Montag, 16. September 2013

Gott würfelt.


Die Geschichte der Naturwissenschaft datiert von dem Tag, als Galileo zu der Einsicht kam, das „Buch der Natur“ sei in mathematischen Zeichen geschrieben. Anstelle der platonischen Ideen wurden nunmehr die Naturgesetze den Dingen als ihr Wesen 'zu Grunde' gelegt – gefasst in mathematische Formeln. Es war eine nahe liegende Konsequenz, wenn Leibniz vermutete, ‘dass Gott in mathematischen Formeln denkt’. Aber keine notwendige, denn man konnte ja am Ende auch annehmen, Gott sei überflüssig, wenn man an seiner Stelle die Mathematik zur (geistigen) Substanz der (materiellen) Erscheinungen machte.
 
Und so konnte Albert Einstein 1926 in einem Brief an den Quantenphysiker Max Born schreiben: „Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns doch nicht näher. Jedenfalls bin ich überzeugt davon, dass der nicht würfelt.“ Er hat bis an sein Lebensende keinen Frieden mit der Quantenphysik und ihren Unschärfen machen können, und der Satz Gott würfelt nicht ist bis heute Schlusspunkt so mancher grundlagenphysikalischen Diskussion geblieben.
 
Nein, nicht bis heute – nur bis vorgestern.
 
Am gestrigen Montag berichtet die New York Times über einen sensationellen Fund am Fermi National Accelerator Laboratory, der endlich das größte Mysterium der Kosmologie erhellen könnte: „Warum ist das Universum aus Materie zusammengesetzt und nicht aus ihrem bösen Zwilling, der Antimaterie?“
 
Denn „in einem mathematisch perfekten Universum wären wir noch weniger als tot; wir hätten überhaupt nie existiert“. Nach Einsteins Relativität ebenso wie nach der Quantenmechanik müssten aus dem Urknall je gleich große Mengen von Materie und Antimaterie* hervorgegangen sein, die einander unmittelbar darauf in einer Flamme tödlicher Energie vernichtet hätten, und übriggeblieben wäre ein ausgeblasenes Ei.
 
Und trotzdem gibt es uns.
 
Das Fermi Laboratorium betreibt den Tevatron, bis unlängst der weltgrößte Teilchenbeschleuniger. Seine jüngsten Versuche zeigen, wie aus Feuerbällen ein ganz klein wenig mehr Teilchenpaare von sogenannten Myonen (eine Art fette Elektronen) hervorgehen, als Paare von Anti-Myonen. So bestanden die Mikrouniversen im Beschleuniger aus zu etwa einem Prozent mehr Materie als Antimaterie.
 
Der neu entdeckte Effekt verdankt sich einer Sorte von besonders eigenartigen Teilchen namens neutrale B-Mesonen, die dafür berüchtigt sind, dass sie sich nicht so recht entscheiden können. Sie oszillieren pro Sekunde trillionenmal zwischen ihrem regulären und ihrem Antimaterie-Zustand. Und die Mesonen, die durch den Aufeinanderprall von Protonen und Antiprotonen im Beschleuniger entstehen, gehen nun ein ganz kleines bisschen schneller aus ihrem Antimaterie-Status in den Materiestatus über, als umgekehrt. Und so kommt es schließlich zu dem etwa einprozentigen Überschuss von Materie, wenn die Mesonen zu Myonen zerfallen.
 
Über das vergangene Wochenende ging die Neuigkeit um die Welt, und nun wartet die Wissenschaft auf eine Überprüfung im Genfer HDC. Der soll nun herausfinden, wie die B-Mesonen zu ihrem Verhalten kommen: beim Sich-nicht-entscheiden-können ein ganz, ganz kleines bisschen schneller in die andre Richtung kippen. Es sieht doch mehr nach einer Unschärfe aus als nach einem mathematischen Gesetz.
 
„Ich will nicht sagen, wir hätten das Antlitz Gottes gesehen“, sagt ein Mitarbeiter des Fermi-Labors; „aber vielleicht seinen kleinen Zeh.“
 
Es sind nicht die Gedanken Gottes, aus denen die Welt entstanden ist; es war ein Kribbeln in seinem Zeh. Na schön, räumen wir’s ein: Gewürfelt hat er nicht. Er hat sich gekratzt.


*) Matter and antimatter
Matter is made up of protons, which carry a postive electric charge, electrons with a negative charge and neutrons with no charge. Antimatter is made up of antiprotons (protons with a negative charge), positrons (an electron with a positive charge) and antineutrons

Mai 18, 2010

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