Montag, 30. September 2013

Grammatisch selbstverfassend.

Vergleich der Hirnaktivität sowie der strukturellen Verknüpfungen von Hirnarealen beim Verarbeiten einfacher oder komplexer sprachlicher Regeln. A: Das frontale Operculum ist beim Verarbeiten beider Regeltypen beteiligt (obere Abb.). Hingegen wird nur bei komplexen Regeln das Broca Areal hinzugezogen (untere Abb.). B: Faserverbindungen zwischen den Hirnregionen einzelner Versuchspersonen. Links: Das frontale Operculum ist verknüpft mit vorderen Bereichen des Schäfenlappens über den fasciculus uncinatus. Rechts: Das Broca Areal hält durch den fasciculus longitudialis superior Verbindung mit oberen Arealen im Schläfenlappen.


aus scinexx

Gehirn: Grammatik ist Teamarbeit
Neue Erkenntnisse zu den Ursachen der menschlichen Sprachfähigkeit

Warum verstehen wir Menschen komplizierte Sätze und unsere nächsten Verwandten - die Affen - hingegen nur einzelne Worte? Was genau die Ursachen für die menschliche Fähigkeit zur Sprache sind, ist bis jetzt noch nicht endgültig geklärt. Nun haben Leipziger Wissenschaftler herausgefunden, dass im menschlichen Gehirn zwei Hirnareale für verschiedene Verarbeitungsleistungen der Sprache zuständig sind. Sie stellten fest, dass einfache Sprachstrukturen in einem evolutionär älteren Hirnareal verarbeitet werden, über das auch Affen verfügen. Komplizierte Strukturen jedoch aktivieren Prozesse in einem entwicklungsgeschichtlich jüngeren Hirnareal, das nur der Mensch besitzt.  

Wie die Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in der Fachzeitschrift PNAS berichten, liefern diese Befunde einen wichtigen Baustein zum Verstehen des menschlichen Sprachvermögens.

Zwei grundlegende Muster von Grammatik

Sprache verstehen und erzeugen zu können, ist ein wesentliches Merkmal, das uns von nicht-menschlichen Primaten unterscheidet. Speziell das Anwenden komplexer sprachlicher Regeln wird dafür verantwortlich gemacht, dass Menschen im Gegensatz zu anderen Spezies lange Sätze erzeugen und verstehen können. 



Wenn man die Regeln der Sprache (Syntax) analysiert, kann man zwei grundlegende Muster von Grammatik unterscheiden. Eine einfache Regel ist das richtige Bilden von typischen (wahrscheinlichen) Wortverbin- dungen, wie z.B. bei Artikel und Substantiv ("ein Lied") oder bei Artikel und Verb ("ein gefällt"). So ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Substantiv auf einen Artikel folgt, sehr hoch, dass ein Verb einem Artikel nachsteht, hingegen sehr gering.

Um aber längere Sätze verstehen zu können, benötigt man ein komplexeres Strukturmodell, die so genannte "Hierarchie". Dabei werden hierarchische Abhängigkeiten zwischen Satzverbindungen gebildet, um diese miteinander zu verknüpfen, wie ein eingeschobener Nebensatz: "Das Lied [das der Junge sang] gefiel dem Lehrer". Ansatz der Max-Planck-Studie war demzufolge, die Hirnaktivitäten bei der Verarbeitung dieser beiden Modelle, also "Verknüpfungswahrscheinlichkeit" und "Hierarchie", miteinander zu vergleichen.

In einem Verhaltensexperiment hatten Wissenschaftler in den USA zuvor gezeigt, dass nicht-menschliche Primaten (Tamarin-Äffchen) zwar in der Lage sind, Regeln mit lokalen Verknüpfungswahrscheinlichkeiten zu verarbeiten, nicht aber hierarchische Regeln. Das Ergebnis veranlasste die Leipziger Forscher zu der Hypothese, dass komplexe grammatische Regeln von Hirnarealen verarbeitet werden, die 'phylogenetisch jünger' sind. Diese Annahme untersuchten die Forscher in einem funktionellen Kernspintomografie-(fMRT) -Experiment an Menschen.
 
Dazu erzeugten die Wissenschaftler künstliche Grammatiken mit sinnlosen, aber strukturierten Silben (z.B. de bo gi to). Die Aneinanderreihung dieser Silben erfolgte entweder gemäß der einfachen Regel ("Verknüpfungs- wahrscheinlichkeit") oder der komplexeren Regel ("Hierarchie"). Die Silben wurden in zwei Kategorien unterteilt. Silben der Kategorie A endeten mit lautlich hellen Vokalen (de, gi, le ...), Silben der Kategorie B mit dunklen Vokalen (bo, fo, gu, ...). Die einfache Regel bildete abwechselnde Folgen von den Kategorien A und B (z.B. AB AB = de bo gi ku), die komplexe Regel bildete dagegen Hierarchien durch das Verknüpfen beider Kategorien (z.B. AA BB = de gi ku bo).

Dieses Prinzip entspricht dem Versuch, Grammatik auf die einfachsten formalen Regeln zu reduzieren. Der Vorteil von künstlichen Grammatiken besteht im Experiment - im Gegensatz zu natürlich gesprochener Grammatik - darin, dass andere Strukturelemente der Sprache (Semantik, Phonologie, Morphologie) keine zusätzlichen Einflüsse auf den neurologischen Verarbeitungsprozess nehmen können.

Die Versuchspersonen trainierten beide Grammatiktypen zwei Tage vor der Kernspinuntersuchung. Eine Gruppe lernte die "Verknüpfungswahrscheinlichkeit", die andere Gruppe die "Hierarchie". Während der fMRT-Untersuchung wurden neue Abfolgen von Silben über einen Bildschirm präsentiert, die syntaktisch "richtig" (korrekte Sequenzen) oder "fehlerhaft" (inkorrekte Sequenzen) waren. Auf diese Weise wurde das Anwendungsvermögen der gelernten Regeln gemessen bzw. die Versuchspersonen sollten jede Sequenz nach der Grammatikalität bewerten (richtig/falsch).

Beim Verarbeiten beider Regeltypen konnten die Leipziger Forscher bei ihren Testpersonen Aktivitäten in einem menschheitsgeschichtlich älteren Hirnareal (frontales Operculum) nachweisen. Wie sie vermutet hatten, zeigte eine jüngere Hirnstruktur, das Broca Areal, nur dann Aktivitäten, wenn von den Versuchspersonen hierarchische Regeln verarbeitet wurden.

Weitere Forschung nötig

In einem zweiten Schritt wurde die Methode der diffusionsgewichteten Bildgebung (DTI) verwendet, um strukturelle Verknüpfungen (Konnektivität) der beiden Hirnregionen zu untersuchen. Als Ergebnis konnten auch hier beide Hirnareale voneinander abgegrenzt werden. Das frontale Operculum war über spezielle Faserverbindungen (fasciculus uncinatus) mit den vorderen Bereichen des Schläfenlappens verknüpft. Hingegen wies das Broca-Areal Verknüpfungen auf, welche über den fasciculus longitudialis superior zu oberen Bereichen des Schläfenlappens führten.

Durch zwei unterschiedliche Verfahren (fMRT- und DTI-Messung) konnten die Max-Planck-Forscher beide Hirnareale in Struktur wie Funktion voneinander abgrenzen. Werden also einfache Regeln vom Gehirn verarbeitet, wie dies beim Affen offenbar auch erfolgt, so wird das stammesgeschichtlich ältere Areal im Gehirn aktiviert. Hingegen wird beim Anwenden komplexerer Regeln, die ein Affe nicht beherrscht, das Broca Areal herangezogen.

Dieser Befund ist zum einen höchst aufschlussreich für die Lokalisierung jener Funktionsbereiche im menschlichen Gehirn, die Sprachverarbeitungsprozesse steuern. Zum anderen führt er exemplarisch vor, auf welche Weise komplexe Fragestellungen - wie etwa die Entstehung des menschlichen Sprachvermögens - disziplin- und fachübergreifend in der modernen Forschung aufgegriffen und untersucht werden. Für die Grundlagenforscher in Leipzig heißt das, als nächstes zu fragen, was die unterschiedlichen Verknüpfungen zum Schläfenlappen für die Sprachverarbeitung im Detail bedeuten.


(idw - MPG, 10.02.2006 - DLO)



Fortsetzung folgt morgen


‘Das Bewusstsein ist grammatisch verfasst.’



Wann immer vom Menschen als von einem seiner-selbst-Bewussten die Rede ist, wird der Mensch als ein Handeln- der* stillschweigend vorausgesetzt. Der Satz ‘das menschliche Bewusstsein ist seiner Natur nach grammatikalisch strukturiert’ ist ein Quidproquo; alias gequirlter Mist. Nur weil der Mensch vorab die Fähigkeit entwickelt hat, sich auf Etwas zu richten, konnte es ihm einfallen, dafür eine Mitteilungsform für solche zu suchen, die ihm dabei helfen oder ihn dabei behindern können. Eine Mitteilungsform also, in der nicht eine ‘Information’ gleich wichtig und gleich wertig neben der andern steht, sondern das eine über das andere gesetzt wird. In den Hierarchien der Grammatik wird die Gerichtetheit der Handlungen ausgesagt: wer wen was.

Januar 23, 2010  


*) "Die Sprache - will ich sagen - ist eine Verfeinerung, 'im Anfang war die Tat'." Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Ffm. 1994, S. 70


 

Der andere Weg der Sprachkritik.




Alle Philosophie ist "Sprachkritik", schrieb Wittgenstein schon im Tractatus [4.0031], doch ob man daraus, dass er selber kaum etwas anderes getan hat, schließen darf, wie es die zeitgenössische 'analytische' Schule tut, er habe sie für nichts als Sprachkritik gehalten, ist durchaus strittig. Unstrittig ist, dass er sie nicht im Sinne Mauthners verstanden wissen wollte [ebd.]. Damit sind die beiden großen Richtungen aufgezeigt, in die sprachkritisches Philosophieren gehen kann. Die eine macht, grob gesagt, den exakten Gebrauch der Wörter zum Maßstab für die Tauglichkeit des Denkens, und die andere macht das, was gedacht, was vorgestellt, was wirklich gemeint ist, zum Maßstab für die Tauglichkeit der Sprache. Zugrunde liegt die jeweils entgegengesetzte Antwort auf die Frage: Sind die Wörter die Bedingung des Vorstellens, oder ist das Vorstellen die Bedingung des Sprechens? 

Mauthners Antwort ist klar: Grundlage des Denkens sind nicht die Wörter, sondern die Bilder - und die werden von den Wörtern nur unvollkommen wiedergegeben. Das Missverständnis entsteht nicht (erst) dadurch, dass die Wörter regelwidrig verwendet werden, sondern (bereits) dadurch, dass die Sprache zu dürftig ist, um den Reichtum des Gedachten auszudrücken.

Konsequenterweise hat er sich daher nicht auf das Argumentieren beschränkt, sondern ist zum Dichter geworden: Die Metapher erweitert die sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten, und was ihr an Genauigkeit fehlt, wiegt sie an Farbenpracht doppelt und dreifach auf.


Was übrigens Ludwig Wittgenstein gar nicht bestritten hätte: Ich glaube, meine Stellung zur Philosophie dadurch zusammengefasst zu haben, indem ich sagte: Philosophie dürfe man eigentlich nur dichten. in: Vermischte Bemerkungen, Ffm. 1994, S. 58. 

Die eigentliche Bedeutung der Sprache, das, was sie dem Vorstellen gegenüber zu einem Mehr macht und nicht zu einem Weniger, ist, dass sie uns das (willkürliche) Erinnern erlaubt: Ohne Sprache keine Gedächtnis; und, darf man hinzufügen, ohne Gedächtnis keine Reflexion. Die Wörter erlauben uns das Verneinen, das Unterscheiden und folglich das Bestimmen, die ohne Vergleichen mit bereits Vorgestellten, also ohne Gedächtnis, nicht möglich wären. (Freilich braucht man zum Vergleich nicht nur die Unterscheidung, sondern auch die Zusammenführung; Gedächtnis ohne Humor ist pedantisch und unfruchtbar.)

  

aus Neue Zürcher Zeitung, 2. 12. 2010 

upj. · Den Herolden der analytischen Philosophie gilt der späte Ludwig Wittgenstein – insonderheit seit den 1953 publizierten «Philosophischen Untersuchungen» – als einsame Lichtfigur der philosophischen Sprachkritik, als ob niemand vor ihm je erkannt hätte, dass die meisten Fragen der Philosophie auch Fragen nach der Bedeutung der Wörter und ihrer Verwendung sind. Da sich die moderne analytische Philosophie aber dezidiert ahistorisch gebärdet, ist ihr bisweilen entgangen, dass die ganze Philosophiegeschichte mit «sprachanalytischen» Positionen durchsetzt ist. Auch Wittgenstein hat auf den Schultern von anderen gestanden; man denke nur an das Werk Ernst Machs oder etwa an den ebenso genialen wie marginalisierten Fritz Mauthner. Mauthner, 1849 in Böhmen geboren und 1923 in Meersburg am Bodensee verstorben, hat ein großes, von Kennern geschätztes Werk hinterlassen, zu dem u. a. seine dreibändigen «Beiträge zu einer Kritik der Sprache» gehören. Darin wird die Sprachkritik als radikalste Vernunft- und Erkenntniskritik umrissen, der grundlegend metaphorische Charakter des Sprechens herausgearbeitet – und es werden, originell genug, gewisse sonderbare Blüten der Logik auf die «Tautologik» zurückgeführt. Wittgenstein hat das Werk Mauthners sehr wohl gekannt, wenn auch immer abgewertet.
 
Mauthner gehört zu jenen «Überbegabten», die in verschiedenen Sparten brillieren; Drama, Novelle, Schauspiel, Satire; hinzu kommen Beiträge zur Kulturgeschichte sowie eine vierbändige Geschichte des Atheismus im Abendland. Nach seinem Tod hat die damals sehr offene «Neue Zürcher Zeitung» diesem durchaus unbequemen und radikalen Geist am 8. Juli 1923 immerhin einen ganzseitigen Nachruf gewidmet. Um Mauthner, diesen so aufrechten und anregenden unter den radikalen Denkern, ist es erfreulicherweise nie ganz still geworden. 





aus wikipedia

...

Zitat: „Zum Hasse, zum höhnischen Lachen bringt uns die Sprache durch die ihr innewohnende Frechheit. Sie hat uns frech verraten; jetzt kennen wir sie. Und in den lichten Augenblicken dieser furchtbaren Einsicht toben wir gegen die Sprache wie gegen den nächsten Menschen, der uns um unseren Glauben, um unsere Liebe, um unsere Hoffnung betrogen hat.“ (Beiträge zu einer Kritik der Sprache I, Das Schweigen)
 
Mauthner erhielt bei seinem Lehrer Ernst Mach in Prag die speziellen Grundlagen für seine späteren Arbeiten. Ernst Mach war als Physiker, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker ein vielseitiger Wissenschaftler, der auch Sinnesphysiologie und Psychologie in seine Überlegungen einbezog und bereits vor Albert Einstein das vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum forderte. Mach gilt auch als einer der Wegbereiter der psychologischen Gestalttheorie.
 
Sein Schüler Fritz Mauthner war ebenso breitgefächert interessiert und setzte sich in wissenschaftstheoretischen Betrachtungen mit den aktuellen Ergebnissen der Psychologie auseinander. Von Mach übernahm Mauthner die Vereinigung der Raumdimensionen und der Zeitdimension im vierdimensionalen Kontinuum. Während Einstein diese Sichtweise auf den ganzen Kosmos anwendete, verknüpfte Mauthner diese moderne Ansicht mit psychophysiologischen Betrachtungen, die im Gedächtnis eine raumzeitliche Ordnung vermuten.
 
Zitat: „Wir werden die Zeit als die vierte Dimension des Wirklichen kennenlernen. In Anknüpfung daran wird es uns umso schneller einleuchten, daß unser Gedächtnissinn einzelne vergangene Vorstellungen, die sogenannten Erinnerungen, genau ebenso in der Zeit lokalisiert, wie unser Gesichtssinn seine Vorstellungen in den drei Dimensionen des Raumes lokalisiert. Und genau so wie der Schnittpunkt des Koordinatensystems für unsere Augen durch unser Gehirn geht, so ist der Nullpunkt für die Erstreckung der Zeit immer unsere Gegenwart; der Nullpunkt bleibt bei uns, während wir in der Zeit weiterleben, wie das Koordinatensystem des Raumes sich mit uns bewegt. Die begriffliche Schwierigkeit läge nur darin, daß das Gedächtnis uns die Zeit erst erzeugt, in welche es die Daten der übrigen Sinne projiziert.“
 
Mauthner schlug hier einen gedanklichen Weg ein, der den zeitlichen Aspekt der „Korrelationstheorie der Hirnforschung“, unseren „Arbeitstakt im Bewußtsein“, bereits in das Blickfeld rückte.
 
Zitat: „Und so halte ich es für eine brauchbare Hypothese, daß allerdings immer nur eine Vorstellung an dem Nadelöhr unseres Bewußtseins vorüberzieht, weil ja in diesem Sinne immer nur das Gegenwärtigste, d. h. das im geistigen Magen eben sich Assimilierende, das eben augenblicklich dem Gehirn Arbeit machende — daß das allein die Aufmerksamkeit fesselt (natürlich, weil ja auch die Gegenwart als Zeit nur die Nadelspitze zwischen Vergangenheit und Zukunft ist, die Wirklichkeitswelt also in jedem Augenblick nicht breiter sein kann, als die Fadendünne dieses Augenblickes, als ein Nadelöhr), daß aber zugleich das Gedächtnis, d. h. die unbewußte Registratur des Gehirns, wohl über unseren ganzen Wissensschatz verfügt, alles mit der Augenblicksvorstellung zunächst Verwandte schon in Bereitschaft hält, also daß das Gehirn in seinem Gedächtnis den weiten Horizont besitzt, der die Welt der Erfahrung oder die Vergangenheit und die Welt der Möglichkeiten oder die Zukunft umfaßt.“ (Bewusstsein/Zeit und Assoziation)
 
Dem Gedächtnis kommt in Mauthners Sprachphilosophie eine zentrale Bedeutung zu. Zitate:
 
„Meine Überzeugung ist, daß die Rätsel der Sprache mit dem Schlüsselworte Gedächtnis zu lösen seien, oder vielmehr daß die Rätsel, welche das Wesen und die Entstehung der Sprache uns aufgibt, zurückzuschieben seien auf das Wesen des menschlichen Gedächtnisses.“
 
„Bei dem normalen Menschen ist Sach- und Wortgedächtnis aufs engste miteinander verbunden. Ja diese Verbindung ist eine bloße Tautologie, wenn ich mit der Behauptung recht habe, daß die Sprache oder der Wortschatz eines Menschen eben nichts anderes sei als sein individuelles Gedächtnis für seine Erfahrung. Die Sprache ist nichts als Gedächtnis, weil sie gar nichts anderes sein kann.“ (Gedächtnis und Sprache)
 
Gedächtnis, Bewusstsein und Sprache sind für Mauthner verschiedene Wörter für den ganzheitlichen Zusammenhang des Weltwissens aus einzelnen Erinnerungsbildern.
 
„Das Gedächtnis ist eine Tatsache des Bewußtseins und das Bewußtsein ist für uns nur als Gedächtnis eine Tatsache. Man könnte mit diesen Worten noch weiter jonglieren und würde doch nicht einmal in dem skeptischen Sinne der Sprachkritik zu einer festen Definition der beiden Begriffe gelangen. Wir ahnen jedoch, daß eine durch Selbstbeobachtung ermittelte Tatsache des Bewußtseins nicht das Abstraktum Gedächtnis ist, sondern nur die Reihe einzelner Erinnerungsbilder; wir ahnen, daß das Wort Bewußtsein eigentlich nichts anderes bedeutet als den Zusammenhang der Erinnerungsbilder (Bewußtes Gedächtnis)
 
Angeregt durch die Gestalttheorie stellte Mauthner den Begriff der „Ähnlichkeit“ in das Zentrum seiner erkenntnis- und sprachtheoretischen Betrachtungen.
 
Zitate:„Die Ähnlichkeit dürfte noch einmal die wichtigste Rolle in der Psychologie spielen. Vielleicht hat man die Ähnlichkeit bisher instinktiv darum vernachlässigt, weil man sonst zu früh hätte einsehen müssen, wie tief unser logisches oder sprachliches Wissen unter unseren wissenschaftlichen Ansprüchen stehe, wie weit entfernt unsere Begriffsbildung von mathematischer Genauigkeit sei; denn unsere Sprachbegriffe beruhen auf Ähnlichkeit, die mathematischen Formeln auf Gleichheit.“
 
„Absolute Gleichheit ist eine Abstraktion des mathematischen Denkens. In der Wirklichkeitswelt gibt es nur Ähnlichkeit. Gleichheit ist starke Ähnlichkeit, ist ein relativer Begriff.“
 
„Auf Ähnlichkeit, nicht auf Gleichheit ist alles Klassifizieren oder die Sprache aufgebaut, auf Ähnlichkeit, nicht auf Gleichheit all unser Urteilen oder die Anwendung der Sprache. Alle Logik aber, auch die Algebra der Logik, geht von dem mathematischen Begriff der Gleichheit aus und ist darum eine gefährliche Wissenschaft. Um nicht zu weit abzuschweifen, sei nur kurz erwähnt, daß auch der Begriff oder das Gefühl der Kontinuität aus dem Gefühle der Ähnlichkeit allein entsteht.“''
... 


Nota.

Mauthner übertreibt, wenn er sagt, die Sprache sei Gedächtnis. Sie ist das objektivierte, öffentliche Gedächtnis der Gattung. Für das Gedächtnis der Individuen ist sie ein Schlüssel, eine Landkarte, ein dictionnaire raisonné. Sie verzeichnet die tags, unter denen man das im Speicher Erinnerte vergegenwärtigen kann.
J.E.

Sonntag, 29. September 2013

Diderot, dreihundert Jahre.

aus NZZ, 28. 9. 2013


Ein «einzig Individuum» 
Vor dreihundert Jahren wurde der Aufklärer und Enzyklopädist Denis Diderot geboren

Aufklärer und Causeur, Erzähler und Philosoph sowie federführender Herausgeber der monumentalen «Encyclopédie», die das Wissen ihrer Zeit zu präsentieren beanspruchte: Denis Diderot war alles dies und noch einiges mehr. - Ein Blick auf Werk und Leben.

von Ulrich Kronauer

Am 9. März 1831 schreibt Goethe an seinen Freund Carl Friedrich Zelter, der in einem Brief vom 5. März das negative Urteil seiner Zeitgenossen über Diderots Roman «Jacques le Fataliste» erwähnt hatte: «Diderot ist Diderot, ein einzig Individuum; wer an ihm oder seinen Sachen mäckelt, ist ein Philister, und deren sind Legionen. Wissen doch die Menschen weder von Gott noch von der Natur noch von ihresgleichen dankbar zu empfangen, was unschätzbar ist.»

Zum Zeitpunkt dieser leidenschaftlichen Parteinahme Goethes ist der französische Philosoph, Erzähler und Herausgeber der «Encyclopédie» Denis Diderot bereits annähernd 47 Jahre tot. Aber offensichtlich erregt der Autor von «Les bijoux indiscrets», «La religieuse», «Jacques le fataliste» und «Le neveu de Rameau» zumal in Deutschland noch im 19. Jahrhundert die Gemüter. «Diderots Fataliste», wie Zelter schreibt, wird als unmoralisch empfunden, ebenso die von Goethe in einer Übersetzung 1805 bekannt gemachte Erzählung «Rameaus Neffe». Anstoss erregte zunächst einmal der unverblümte Realismus, mit dem Diderot das Liebesleben seiner Figuren schilderte. Allerdings delektierten sich die Philister, wie Zelter anmerkt, trotz aller Empörung durchaus an mancher der Diderotschen Frivolitäten.

Ein Leben, viele Projekte

Die Gründe dafür, dass Diderots Werke immer wieder provozierten, lagen aber tiefer. Der Realismus bei der Beschreibung der menschlichen Sexualität war Teil einer Weltsicht, die sich von religiösen, gesellschaftlichen, ideologischen Vorurteilen freigemacht hatte. Wie gefährlich es war, eine solche Sicht öffentlich zu dokumentieren, musste auch Diderot erfahren. Dass viele seiner Schriften nur in der für einen ausgewählten Kreis europäischer Aristokraten bestimmten handschriftlichen «Correspondance littéraire, philosophique et critique» erschienen oder erst aus dem Nachlass veröffentlicht wurden, geht auf die traumatische Erfahrung zurück, die der Autor mit der Zensur gemacht hatte.

Geboren wurde Denis Diderot am 5. Oktober 1713 als zweites Kind des angesehenen Messerschmieds Didier Diderot und seiner Frau Angélique Vigneron in Langres in der Champagne. Er besuchte das Jesuiten-Kolleg in Langres, ging dann nach Paris und studierte an der Sorbonne. Anschliessend war er zunächst Anwaltsgehilfe, arbeitete als Hauslehrer, schrieb Predigten für angehende Geistliche. Ab 1740 veröffentlichte er Artikel in Zeitschriften und war auch als Übersetzer tätig. Seine Reise nach Langres im Dezember 1742 wurde zum Desaster. Er wollte die väterliche Erlaubnis zur Heirat mit der Weissnäherin Anne-Toinette Champion einholen, zerstritt sich aber mit dem Vater, der ihn daraufhin in einem Kloster bei Troyes inhaftieren liess. Nach seiner Flucht heiratete er im November des folgenden Jahres. Es wurde keine glückliche Ehe. Diderot hatte mehrere Affären; seine langjährige Beziehung mit Sophie Volland ist in vielen Liebesbriefen Diderots dokumentiert.

Im Oktober 1747 unterschrieb Diderot zusammen mit Jean le Rond d'Alembert den Vertrag über die Herausgabe des monumentalen Nachschlagewerks «Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers». Dieses Werk, an dem so bedeutende Köpfe wie d'Holbach, Marmontel, Quesnay, Rousseau, Duclos, Turgot und Voltaire mitarbeiteten und das man die «Kriegsmaschine» der Aufklärung genannt hat, erschien als Folio-Ausgabe von 1751 bis 1772 in insgesamt siebzehn Text- und elf Tafelbänden. Als «dictionnaire raisonné» war die «Encyclopédie» der Vernunft verpflichtet, und ihre Mitarbeiter sollten nur der Überzeugung folgen, die der Evidenz entspringt. Komplikationen waren absehbar; das Unternehmen, das Diderot nach dem Ausscheiden d'Alemberts 1758 allein schultern musste, geriet immer wieder ins Visier der Zensoren, die den Druck zeitweilig verboten.

Die erste, überaus schmerzhafte Erfahrung mit der Zensur machte Diderot im Juli 1749. Zwar war sein «Brief über die Blinden» anonym an einem fingierten Druckort erschienen, aber die Vorsichtsmassnahme half nichts: Diderot wurde verhaftet, mit Blick auf den «Brief» und andere Schriften verhört und in die Festung Vincennes gebracht. In der «Lettre sur les aveugles à l'usage de ceux qui voient» führt der blinde Mathematiker Saunderson auf dem Sterbebett ein Gespräch mit einem Vikar, bei dem sich der Blinde nicht von der Existenz Gottes überzeugen lässt.

Schlimmer noch: Saunderson stellt von Lukrez inspirierte Überlegungen über einen Anfang an, «als die in Gärung befindliche Materie das Weltall hervorbrachte», und spekuliert über die Möglichkeit, dass das «stolze Wesen, das sich Mensch nennt», einem «allgemeinen Reinigungsprozess der Welt» zum Opfer gefallen wäre. Das hinter diesen Gedanken stehende materialistische Weltbild wird in den Schriften Diderots dann immer wieder thematisiert, allerdings so, dass es dem Zensor möglichst verborgen bleibt. In der 1769 entstandenen, aus dem Nachlass herausgegebenen Schrift «D'Alemberts Traum» lässt Diderot den Mathematiker d'Alembert im Schlaf sagen: «Wer kennt die Tiergeschlechter, die uns vorausgegangen sind, und wer die Tiergeschlechter, die den unsrigen folgen werden? Alles verändert sich, alles vergeht, nur das All bleibt. Die Welt beginnt und endet unaufhörlich; sie ist in jedem Zeitpunkt an ihrem Anfang und an ihrem Ende.»

Im November 1749 wurde Diderot in die Freiheit entlassen. Durch die Festungshaft völlig zermürbt, hatte er dem Polizeipräfekten einen Brief geschrieben, in dem er die «geistige Vermessenheit» bereut, aus der heraus er den Brief über die Blinden und die anderen inkriminierten Schriften verfasst habe, und beteuert, in Zukunft nichts mehr ohne die Erlaubnis des Präfekten zu veröffentlichen. Dieser Brief, ein deprimierendes Dokument der Selbsterniedrigung, zeigt überdeutlich, welchen Gefährdungen und psychischen Belastungen ein Freigeist damals ausgesetzt war.

«Glänzende Geschäfte»

In den folgenden Jahren nahm Diderot vor allem die Herausgabe der «Encyclopédie» in Anspruch. Ab 1756 arbeitete er daneben an der von seinem Freund Friedrich Melchior Grimm herausgegebenen «Correspondance littéraire» mit. Dort erschienen nicht nur etliche seiner Erzählwerke in Fortsetzungen, sondern auch seine zum Teil sehr umfangreichen Berichte über die Ausstellungen im Louvre, die sogenannten «Salons», die man als Ursprung der Kunstkritik bezeichnet hat. In Deutschland wurde Diderot als Autor der bürgerlichen Dramen «Le fils naturel» (1757) und «Le père de famille» (1758) sehr geschätzt. In der Übersetzung Gotthold Ephraim Lessings wurden diese Stücke, die nicht im höfischen, sondern im häuslichen Milieu spielten und in denen Diderots Tugendbegeisterung zum Ausdruck kommt, weit häufiger gespielt als in Frankreich.

Im November 1764 entdeckte Diderot, dass sein französischer Verleger Le Breton in die jüngst erschienenen Bände der «Encyclopédie» massiv mit Kürzungen und Textänderungen eingegriffen hatte. Zutiefst verbittert sagte Diderot dem Verleger «finanziellen Verlust und Schande» voraus. Hier irrte er. Wie wir aus der Studie «The Business of Enlightenment» von Robert Darnton wissen, liessen sich mit der «Encyclopédie» «glänzende Geschäfte» machen. Diderot wurde seiner finanziellen Sorgen ausgerechnet durch eine Kaiserin enthoben. Katharina II. von Russland kaufte 1765 seine Bibliothek und machte ihn gleichzeitig zu ihrem eigenen Bibliothekar auf Lebenszeit. 1773 reiste er auf kaiserliche Einladung nach St. Petersburg und führte mehrmals wöchentlich angeregte Gespräche mit Katharina. Nach seiner Rückkehr 1774 gab er indes seine Enttäuschung über den aufgeklärten Absolutismus Katharinas zu erkennen. Die Kaiserin wiederum, der nach Diderots Tod ein Text in die Hände kam, in dem der Philosoph für die Abschaffung der Leibeigenschaft plädierte, warf «das Geplapper» ins Feuer.

Seit 1766 war Diderot als anonymer Autor an einem vielbändigen Werk beteiligt, das zu einem der grössten Bucherfolge in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde, der «Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes» von Guillaume Raynal. Zumal zu der dritten Ausgabe des Werks von 1780 hatte Diderot einen grossen Teil beigesteuert. Und es war Diderot, der voller Pathos und Emphase die Auswüchse des Kolonialismus anprangerte, der die Sklaven zum bewaffneten Widerstand aufrief, die Loslösung der Kolonien vom Mutterland guthiess und Europa nach der Revolution Nordamerikas radikale Veränderungen vorhersagte. Die «Geschichte beider Indien» fand begeisterte Leser, rief aber, wie nicht anders zu erwarten, die Zensur auf den Plan und zwang Raynal nach Erscheinen der dritten Ausgabe zur Flucht ins Ausland.

Materialist mit Herz

Im Februar 1784 erlitt Denis Diderot einen Schlaganfall; am 31. Juli 1784 starb er im Kreis der Familie. - Es fällt nicht leicht, das Werk des grossen Aufklärers auf einen Nenner zu bringen. Zu den Besonderheiten des Diderotschen Erzählens und Philosophierens gehört das Dialogische, die Aufteilung des Erzählens, Argumentierens und Räsonierens auf mehrere Personen, den Leser inbegriffen. Es geht in Diderots Texten nicht in erster Linie darum, eine These zu demonstrieren, zum Schluss zu kommen, ein Ergebnis zu erzielen, zu überzeugen. Viel wichtiger sind die Anregungen, die durch die verschiedenen Perspektiven gegeben werden, die die Vorurteile des Lesers erschüttern, ihn zum Nachdenken bringen sollen. Und nicht zu vergessen ist das Vergnügen, das der Autor mit seinen Geschichten, seinen überraschenden Pointen und seinen zum Teil auch derben Spässen bereitet.

Zwar nimmt Diderot von der hohen Warte seiner materialistischen Philosophie aus die Spezies Mensch als ein dem Werden und Vergehen unterworfenes Zufallsprodukt der Natur wahr, er bringt dem Individuum aber gleichwohl grösstes Interesse entgegen. Seine Anteilnahme am Los der Sklaven und Leibeigenen, der Leidenden und Irrenden ist offensichtlich - und nicht allein aus der übergrossen Sentimentalität, die er sich selbst zusprach, zu erklären. Er meinte es ernst, wenn er wie Rousseau, sein Bruder im Geiste und späterer Feind, im Mitleid die Grundlage für einen humanen Umgang der Menschen miteinander erkannte - in einer Fähigkeit, die, wie beide glaubten, dem Menschen angeboren ist, die jeglicher Reflexion vorausgeht und aus der alle sozialen Tugenden entspringen.

In seiner Meistererzählung «Rameaus Neffe» zeichnet er das Bild eines Schmarotzers ohne alle Moral, eines Speichelleckers, der sein Auskommen an den Tischen der Reichen sucht, der aber auch in der Ehrlichkeit, mit der er seine Rolle in einer dekadenten und korrupten Gesellschaft beschreibt, dieser Gesellschaft den Spiegel vorhält. Seine Pfründe bei einem reichen Gönner verliert der Neffe des berühmten Komponisten, weil er einmal aus der Rolle fällt, das Spiel der Erniedrigung nicht mitmacht. Er legt seine rechte Hand auf die Brust und sagt (in der Übersetzung Goethes): «Hier fühle ich etwas, das sich regt, das mir sagt: Rameau, das tust du nicht. Es muss doch eine gewisse Würde mit der menschlichen Natur innig verknüpft sein, die niemand ersticken kann.» Ausgerechnet der in Diderots Dialog-Erzählung die Rolle des amoralischen Subjekts spielende Neffe beruft sich auf die «dignité attachée à la nature de l'homme». Spielt er damit dem als «Moi» bezeichneten Gesprächspartner nur etwas vor, verhält er sich ironisch zur anspruchsvollen Menschenwürde? Spielt Diderot mit dem Leser - oder meinen es Diderot und der Neffe ernst? Hat auch der verworfene Schmarotzer eine Würde, verdient er Achtung, vielleicht Mitleid?

In der «Geschichte beider Indien» setzt sich Diderot mit Argumenten der englischen Kolonialherren und Unterdrücker auseinander und betont, dass die Freiheit ein höchstes Gut darstelle, das unter keiner Bedingung geopfert werden dürfe. Macht es die monströse Figur des Neffen nicht menschlich, zu einem «Individuum», wie Goethe sagen würde, dass auch sie diese Freiheit nicht vollständig aufgeben will und kann? Zwar ruft der Neffe bei seinem Gegenüber Gelächter hervor, wenn er erklärt: «Ich will mich wohl wegwerfen, aber ohne Zwang. Ich will von meiner Würde heruntersteigen . . .» Aber wer da lacht, ist nur der «Moi» genannte Gesprächspartner des Neffen, nicht der Autor Denis Diderot.


Dr. Ulrich Kronauer ist als Honorarprofessor für Philosophie am Karlsruher Institut für Technologie tätig; er war lange Jahre Mitarbeiter bei der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Samstag, 28. September 2013

Ach ja, das Ich...


aus Der Standard, Wien, 28. September 2013,

Das Ich liegt in Scherben
Furiose Berg-und-Tal-Fahrt durch die Geistesgeschichte auf dem Philosophicum Lech

von Michael Freund

Lech - Wollen wir uns über das Ich im Klaren werden, stehen wir eigentlich vor einer unlösbaren Aufgabe. Schon die begleitenden Grundbegriffe sind verwirrend: "Individuum", etwas ganz anderes als Individualität; "Person", ursprünglich nur eine Maske, eine Rolle; "Selbst", psychologisch oder doch philosophisch zu definieren; "Bewusstsein", ein Wort, für das es im Englischen zwei sehr verschiedene Übersetzungen gibt, wie überhaupt viele einschlägige Termini sich kaum übersetzen bzw. rückübersetzen lassen: me, myself and I ...


Und trotzdem, sagt Philosophieprofessor und Autor ("Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?") Richard David Precht, sprechen wir dauernd und offenbar mühelos in der Ich-Form. Aufgabe des Philosophen ist es aber, Begriffe auf ihre historische Bedingtheit und Brauchbarkeit hin zu untersuchen.* Beim 17. Philosophicum Lech nähert sich Precht dem Symposiumsthema "Ich. Der Einzelne in seinen Netzen" in Form einer furiosen Berg-und-Tal-Fahrt durch die Geistesgeschichte.

Ich und Neurowissenschaft

Der zweite große Gipfel nach den Griechen war die Hausse vom Ich in Zeiten der Aufklärung, die Emanzipation des Bürgertums begleitend. Damals genoss die introspektive Methode - sich selber Gedanken über (Ich-)Erfahrungen zu machen - höheres Ansehen als der an den Naturwissenschaften orientierte Empirismus. Heute hingegen stehen wir vor einem "Scherbenhaufen der Ich-Philosophie", nicht zuletzt angesichts der Erfolge der Neurowissenschaften.

Diese machen das Ich an Hirnregionen fest, quasi als Nebenprodukt der Evolution. Sind wir damit am Ende der Ich-Geschichte? Keineswegs. Es gehört zu den Erkenntnissen in Lech, dass über die vermeintlichen Grenzen oder endgültigen Antworten hinaus weitergedacht und diskutiert wird. Konrad Paul Liessmann, Leiter des Symposiums, und Peter Strasser (Uni Graz) spannen den Bogen vom Vereinzelten zum "Massenmenschen", von der Selbstsorge zum Narzissmus, von der Antiquiertheit des Privaten bis zur Orientierung an sozialen Netzen. - Von weiteren Vorträgen wird noch zu berichten sein.

Link
Philosophicum Lech

*) Soll das allers sein? Ich glaube, so meint es Precht. Nun ist es zwar richtig, dass die Philosophie nicht da ist, um uns die Welt zu erklären. Aber um uns unser Wissen von der Welt zu erklären. Damit ist schon viel gewonnen. Es lehrt uns nämlich, aus welchen Themen sich die Philosophie herauszuhalten hat und aus welchen die Naturforschung.
J.E. 


aus DiePresse.com, Wien, 27.09.2013 | 16:50 |                                                                    Foto: Zintzen

Philosophie: Sicherlich gibt es mich – oder? 
Wieso ist uns heute Authentizität so wichtig? Und was ist das Ich überhaupt? Das fragt das Philosophicum Lech heuer. Zu Beginn glänzte vor allem Richard David Precht.

Von Thomas Kramar 

Sicherlich gibt es mich: Ich bin ich.“ Sie mussten fallen, die Worte aus Mira Lobes zauberhaftem Kinderbuch „Das kleine Ich-bin-ich“, und sie fielen – schon am ersten „richtigen“ Tag des Philosophicums Lech zum Thema „Ich“, beim Vortrag des Grazer Philosophen Peter Strasser. Das kleine Ich-bin-ich ist im Moment seiner Ich-Findung sofort mit sich selbst und seinem Ich im Reinen, es ist, was und wie es ist, und das ist gut so: ein paradiesischer Zustand. „Im postparadiesischen Leben jedoch“, so Strasser, „bedarf es einer beschwerlichen, bisweilen lebenslangen Anstrengung, um der zu werden, der man ist.“ Oder der man sein sollte.

Wer sollte man denn sein? Kein nur auf sich selbst fixierter „idiotes“, meinte Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle. Lieber ein „polites“, der sich um die Gemeinschaft kümmert (und auch vor dem Wahlkampf nicht zurückschreckt). Aber auch kein Hallodri (von „Allotria“), der sich nur für das andere und die anderen interessiert. Man brauche doch etwas „Oikeiosis“ (ein Lieblingsbegriff der Stoa, von Cicero als „sensus sui“ übersetzt), Interesse für sich selbst, um den Logos entfalten zu können und sich erfolgreich um die Polis zu kümmern.

So brachte Töchterle in seinem geistreichen Kurzvortrag zur Eröffnung schon ein Hauptmotiv des heurigen Philosophicums: Das Ich kann nur mit den Anderen oder gegen die Anderen gefunden werden. Auch das kleine Ich-bin-ich kommt ja erst auf die Idee, seine Identität zu suchen, als es die anderen Tiere getroffen hat, die schon eine haben.

Adam, (beinahe) so wie Gott

Und wo begann diese Kette? „Der Erste, der Ich sagt, ist Gott – und er macht gleich ein Abbild seiner selbst“, sagte Konrad Paul Liessmann beim traditionellen Präphilosophicum-Märchenabend gemeinsam mit Michael Köhlmeier. Die beiden legten zunächst ein sehr tiefes Märchen aus: die Schöpfungsgeschichte, in deren älterer Variante Gott ja die Welt nicht schafft, sondern „nur“ ordnet, das Tohuwabohu aufräumt. Dann machte er Adam als sein Ebenbild, aber – so eine apokryphe Geschichte – auf Betreiben des Erzengels Michael ein bisschen hässlicher: Ein Unterschied muss ja sein. Und warum machte er überhaupt einen Menschen? Weil ihm langweilig war, so die Antwort des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard. Damit dem Adam nicht fad war, bat er dann um die Erschaffung der Eva. Doch dann wollten die beiden wirklich sein wie Gott – und mussten aus dem Paradies. „Wie musste Gott sich gefühlt haben, als er sein Ebenbild Adam aus dem Paradies verstieß?“, fragte Liessmann. „Hat er sich dabei nicht auch von sich selbst entfremdet?“ Samael jedenfalls, der gleich in die Hölle verstoßen wurde, weil er sich weigerte, vor Adam zu knien, habe aufbegehrt. „Nur wer aufbegehrt, erfährt, was er ist“, interpretierte Liessmann hübsch existenzialistisch: „Die Ich-Werdung des Menschen beginnt, wo er das erste Mal Nein sagt.“

Aber muss man überhaupt so penetrant sein Ich, seine Identität suchen, wie das heute geradezu verpflichtend ist? Muss man unbedingt Mündigkeit, Autarkie, Authentizität anstreben? Quält uns die Angst vor Abhängigkeit, vor Pflegebedürftigkeit, gar Demenz im Alter nicht sinnlos? Es geht auch anders, meinte Gernot Böhme aus Darmstadt: In der japanischen Kultur gelte es als Tugend, auch abhängig sein zu können, ja die Abhängigkeit von anderen zu genießen.

Also ist die Hoch- bis Überschätzung des Ich typisch für unsere heutige westliche Kultur? „Erkenne dich selbst!“, sei über der Antike gestanden, über der Moderne steht „Sei du selbst!“ Diesen Aphorismus von Oscar Wilde zitierte Richard David Precht, der in seinem bewundernswerten, völlig frei gesprochenen, so klaren wie originellen Vortrag zeigte, dass er sich die Medienpräsenz, die ihm manche Kollegen neiden, gewiss nicht nur mit seinem Aussehen verdient hat.

Precht sieht den Höhenflug des Ich in der europäischen Philosophie – also vor allem den deutschen Idealismus, mit Fichte, bei dem das Ich sich selbst „setzt“, als Höhepunkt – als Voraussetzung für den Aufstieg des Bürgertums. Für Kant wurzelte alle Erkenntnis im Ich, so waren für ihn auch Aussagen über die Welt ohne jede Empirie (die synthetischen Urteile a priori) möglich. „Damals musste sich die Philosophie noch nicht der Naturwissenschaft anbiedern“, konstatierte Precht mit eleganter Selbstironie.

Precht sieht acht Ichs

Er weiß: Heute ist das anders. Und er meint, dass es nicht Schopenhauer und Nietzsche waren, die mit ihrem „Willen“, der eben zugleich mehr und weniger als das Ich ist, den Idealismus „gekillt“ haben, sondern die per se materialistische Biologie. Genauer: die Darwin-Rezeption eines Ludwig Büchner („Kraft und Stoff“) oder eines Ernst Haeckel. Sie begannen, das Ich zu zerpflücken, im Hirn zu verorten. Hegel konnte noch über die Schädelvermessung des Franz Joseph Gall spotten, „das war eben noch ein schwacher Gegner“, so Precht. Die heutige Hirnforschung sei stärker und werde noch stärker. Eines ihrer stärksten Argumente seien die partiellen Ich-Verluste durch Hirntraumata. So schlägt Precht – sozusagen in Verfeinerung des Freud'schen Es-Ich-Überich-Modells – eine Gliederung des Ich in acht Ichs vor, in aufsteigender Reihenfolge, sozusagen vom Vieh hinauf zu Kant: Körper-Ich, Verortung-Ich, perspektivisches Ich, Ich als Erlebnissubjekt, Autorenschaft-Ich („Ich bin Urheber meiner Taten und Worte“), autobiografisches Ich, selbstreflexives Ich, moralisches Ich.

Ist also das eine, einige Ich nur eine Illusion? Hier kokettiert Precht damit, dass das Ich ebenso wie Religion und Liebe nur ein „Abfallprodukt der Evolution“ sei. Dem Fortpflanzungserfolg sei das Grübeln über das Ich jedenfalls abträglich. „Sonst müssten die Philosophieprofessoren ja besonders viele Kinder haben.“ Man wusste sofort: Dieses Thema würde in der abendlichen Philosophenbar noch ausgiebig besprochen werden. Von Ich-bin-ich zu Ich-bin-ich.

Den Vortrag von Konrad Paul Liessmann lesen Sie im „Spectrum“.



Freitag, 27. September 2013

Zermürbendes Trommelfeuer.


aus scinexx

Online-Zeit nimmt unserem Gehirn den Leerlauf
Facebook und Co drohen das Arbeitsgedächtnis des Gehirns zu überlasten

Ständig sind wir online, immer auf dem Laufenden: Dank der neuen Technologien können wir uns immer und überall auf den neuesten Stand bringen. Aber welche Folgen hat diese ständige Informationsflut für unser Gehirn? Ein schwedischer Forscher warnt: Wir nehmen unserem Denkorgan damit wichtige Leerlauf-Pausen - Zeiten, in denen es das zuvor Aufgenommene verarbeiten kann. Das aber kann zur Überlastung des Arbeitsgedächtnisses führen.

Entgegen gängiger Annahme ist unser Gehirn auch in Phasen des Leerlaufs aktiv, wenn wir untätig sind, herumträumen oder sogar dösen. "Unser Gehirn ist so konstruiert, dass es immer zwischendurch in einen weniger aktiven Zustand verfällt", sagt Erik Fransén vom Königlichen Institut für Technologie in Stockholm. "Das mag uns als Verschwendung erscheinen, ist aber wichtig, denn in dieser Zeit werden Erinnerungen gefestigt und Informationen vom Arbeitsgedächtnis in das Langzeitgedächtnis übertragen."

Engpass Arbeitsgedächtnis

Doch durch unsere moderne Lebensweise gehen diese Phasen des einfach nur Entspannens zunehmend verloren: Selbst an der Bushaltestelle, im Wartezimmer des Arztes oder in der U-Bahn nutzten wir unsere Smartphones und Tablets, um ständig das Neueste aus unserem sozialen Netzwerk oder dem Weltgeschehen abzurufen. All dies gelangt zunächst in unser Arbeitsgedächtnis.

"Dieses hilft uns dabei, die Informationen zu filtern und gezielt das aus der Kommunikation zu entnehmen, das wir brauchen", erklärt Fransén. "Dieser Teil des Gedächtnisses ist es auch, der arbeitet, wenn wir online sind und uns die dort gesehenen Dinge merken." Das Problem dabei: Unser Arbeitsgedächtnis hat nur eine begrenzte Kapazität - ähnlich wie der Arbeitsspeicher eines Computers.

Überlast durch Facebook und Co.

In Computermodellen der Hirnfunktion ermittelte Fransén, dass wir uns darin nur etwa drei bis vier Dinge gleichzeitig merken können. Wenn wir versuchen, mehr aufzunehmen, wird das System überlastet und Daten gehen verloren. Das könne beispielsweise passieren, wenn man während der Arbeit chatte oder auf Facebook sei und dabei große Mengen an Informationen auf einmal die Wahrnehmung überfluten. Denn die über die verschiedenen Sinne einströmenden Reize benötigen alle die gleiche begrenzte Ressource: Platz im Arbeitsgedächtnis.

Diese Überlast trainiere nicht das Gedächtnis, es schwäche sie durch ständiges Störfeuer neuer Daten, so der Forscher. Dadurch werde die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses kleiner und auch die Verarbeitung der Daten funktioniere nicht mehr so reibungslos. Wenn dann auch noch der Leerlauf wegfällt, kann das Arbeitsgedächtnis diese Überlast nicht abarbeiten, als Folge gehen Daten verloren. "Wenn wir durch diese Technologien unsere komplette wache Zeit ausfüllen, nehmen wir dem Gehirn die Zeit für die Verarbeitung - das kann auf Dauer nicht funktionieren", so Fransén.

(The Royal Institute of Technology, 23.09.2013 - NPO)