen abhängig, in denen der Erfahrungsprozess stattgefunden hat. Er lässt sich durch die RNA direkt auf fremde, ungeprägte Nervenzellen des gleichen Typs übertragen.

Von transplantierten Erinnerungen zu sprechen, wäre aber trotzdem übertrieben: Die Schutzreaktion der Schnecken ist ein Reflex und somit eine einfache neurologische und biochemische Reaktion auf einen mehrfach wiederholten Reiz. Die Forscher konnten zwar zeigen, dass die Anleitung für dieses Verhalten in Form von RNA gespeichert und somit übertragbar wird. Bewusst erinnern sich die Schnecken dabei aber nicht. Zudem werden Erinnerungen an Erlebnisse und Personen beim Menschen in weit komplexeren Nervennetzen gespeichert, als die Meeresschnecke Aplysia selbst vorweisen kann. Dass sich der Schneckeneffekt beispielsweise für Alzheimerpatienten nutzen lässt, bleibt daher zweifelhaft.


Nota. - Wenn einer was kann, dann ist es ihm entweder genetisch angestammt, oder er hat es erlernt. So weit so alt. Das Entweder-Oder ist freilich seit der Entdeckung der Epigenetik nicht mehr so kategorisch: Was die Eltern erlernt haben, kann den Kindern vererbt werden. Was in der Gattung die Mutationen ver- richten, besorgt beim Individuum die Methylierung der Gen-Enden. 

Problematisch war immer und bleibt, was unter lernen verstanden werden soll. Setzt es Verstehen voraus, oder reicht häufiges Üben in Verbindung mit bestimmten physiologischen Reizen? Und da sagt der gesunde Menschenverstanf: Für Routineleistungen reicht das eine, fürs Lösen von Problemen wird das andere nötig. Im einen Fall wird das Gelernte in der Physis gespeicheert, im andern im Intellekt. Intellekt ist specie ist Reflexion: Reflexion auf das Gespeicherte. 

Auch das Speichern im Gehirn ist ein physiologischer Vorgang. Doch das Suchen und Vergegenwärtigen des Erinnerungsgehalts ist eine intellektuelle Leistung. Wo aber das Speichern nicht im Gehirn geschah, sondern in einem besonderen Körperteil, ist ein Gehirn beim Wiederabrufen auch nicht beteiligt. Wird be- sagter Körperteil transplantiert, wird die Reiz-Reaktion-Verkettung mitverpflanzt. Ich wüsste nicht, was daran eine neue Erkenntnis wäre.

Es ist bloße Sensationsmache. Man redet von Erinnerung und schreibt obendrüber: Gedanken übertragung. Und unten drunter setzt man: Von Gedanken kann aber nicht die Rede sein. So wird immerhin ein Zei- tungsartikel draus. Doch die Sprache hat ihre Untiefen. Auch ich habe geschrieben, dass der physiologi- sche Vorgang der Methylierung etwas besorgt. Ja ja, so fängt's an.
 
PS. Eben höre ich: Das Neue an der Untersuchung sei, dass besondere Körperteile selbstständig und ohne Gehirn 'lernen' können. Das sei zuvor gar nicht erwiesen gewesen...
JE

 

Dienstag, 15. Mai 2018

Wenn mein Hirn trotzt.

aus derStandard.at, 15. Mai 2018, 07:00

Den neurobiologischen Grundlagen des Trotzverhaltens auf der Spur
Forscher untersuchten Gehirnprozesse, die bei Entscheidungsprozessen ablaufen. Trotzverhalten spiegelt sich demnach in der Aktivität bestimmter Areale wider.

Bern – Viele Menschen reagieren auf Vorschriften mit Trotz, andere sind hingegen froh, wenn ihnen eine Entscheidung abgenommen wird. Schweizer Wissenschafter haben nun die Gehirnprozesse untersucht, die den unterschiedlich starken Drang nach Entscheidungsfreiheit erklären könnten. Ihre Ergebnisse sind nun im "Journal of Neuroscience" erschienen.

Die Forscher um Daria Knoch und Sarah Rudorf von der Universität Bern untersuchten gemeinsam mit Kollegen der Universität Konstanz 51 Personen im Hirnscanner, während diese Entscheidungen treffen mussten. So mussten die Probanden Geld zwischen sich und einer anderen Person aufteilen. Die zweite Person ließ ihnen dabei entweder die freie Wahl oder schrieb ihnen vor, die unfairste Aufteilung nicht zu wählen.

Die Gehirnaktivität der Testpersonen wurde mittels Magnetresonanztomographie aufgezeichnet. Zudem wurden die Teilnehmenden zu ihren Emotionen während der Entscheidungsfindung befragt. Das Ergebnis: Wurde die Entscheidungsfreiheit der Testpersonen eingeschränkt, sprich: wurden sie angehalten, die unfairste Aufteilung nicht zu wählen, reagierten viele von ihnen trotzig und waren bei der Aufteilung weniger großzügig als wenn sie frei entscheiden konnten. Manche ließen sich durch die Vorschrift aber nicht beirren und waren trotzdem spendabel.

Scheitel- und Stirnlappen beteiligt

Im Gehirn-Scan stellten die Forschenden fest, dass die Kommunikation zwischen bestimmten Gehirn- bereichen darauf schließen lässt, wie stark sich eine Person gegen eine Einschränkung wehrt. "Die Unter- schiede im Trotzverhalten wurden insbesondere im Scheitellappen (Parietalcortex) und Stirnlappen (Fron- talcortex) sichtbar, die zentral an Prozessen wie Aufmerksamkeit und komplexen Entscheidungen beteiligt sind", sagte Studienleiterin Knoch. Je stärker diese Gehirnbereiche kommunizierten während die Testper- sonen eingeschränkt wurden, desto größer war das Trotzverhalten.

Die Kommunikationsstärke der involvierten Gehirnbereiche spiegelte auch wider, wie sehr eine Testperson die Vorschrift als Zeichen des Misstrauens empfand und wie sehr diese Empfindung ihre Entscheidung beeinflusste. Die Studie gebe erstmals Aufschluss darüber, wie individuelle Unterschiede in den Reaktio- nen auf Einschränkungen der Entscheidungsfreiheit neurobiologisch zustande kommen, so die Autoren. Daraus könnten sich beispielsweise Implikationen für den Gesundheitsbereich ergeben. "Indem wir die Reaktionen auf Einschränkungen besser verstehen, können wir gezieltere Maßnahmen ableiten, wie man die Kooperation erhöhen kann", so Knoch. (APA)

Link
The Journal of Neuroscience



Nota. - Erlauben Sie mir einen anachronistischen Verweis: Hätte Wolf Singer seinerzeit gesagt: Nicht ich trotze, sondern mein Parietal- und Frontalcortex - ? Hätte er daraus irgendwelche - etwa pädagogische - Folgerungen gezogen? Man hätte ihn wohl schon damals ausgelacht. Doch als er gesagt hat, nicht der Ver- brecher verbricht, sondern sein Gehirn, und das Strafrecht müsse dem Rechnung tragen - damit konnte er Furore machen.
JE 

Freitag, 11. Mai 2018

Das Gedächtnis der Muskeln.

Unsere Muskeln "erinnern" sich an vergangene Wachstumsphasen.
aus scinexx

Muskeln haben ein Gedächtnis
DNA-Anlagerungen speichern Erinnerung an früheres Wachstum

Unsere Muskeln "erinnern" sich an früheres Wachstum: Sie wachsen stärker und schneller, wenn sie schon früher einmal gut trainiert waren. Warum, haben Forscher nun herausgefunden. Verantwortlich sind demnach DNA-Anlagerungen in den Muskelzellen, die die Genaktivität anhaltend verändern. Das bedeutet auch: Doping-Sünder könnten trotz Sperre dauerhaft von ihrer Manipulation profitieren, wie die Forscher im Fachmagazin "Scientific Reports" berichten. 

Ob beim Leistungssport, Joggen oder dem Training im Fitnessstudio: Jeder, der schon einmal Sport gemacht hat, weiß, wie anpassungsfähig unsere Muskeln sind. Werden sie regelmäßig beansprucht, wachsen sie und nehmen an Kraft zu. Sind sie dagegen ruhiggestellt – beispielsweise durch eine Sportpause oder Krankheit, dann schwindet die Muskelkraft rapide. Und sogar schon ein paar Tage des fettigen, ungesunden Essens können den Stoffwechsel unserer Muskelzellen aus der Bahn werfen.

Muskeltraining für die Wissenschaft

Doch was ist, wenn man nach einer Pause die Muskeln erneut trainiert? Beeinflussen dann vergangene Erfahrungen das Wachstumstempo und den Kraftgewinn der Muskeln? Bisher gab es auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Ob Muskeln ein Gedächtnis haben und wie dieses beschaffen ist, blieb daher unklar – bis jetzt.

Britische Forscher um Robert Seaborne von der Keele University haben jetzt erstmals Belege für die Existenz eines echten Muskelgedächtnisses gefunden. Für ihre Studie ließen sie acht junge Männer zunächst sieben Wochen lang intensiv trainieren. Darauf folgte eine Pause von sieben Wochen und dann erneut ein siebenwöchiges Muskeltraining. In jeder der drei Phasen ermittelten die Forscher die Muskelmasse und Kraft der Probanden.

Doppelter Zuwachs

Wie erwartet machte sich das Training positiv bemerkbar: Die Beinmuskeln der Teilnehmer gewannen in den ersten sieben Wochen 6,5 Prozent an Masse und ihre Kraft stieg um 9,3 Prozent, wie die Forscher berichten. In der Bewegungspause ging beides wieder zurück, wenn auch nicht ganz bis auf den Ausgangszustand.

Das Spannende aber folgte in der zweiten Trainingsphase: Obwohl auch sie nur sieben Wochen lang war, wuchsen die Muskeln der Probanden in dieser Zeit doppelt so stark. Sie legten zwölf Prozent an Masse zu und 18 Prozent an Kraft. Offensichtlich hinterlässt das frühere Training Spuren im Muskel, die ihn später zu verstärktem Wachstum motivieren. Der Muskel "erinnert" sich demnach an seine früheren Erfahrungen.


DNA-Strang mit zwei an die DNA-Base Cytosin angelagerten Methylgruppen (hell)
DNA-Strang mit zwei an die DNA-Base Cytosin angelagerten Methylgruppen (hell)
Epigenetische Veränderungen

Aber wie? Um das herauszufinden, hatten die Wissenschaftler in allen drei Phasen Gewebeproben für die Analyse der Genaktivität, aber auch der epigenetischen DNA-Anlagerungen entnommen. Diese bestehen aus kleinen Molekülen, meist Methylgruppen. Dort, wo Gene auf diese Weise methyliert sind, können die Erbinformationen nicht abgelesen werden. Die Methylierung ist daher ein wichtiger Einflussfaktor für die Genaktivität.

Sitzt hier möglicherweise auch das "Gedächtnis" der Muskeln? Genau dies enthüllte der Vergleich von mehr als 850.000 Bindungsstellen an der DNA. Die Forscher stellten fest, dass das erste Training große Teile der Muskelzell-DNA von den epigenetischen Anlagerungen befreite. Als Folge stieg auch die Genaktivität. Diese Veränderungen blieben während der Sportpause weitgehend erhalten und verstärkten sich dann in der zweiten Trainingsphase noch.

Anhaltende Genaktivierung

Dieser Effekt führt dazu, dass viele wachstumsfördernde Gene nach einer Trainingsphase dauerhaft aktiver bleiben. "Das Wichtige ist, dass diese Gene auch beim Muskelabbau freibleiben", betont Seabornes Kollege Adam Sharples. "Wenn man dann später erneut trainiert, sorgen diese epigenetischen Veränderungen dafür, dass die Genaktivität und damit das Muskelwachstum noch stärker angekurbelt werden."

Das aber bedeutet: Jede unserer Muskelzellen speichert vergangene Erfahrungen ab – und dies direkt am Erbgut. "Der Muskel hat ein epigenetisches Gedächtnis, durch das er sich an früheres Wachstum erinnert", erklärt Sharples. Das Wissen um dieses Gedächtnis könnte bei der Reha-Behandlung nach Krankheiten oder Verletzungen helfen. Wenn man herausfindet, welche Trainingsprogramme das Muskelgedächtnis am besten aktivieren, dann könnte das die Wiederherstellung der Muskelkraft beschleunigen.

Vorteil für Doping-Sünder?

Noch wichtiger aber: Die neuen Erkenntnisse haben große Bedeutung für den Leistungssport – und den Umgang mit Dopingsündern. Denn bisher werden ertappte Sportler meist für einige Zeit gesperrt, können dann aber wieder an Wettkämpfen teilnehmen. Doch das Muskelgedächtnis legt nun nahe, dass Doping-Sünder selbst lange nach ihrer Doping-Phase noch von dessen Effekten profitieren könnten.

"Wenn ein Eliteathlet leistungssteigernde Wirkstoffe nimmt, um sein Muskelwachstum zu verstärken, dann behalten seine Muskeln dieses Wachstum im Gedächtnis", erklärt Seaborne. "Kurze Sperren könnten daher nicht ausreichen: Selbst wenn die Sportler hinterher clean sind, behalten sie ihre durch das Doping erworbenen Vorteile möglicherweise bei." Hier seien dringend weitere Studien nötig, um dies zu prüfen. (Scientific Reports, 2018: doi: 10.1038/s41598-018-20287-3)

(Keele University, 01.02.2018 - NPO)


Nota. - 'Gedächtnis' hat nicht immer, wie das Wort vermuten lässt, mit Denken zu tun, und von 'erinnern' kann offenbar auch nicht stets die Rede sein. Gedächtnis macht die 'eine Hälfte' der Intelligenz oder des 'Bewusstseins' aus - aber es macht noch weit mehr aus! 

Das wissen wir alle: Man könnte nie Autofahren lernen, wenn man sich stets jedes Hand- oder Fußgriffs bewusst werden müsste. Die Bewegungsabläufe werden automatisiert und geschehen 'von allein'. Das Bewusstsein steht als Wächter immer nur im Hintergrund - um gegebenfalls nein sagen zu können. 'Bewusst' wird mir mein mehr oder minder automatisiertes Tun erst durch die Reflexion - die Frage Soll ich oder soll ich nicht? Reflektiert habe ich auch, wenn ich darauf verzichte, nein zu sagen; von 'unbewusst' mag man reden, wenn ich gar nicht erst gefragt habe.

Da handelt es sich nicht um Schichten, Ebenen, Zustände, Register, sondern alles konstelliert sich in jedem Moment neu. Reflektieren geschieht immer hier und jetzt.
JE