Montag, 29. Dezember 2014

Das Denken erübrigen.

wikimedia
aus Die Presse, Wien, 27. 12. 2014

Neues Denken für die Probleme der Welt
Komplexitätsforschung. Big Data erlaubt erstmals in der Geschichte, komplexe Systeme zu verstehen und gezielt zu beeinflussen. Dafür braucht es hohe Mathematik. Die wird maßgeblich auch in Wien entwickelt.

von Verena Ahne

Der Mensch besteht aus komplexen Systemen. Gehirn, Immunsystem, Zusammenspiel von Genen – lauter komplexe Systeme. Der Mensch lebt in komplexen Systemen: in Städten, Ökosystemen, Wirtschafts- räumen. Er braucht, nutzt und verändert komplexe Systeme, wie Artenvielfalt, Finanzmärkte, Klima, Verkehr, Internet.

Komplex sind Systeme aus Einzelteilen – von Ameisen bis zu Bankkrediten –, die miteinander in Wechsel- wirkung stehen. Diese nicht linearen Verbindungen können als Netzwerke abgebildet werden. Bekannt wurden Netzwerke in Form bunter Bilder mit vielen Knoten und Armen, die aber nur Momentaufnahmen sind: Komplexe Systeme verändern sich ständig, wobei jede noch so kleine Veränderung an einem Punkt das ganze System beeinflusst. Ab einer gewissen Zahl von Teilen entwickeln sie zudem neue Eigen- schaften, die sich aus den Teilen selbst nicht ableiten lassen, wie Stabilität oder Schwarmverhalten: das berühmte „mehr als die Summe der Teile“.

„Die Einsicht, dass die Welt komplex ist, ist nicht neu“, sagt Jan Vasbinder, Leiter des Centre of Complexity Sciences der Nanyang Technological University in Singapur. Doch da es für Menschengehirne nicht möglich sei, alle Wechselwirkungen zu durchdenken, habe sich die Wissenschaft lang damit beholfen, die Systeme auf ihre Einzelteile herunterzubrechen und deren Eigenschaften zu analysieren. Die Hoffnung: Das große Ganze würde sich aus den Teilen erklären lassen. „Das hat gewaltige Fortschritte gebracht“, räumt Vasbinder bei den Technologiegesprächen in Alpbach, die 2014 im Zeichen der Komplexität standen, ein. Doch „300 Jahre vor allem technologischer Wissenschaft“ treiben inzwischen so manches System an den Rand seiner Belastbarkeit.

Das ist ein Problem: Denn komplexe Systeme sind zwar robust, doch wird ein bestimmter Punkt über- schritten, können sie sich sehr rasch verändern – umfassend und irreversibel. Beim Klima etwa liegt nach derzeitigen Erkenntnissen der Kipppunkt bei vier Grad Celsius Temperaturanstieg; danach sähe die Welt anders aus. „Unsere drängendsten Probleme lassen sich mit Reduktionismus nicht mehr lösen“, fordert Vasbinder einen Paradigmenwechsel. „Wir brauchen eine neue Wissenschaft, die mit komplexen Systemen umgehen kann.“

Speichern bricht neue Rekorde

Eine solche Wissenschaft wurde durch Computer möglich. Sie rechnen in kurzer Zeit, wofür tausende Menschenköpfe hunderte Jahre lang rauchen müssten. Und sie erlauben das Speichern von Datenmengen, die immer neue Rekorde brechen: „90 Prozent aller verfügbaren Daten wurden in den letzten zwei Jahren generiert“, so der oberste Verantwortliche für Forschung und Innovation in Brüssel, Robert-Jan Smits, der in Tirol über Science 2.0 sprach. „Wir werden viele gute Leute brauchen, die mit diesen Daten umgehen können.“

Womit nicht die simplen Big-Data-Interpretationen gemeint sind, die derzeit die Diskussion beherrschen und meist mit Marketing oder Überwachung zu tun haben. „Die arbeiten im Grunde mit Korrelationen“, sagt Stefan Thurner, Leiter des Instituts für Wissenschaft komplexer Systeme an der Med-Uni Wien: Eine junge Frau bekommt vom Drogeriemarkt Babywerbung aufs Handy geschickt, weil sie vor ein paar Wochen Vitaminpillen gekauft hat. „Korrelationen sind in Big Data leicht zu finden. Und begeistern die Leute. Sie glauben, Dinge hängen zusammen. Dabei treten sie meist nur zufällig gleichzeitig auf.“ Wenn Störche kommen, steigt die Geburtenrate, ist so eine typische Scheinkorrelation.

Finanzmarkt sicherer machen

Die Komplexitätsforschung der Zukunft, wie sie auch Thurner mit Kollegen in Wien und international betreibt, widmet sich Fragen höherer Ordnung. Etwa wie der Finanzmarkt sicherer gemacht werden kann. „Wir müssen die Systeme selbst verstehen. Systeme, die sich ständig ändern. Oder sogar Netzwerke von Netzwerken“, sagt Thurner. Denn die meisten komplexen Systeme sind offen, also mit anderen komplexen Systemen verbunden, mit denen sie ebenfalls in Wechselwirkung treten. „Solche Multiplexnetzwerke zu analysieren, ist sehr, sehr schwierig. Doch wenn es gelingt, erwachsen daraus völlig neue Einsichten.“

Thurners Physikerkollege Peter Klimek nennt als Beispiel Krankheiten, die von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Schon auf individueller Ebene greifen hier Netzwerke ineinander, Gene, Proteine, Immunsystem, Stoffwechsel, die wiederum beeinflusst werden durch Faktoren wie Lebensstil, Alter, soziale Netzwerke, Umwelteinflüsse. „Will die Medizin Netzwerke reparieren, muss sie ihr Ineinandergreifen verstehen“, so Klimek. Wozu die Komplexitätswissenschaft beitragen könne: effektive von nicht effektiven Behandlungen unterscheiden; bei der Entwicklung neuer Medikamente helfen; neue Einsichten in Krankheiten gewinnen.

Ein wenig Statistik reicht dafür allerdings nicht. „Hier braucht es eine ganz neue Mathematik“, so Thurner, „eine, die gerade erst entwickelt wird.“ Außerdem müssen am Anfang gute Theorien stehen: „Wer nicht weiß, was er wissen will oder kann, kommt nicht weit. Big Data ohne Big Theory ist Big Shit“, wird der Forscher plakativ.

Große Theorien entwickeln

Seine Gruppe hat bereits ein paar „große Theorien“ geliefert. So macht die im Frühjahr publizierte Systemic Risk Tax gerade auf EU-Ebene von sich reden – ein Verfahren, das erstmals erlaubt, das systemische Risiko jeder einzelnen Bank und Transaktion zu bestimmen und entsprechend zu besteuern. Dadurch verändere sich der Bankenmarkt, sodass das Risiko eines Crashs drastisch sinkt.

„Das erste Mal in der Geschichte können wir komplexe Systeme verstehen“, ist der Physiker überzeugt. Das sei die positive Seite an Big Data. „Denn wenn wir sie verstehen, können wir sie auf eine Weise beeinflussen, die der Gesellschaft nützt.“


Nota. - Big Theory erweist sich, wie so gern auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten, als der Verzicht auf Theo- rie. An deren Stelle tritt der Algorithmus, denken heißt rechnen, aber das tut keiner mehr selber, dafür hat er die Große Maschine, die zählt und sortiert und zählt und sortiert. Eine mathematische Formel erflei- ßigen - das verstehen sie unter Verstehen. 

Denn natürlich wird der Untergang des Mythos vom Naturgesetz ("Kausalität" - das galt bislang als Kno- tenpunkt des Verstehens) nicht zu einer Verallgemeinerung und Habitualisierung des kritischen Denkens führen, sondern im Gegenteil zum offen proklamierten Abschied vom Sinn unterm Zauberwort "Komple- xität"Gehirn, Immunsystem, Zusammenspiel von Genen – lauter komplexe Systeme. Städte, Ökosysteme, Wirtschaftsräumen; Artenvielfalt, Finanzmärkte, Klima, Verkehr, Internet - alles eine Sauce, solange man sie nur händeln kann. Anything goes, sie haben es längst gewusst, und nun wird es zur Bedingung von Wissenschaft!

Aber kein Angst, Aschermittwoch ist alles wieder vorbei, sie werden nämlich gar nichts gehändelt haben, die Finanzmärkte noch am allerwenigstens
JE


Sonntag, 28. Dezember 2014

Eurotrash - András Schiff gegen das Regietheater.


aus nzz.ch, 27.12.2014, 12:00 Uhr                                            Kresnik, Un ballo di maschera von Verdi

Was zum Teufel ist mit dem deutschen Theater los?
Zwei Monate in Berlin können einem, der das klassische Theater liebt, den Garaus machen. Ist es ein Wunder, dass man vieles von dem, was hiesige Bühnen produzieren, in New York «Eurotrash» nennt?

von András Schiff

Berlin ist eine wunderbare Stadt. Ihr kulturelles Angebot ist atemraubend; Oper und Theater, Kino und Ballett, Galerien und Museen, Sinfoniekonzerte und Kammermusik – der Kulturfreund ist tagtäglich mit der Qual der Wahl konfrontiert. Während meines zweimonatigen Aufenthalts in dieser Stadt ergriffen meine Frau und ich diese Gelegenheiten beim Schopf und kamen in den Genuss etlicher Darbietungen. Wir hörten herrliche Konzerte, erlebten Opernaufführungen, besichtigten wunderschöne Museen und sahen einige gelungene und aussagekräftige Filme. Unsere Theaterbesuche hinterliessen hingegen äusserst zwiespältige oder gar negative und verstörende Eindrücke.

Dürrenmatt mit Lady Gaga

Die künstlerische Qualität der fünf Abende war unterschiedlich: Eine Produktion – «Das Kalkwerk» nach dem Roman von Thomas Bernhard an der Schaubühne – war nicht nur als Experiment hochinteressant, sondern auch schauspielerisch hervorragend, Ödön von Horváths «Geschichten aus dem Wienerwald» im Deutschen Theater gerieten ebenfalls sehr ansprechend und lohnten den Besuch. Friedrich Dürrenmatts grossartige Tragikomödie «Der Besuch der alten Dame» (abermals im Deutschen Theater) gerann dagegen zum lächerlichen, vulgären Pseudomusical mit – horribile dictu – Songs von Lady Gaga. Als noch unzumutbarer dünkten uns zwei Vorstellungen im renommierten Berliner Ensemble: Friedrich Schillers «Kabale und Liebe» – genauer gesagt: eine Amputation des Trauerspiels – wurde bis zur Unkenntlichkeit und daher Ungeniessbarkeit ad absurdum inszeniert; die Eingriffe in den Text beziehungsweise Kürzungen an ihm grenzten an Unverschämtheit.

Zur Schilderung der fürchterlichen Inszenierung von Georg Büchners genialem «Woyzeck» fehlen mir die passenden Worte. Im Normalfall verlässt man ein Theater nicht vor dem letzten Vorhang, doch an diesem Abend flohen wir bereits nach zwanzig Minuten des Leidens geradezu panisch aus der Spielstätte. Weil es keine Pause gab, mussten wir unsere Sitznachbarn stören und sie aufstehen lassen; sie begleiteten unseren Abgang mit verständnislosen und bösartigen Blicken. Wenn man mit Augen töten könnte . . .

Drei schreckliche Theatererlebnisse in einer Woche, notabene in der Kulturweltstadt Berlin – das ist alarmierend. Bei aller Verschiedenheit der aktuellen Inszenierungen schälen sich dennoch einige gemeinsame Nenner und Tendenzen heraus, die für das zeitgenössische deutschsprachige Theater symptomatisch sind. In New York nennt man diese Strömung mit Recht «Eurotrash» – Ramsch aus Europa. Im seltsamen Reich der Bühne von heute herrscht als thronender König der Regisseur. Ihm, dem allmächtigen Herrn der Theaterhäuser, haben sich Schauspieler und Schauspielerinnen, Bühnen- und Kostümbildner, Dramaturgen und Techniker unterzuordnen. Er kann sich das leisten, weil er, einem magischen Magneten gleich, viele Theaterbesucher anzieht und anstachelt, seinetwegen ins Theater zu kommen. Die Plakatgrafiker spielen das Spiel mit. Auf ihren Affichen liest man zwar den Namen des Autors und den Stücktitel, ebenso prominent aber prangt der Name des Spielleiters von der Plakatsäule.

Was die Besucher dann erleben, hat mit den originalen Vorlagen jämmerlich wenig zu tun. Der Regisseur scheint alles besser zu wissen als der Autor. Der Neunmalkluge nimmt seinen Rotstift, korrigiert ohne Rücksicht auf Verluste Wörter, Sätze, Abschnitte, streicht ganze Szenen aus dem Buch oder ändert beliebig deren ursprüngliche Reihenfolge. Er spielt mit dem Text wie die Katze mit der Maus. Und der Autor? Er ist in der Regel tot und somit wehrlos. Wen soll denn sein vermeintlich angestaubter Text kümmern? Er mag ruhig auf der Strecke bleiben, denn das Interesse soll sich ja auf die Regie verlagern; sie soll den Besucher herausfordern und kitzeln.

Beckett im Pflegeheim

Was würden Shakespeare, Goethe, Büchner, Kleist und andere Unsterbliche zu den Herrschaften Regisseuren sagen, stünden sie wieder auf und sähen ihre Stücke in den heutigen Inszenierungen? Die Frage ist relevant. Mithilfe von etwas Phantasie lässt sie sich adäquat beantworten. Mutmasslich würde die Reaktion der grossen Autoren zum deutschen Regietheater sehr ähnlich zu derjenigen ihres Kollegen Samuel Beckett ausfallen. 1973 erhielt dieser einen höflichen Brief von dem Kölner Dramaturgen Kleinschmidt. Das Schauspiel Köln erarbeitete damals Becketts Stück «Endspiel» und konnte oder wollte mit den Anweisungen des Autors wenig anfangen. Herr Kleinschmidt schrieb, man intendiere, das Stück in einen realistischeren Raum, nämlich in ein Altersheim zu verlegen, und wollte deshalb die Beckettschen Mülltonnen durch Pflegebette ersetzen. Becketts Antwort ist eindeutig. In meiner Übersetzung:

Lieber Dr. Kleinschmidt,
danke für Ihren Brief.

Ich stelle mich entschieden gegen Ihre Idee, «Endspiel» durch die Verpflanzung in ein Altersheim oder in eine andere modische Hölle auf den neuesten Stand zu bringen. Dieses Stück kann nur funktionieren, wenn es genau so aufgeführt wird, wie es geschrieben ist und in Übereinstimmung mit den Regieanweisungen – nichts hinzugefügt und nichts weggelassen. Aufgabe des Regisseurs ist es, dies zu gewährleisten, nicht, Verbesserungen zu erfinden. Wenn und wo diese Einstellung als nicht vereinbar mit den bestimmenden Notwendigkeiten erachtet wird, sollte das Spiel in Frieden gelassen werden. Es besteht kein Mangel an anderen, die den Anforderungen genügen.

Ihr ergebener
Samuel Beckett



(Dr. Kleinschmidt bedankte sich für Becketts unmissverständliches Schreiben. Die Aufführung fand trotzdem im Altersheim statt; die Premiere war ein Desaster, laut einem Artikel von Gerhard Stadelmaier in der «FAZ» vom 25. Februar 2014.) Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Interpreten aller Art – Regisseure, Dramaturgen, Dirigenten, Instrumentalisten – sind re-kreative, also nachschaffende Künstler im Dienste der kreativ-schöpfenden Autoren und Komponisten. Das ist nicht weniger als die Conditio sine qua non der Kunst. Alte Meisterwerke neu beleben zu wollen, ist eine innere Notwendigkeit und ein lobenswertes Bestreben. Der Interpret darf dabei aber nicht über das Ziel hinausschiessen, er sollte sich stets an den Werkrahmen halten und dessen Parameter erkennen und respektieren. Das ist keineswegs ein ausschliesslich subjektiver Prozess, wie es manche Theaterleute behaupten. Beckett ist zuzustimmen, er ist im Recht. Autor und Text sind als unentbehrliche und unverwechselbare Komponenten sehr viel wichtiger als Regisseur und Schauspieler.Auf dem Plakat der Uraufführung von Mozarts «Don Giovanni» (am 29. Oktober 1787 in Prag) stehen neben dem Komponisten und Dirigenten Mozart sowie dem Librettisten Lorenzo da Ponte die Namen der gesamten Sängerbesetzung. Nach dem Spielleiter sucht man umsonst. Damals standen das Werk und seine musikalische Wiedergabe eindeutig im Mittelpunkt, nicht die szenische Realisation. Liest man heutzutage Rezensionen einer «Don Giovanni»-Aufführung, blickt man in eine verkehrte Welt. Der Rezensent widmet seine Schreibe hauptsächlich der Inszenierung und der Bühnentechnik; Dirigent, Sänger und Orchester finden lediglich am Rande Erwähnung, noch stiefmütterlicher wird der arme Komponist behandelt.

Falsche Unbescheidenheit

Warum fällt es den meisten Regisseuren so schwer, in den Hintergrund zu treten und sich in den Schatten der Stücke und ihrer Autoren zu stellen? Woher rührt diese Sucht nach der Selbstdarstellung, der Wichtigtuerei, der Respektlosigkeit? Wieso mangelt es an Demut und Bescheidenheit? Warum diese panische Angst vor der Langeweile? Apropos Langeweile: Sie ist ein subjektives Phänomen. Was manche Menschen als eintönig und mühsam einschätzen, mag für andere spannend und hochinteressant sein. Wie oft hat Cézanne den Mont Sainte-Victoire gemalt, im Sommer und Winter, in der Frühe und am Abend, im Regen und im Sonnenschein? Ist Cézanne etwa langweilig?

Gewiss, einige Theaterstücke dauern sehr lange und verlangen von den Zuschauern Beharrungsvermögen. «Kabale und Liebe» beansprucht ungekürzt zirka fünf bis sechs Stunden. Ist das ein Problem? Haben wir in unserer täglichen Hektik dazu keine Zeit mehr? Oder reisst unser Geduldsfaden allzu schnell? Wagners «Tristan und Isolde» ist auch keine Kurzoper, meistens beginnt die Vorstellung bereits am späteren Nachmittag. Aber das Wesen der Oper ist im Vergleich zum Theater ein anderes: Im Schauspiel wird nur gesprochen, in der Oper dominiert die Musik. Dies macht den Hauptunterschied zwischen den zwei Gattungen. Die möglichst treue Befolgung des (Noten-)Textes und die philologische Genauigkeit gelten als wichtigste Tugenden der Musikwissenschaft und der Kunst der musikalischen Interpretation. Die Musiker bemühen sich mit Fleiss und Hingabe, die Instruktionen der Komponisten minuziös zu berücksichtigen, dynamische Vorschriften, Akzente, Artikulationszeichen sehr genau einzuhalten.

Was macht währenddessen der Regisseur? Er glaubt, sich behaupten zu müssen – von der Musik versteht er ohnehin nichts, er kann kaum Noten lesen (ja, ich weiss, es gibt löbliche Ausnahmen) –, und tobt sich umso ungehemmter auf der Bühne aus. Er verändert, was das Zeug hält: die Handlung, den Spielort, die Ära des Stücks, und beglückt uns überdies mit Sex, Gewalt und Geschmacklosigkeiten bis zum Überdruss. Es beliebte ihm wahrscheinlich, sogar die Musik Mozarts, Verdis und Wagners umzuschreiben, abzukürzen und zu entstellen, wenn er könnte. Aber das darf er zum Glück nicht. Musik und Bühne generieren Diskrepanzen und Widersprüche, die leider zu dieser Vielzahl an grauenerregenden Inszenierungen führen, welche die moderne Opernwelt heimsuchen.

Auch im Sprechtheater kann der Musik eine Rolle zufallen – hochaktuell etwa auf diese Weise: Zwischen den Szenen in der Berliner «Woyzeck»-Aufführung wurde man mit gesungenen (gebrüllten) Songs von Apples in Space, The Doors, Canned Heat, Dion & The Belmonts, Melanie, Dolly Parton und anderen Berühmtheiten traktiert. Dürrenmatts alte Dame wurde gezwungen, Lieder von Lady Gaga zu singen, natürlich in – nicht sehr gutem – Englisch, das passt doch bestens zu einem deutschsprachigen Theaterstück . . . Abermals ein Widerspruch, grosse Literatur mit miserabler Musik zu infizieren. Ein Gutteil des Publikums findet dieses Pop-up selbstverständlich toll und cool. Das Theater ist ausverkauft, voller Schulkinder, die vom Stück keine Ahnung haben und sich dementsprechend schlecht benehmen, sich aber mit Lady Gaga und Konsorten bestens identifizieren.

Regisseure müssen nicht unbedingt musikalisch sein. Falls sie es tatsächlich nicht sind, sollten sie unbedingt beste Ratgeber hinzuziehen, denn Musik und Wort können sich durchaus kongenial ergänzen, man denke beispielsweise an Alban Bergs «Wozzeck». Im Theater (und, Gott sei's geklagt, auch in Filmen) wird man mit schlechter Musik buchstäblich bombardiert, die hohen Lautstärkepegel zertrümmern einem das Trommelfell. Warum geht es nicht leiser oder sogar ganz still? Die Stille ist die schönste Musik.

Unsterblich, aber verletzbar

Die Ästhetik des Musicals hat ebenso die Schauspielkunst erreicht und negativ beeinflusst. Die Schauspieler singen und sprechen mit Kopfmikros. Sind denn die meisten Leute heutzutage schwerhörig? (Verwunderlich wäre es nicht angesichts des Lärms, den wir jeden Tag ertragen müssen.) In einem mittelgrossen Theater (wie dem Berliner Ensemble oder dem Deutschen Theater) müssten sich die Schauspieler mühelos ohne künstliche Verstärkung durchsetzen können. Zu Zeiten von Max Reinhardt und Bertolt Brecht (in den gleichen Häusern) ging es auch ohne. Voraussetzung ist, den Text so zu artikulieren und zu deklamieren, dass alle Zuschauer, auch jene in der hintersten Reihe, ihn verstehen und wahrnehmen können. Das heisse Schauspiel- und Sprechkunst.

Über das sogenannte Regietheater ist viel, zu viel, geschrieben worden, pro und contra. Das Phänomen bestimmt die gesamte deutschsprachige Bühnenlandschaft, von Zürich bis Wien. Man kann gegen Auswüchse so vehement argumentieren, wie man will – am Siegeszug dieser Modeerscheinung wird sich wenig bis gar nichts ändern. Trotzdem soll der Kampf gegen sie nicht verebben. Und zwar im Namen der grossen Autoren. Auch wenn sie als unsterblich gelten, sind sie leider doch verletzbar.


Der Pianist András Schiff wurde 1953 in Budapest geboren. Heute lebt er in London und Florenz.

Nota. - Wenn man nicht gerade in eine schöngeistige Familie hineingeboren wurde, kennt man die großen Bühnenwerke zuerst nur vom Lesen, im Deutschunterricht. Aber dafür wurden sie nicht geschrieben, das Schau-Spiel ist fürs Sehen und Hören; und zum Spielen. Da ist es manches Mal geschehen, dass der Deutschunterricht den Zugang nicht geöffnet, sondern verstopft hat.

Mir ist die Schauspielkunst bis heute fremd geblieben. Als ich in dem Alter war, wo man von sich aus ins Theater läuft, da ist gerade das Regietheater ausgebrochen, und auch das Wort wurde bald populär. Meines Rückstands bewusst, wollte ich doch aber nicht sehen, wie ein mir gar nicht bekannter Spielleiter die Stücke geistreich "gegen den Strich bürstet", sondern erst einmal so, wie sie der Autor vermutlich gemeint hat, oder wie die Theatergemeinde seit Generationen meinte, dass er sie gemeint haben müsste. Da hätte ich mich über manches zerlesene blutleere Stück sicher sehr gewundert, dem einen wär's bekommen, dem andern nicht. Und natürlich wäre mir hier und da die Frage aufgestoßen, ob man dieses oder das oder gar das ganze Stück, am Ende vielleicht nicht auch den Autor 'ganz anders auffassen muss'. Das wäre dann im einzelnen Fall auszuprobieren gewesen...

Nicht, dass das unter den gegebenen Umständen gar nicht möglich gewesen ist, aber angeboten hat es sich nicht - ich hätte eifrig suchen müssen. Doch Musik und bildende Kunst lagen mir näher. Dabei ist es bis heute geblieben.

Wenn aber eines Tage (in Berlin, vor meiner Tür) - sagen wir - der Tannhäuser in einer 'historisch informierten' Produktion geboten würde, könnte ich mir vorstellen, dass ich auch mal ein paar Stunden Wagner live auf mich nähme.
JE

Samstag, 27. Dezember 2014

Günther Rühles Theatergeschichte, II. Teil.

Er spricht vom Theater, als gäbe es nichts Wichtigeres: Günther Rühle. aus nzz.ch, 27. 12. 2014

Parzival als Historiker
Nach dem ersten Teil seiner deutschen Theatergeschichte legt der neunzigjährige Günther Rühle jetzt den umfangreicheren zweiten vor. Er betrifft die Nachkriegsjahre. – Ein Besuch beim Autor.

von Peter Michalzik

Nach einem langen Gespräch, das sich leichtfüssig durch die Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte bewegt hatte, bleibt er stehen. Er steht im oberen Stockwerk seines Hauses vor einer Zeichnung, die eine junge Frau zeigt. Selbst in der Zeichnung sieht man, wie berückend sie gewesen sein muss. Er fragt, ob man wisse, wer sie sei, und erzählt eine Geschichte. Max Reinhardt, der grosse Theatermensch der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hatte die Schauspielerin Tilla Durieux neben den Polizeichef von Berlin placiert, um ihm die Sinne zu verwirren. Er wollte ihn von einer zensurgefährdeten Aufführung ablenken. Das gelang über die gesamte Aufführungsdauer hinweg. Wenn Günther Rühle, ein Mann von neunzig Jahren, das vor dem Bild der Schauspielerin erzählt, wird deutlich, dass er noch mehr Spass an dieser Begebenheit als an der unwiderstehlichen Schönheit der Frau in seinem Haus hat.

Verlebendigung

Rühle ist Auratiker. In seiner Nähe meint man die Durieux zu spüren, die bezirzende Gegenwart einer längst Verstorbenen stellt sich ein. Wenn er erzählt, meint man in der Haut des Polizeichefs zu stecken und fühlt sich zu dieser Durieux hingezogen. Das ist es, was die besondere Qualität von Günther Rühles grosser Erzählung vom Theater ausmacht: Dank ihm wird Theater gegenwärtig und lebendig.

Kurz zuvor hat er von Gustaf Gründgens gesprochen, dem er in seinem neuen Buch nicht nur eines, sondern mehrere lebendige Denkmäler baut. Nein, er sei damals kein Fan von Gründgens gewesen, nein, er habe nur drei Aufführungen von ihm gesehen, nein, er habe nie mit ihm gesprochen. Dann erzählt er, dass er als junger Mann doch einmal im Theater neben ihm gesessen habe, einmal. «Dieser Mann hatte eine ungeheure Aura. Es war etwas um ihn herum. Wenn man das einmal gespürt hat, das hilft einem beim Schreiben.» Ja, sicher, wenn man Günther Rühle heisst. Rühle erzählt begeistert von dem grossen Schauspieler, er erzählt von einem Gründgens, der sich vor seinem geistigen Auge befindet. «Der Mann hatte eine so grossartige Stimme. Gründgens war vor allem Stimme. Diese Stimme, sie hat einen sofort geweckt.» Ja, genau, denkt man, warum war einem dieser Satz selbst nie eingefallen, so offensichtlich wahr ist er.

Als sei er selbst dabei gewesen, hiess es schon nach dem ersten Band seiner einzigartigen Theatergeschichte «Theater in Deutschland 1887–1945». Nun, nach dem zweiten Band, «Theater in Deutschland 1945–1966», muss man hinzufügen: Als wäre man selbst dabei gewesen. Wer dieses Buch liest, 1200 Seiten Text, keine einzige Abbildung, dazu 300 Seiten Anmerkungen, Zeittafel usw., wird sich oft dabei ertappen, dass er meint, zu wissen, wie es gewesen ist. Dieses Buch ist so geschrieben, als habe Günther Rühle, dieser alte, wache Mann, nicht ein Sachbuch vor Augen gehabt, sondern als habe er seine eigene Geschichte erzählen wollen.

Vielleicht ist das das Geheimnis dieses Theaterschriftstellers. Rühle begreift das Theater, als sei es sein Leben. So kann der Leser es selbst miterleben. Und es war ja auch sein Leben. Er hat es für sechzig Jahre beeinflusst, er hat als Theaterkritiker und als Theaterintendant gearbeitet. Er hat viele Bücher über das Theater geschrieben und herausgegeben, die Werke Alfred Kerrs und Marieluise Fleissers, eine Sammlung von Kritiken. Aber erst jetzt, mit dieser Theatergeschichte und ungebrochener Kraft, ist er endgültig einer der grössten Historiker geworden, die das Theater hatte.

Vom Westerwald nach Frankfurt

Rühle ist seit diesem Sommer neunzig Jahre alt. Er stammt aus dem Westerwald, wohin es einen Teil der preussischen Familie Rühle verschlagen hatte, er ist Nachfahre eines Freundes von Heinrich von Kleist, ist später in Bremen aufgewachsen. Aber schon immer scheint er in Frankfurt am Main gelebt zu haben, wo sein Vater, ein Wirtschaftsprüfer, ins Theater ging, wovon er dann dem Jungen auf dem Land berichtete.

1946 begann Rühle selbst, in Frankfurt zu studieren, wurde Journalist, erst bei der «Frankfurter Rundschau», dann bei der «Frankfurter Neuen Presse» und dann, als Theaterkritiker, bei der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», deren Feuilleton er zehn Jahre leitete. 1984 wurde er für fünf Jahre Intendant des Schauspiels in Frankfurt, bis heute unvergessen, indem er Einar Schleef den Weg bereitete und gleich zu Beginn den sogenannten Fassbinder-Skandal um das Stück «Der Müll, die Stadt und der Tod» durchstand.

Heute ist Rühle Ehrenpräsident der Akademie für Darstellende Kunst und bei zahlreichen Veranstaltungen durch dezidierte Stellungnahmen ein unübersehbarer Gast: Mit leicht gerötetem Kopf und fester Stimme sagt er Dinge, an denen man nur schwer vorbeikommt. Der Mann hat etwas von einem Monument, gemacht aus Jahrzehnten von Erfahrung und natürlicher Autorität. Wenn er spricht, scheint es kaum Widerspruch zu geben.

8. Mai 1945

Rühle beginnt sein Buch mit dem 8. Mai 1945, dem Kriegsende, dem Ende der Naziherrschaft, in einem Land, in dem sich niemand vorstellen kann, dass das Theater, unter anderem, je wieder das werden würde, was es gewesen ist. Theater ist für Rühle Teil der Gesellschaft, das macht seine Grösse und Bedeutung aus, und Gesellschaft war selten gründlicher zerstört als in Deutschland 1945.

Wenn nun die Geschichte doch wieder beginnt, erstaunlich schnell mancherorts, vergisst Rühle dieses Gefühl der Zerstörung nicht. Es grundiert sein Buch und geht in den vielen Ereignissen und zwischen den vielen Akteuren nicht verloren. Rühle beginnt das Buch nicht in Berlin, auch nicht in Zürich, wohin sich viele Emigranten gerettet hatten, auch nicht in den USA, wo noch mehr Emigranten waren, sondern in Moskau, im Hotel Lux. Auch das zeichnet sein Buch aus: Die Entwicklung in jenem Teil Deutschlands, der bald «der Osten» und «die DDR» heissen sollte, wird mit der gleichen Ernsthaftigkeit verfolgt. Die Legitimität der dortigen Entwicklung wird nicht bezweifelt.

Anfangs konzentriert sich noch alles auf Berlin, es geht um Maxim Vallentin, Gustav von Wangenheim, Gustaf Gründgens, Jürgen Fehling, Paul Wegener, den verschwunden geglaubten Gerhart Hauptmann und viele andere. Es geht bald um Carl Zuckmayer und Bertolt Brecht, der über Zürich und München sich schrittweise Berlin annäherte. Was wäre geschehen, die Frage scheint kurz auf, wenn Brecht in einer dieser beiden Städte geblieben wäre? Ein besonderer Reiz von Geschichtsschreibung.

Den Sog, den Berlin ausübte, verlor es bald, als sich das Theater über die gesamte Republik zu verteilen begann. Rühle erzählt von einem Land, das grösser ist als Deutschland. Wenn er von der Schweiz berichtet, dann trifft er sowohl die Rolle der Traditionsbewahrerin – mit Zürich als Sammelbecken der Emigranten und Remigranten, als Sprungbrett auf dem Weg nach Berlin, mit Brechts «Antigone» in Chur – als auch die spezielle Schweizer Sensibilität, die sich mit Frisch und Dürrenmatt schnell abzuzeichnen begann.

«Anfang im Ende» heisst der erste Teil des Buchs, «Jahre der Trennung» der zweite, «Im zermauerten Land» der dritte, der demnach 1961 beginnt. Rühle verfolgt nicht nur die politische, sondern auch die moralische Trennung der beiden Deutschlands Schritt für Schritt. Auch das macht sein Buch spannend. Damit stellt sich aber eine Frage. Warum hat der Autor es nicht 1961 enden lassen, als die Trennung perfekt, oder 1989, als die deutsche Nachkriegsgeschichte zu Ende war? Auch theaterhistorisch ist es nicht zwingend, dass der jetzt vorliegende Band mit Handkes «Publikumsbeschimpfung» und dem Frankfurter TAT ausklingt. Es hätte ebenso gut Peter Zadek sein können, mit dem das moderne Regietheater begann.

Es ist tatsächlich so, dass dieses Buch, das dicker ist als der erste Teil, obwohl jener eine fast dreimal so lange Zeitspanne umfasst, eine Fortsetzung finden soll: Der betagte Rühle plant den dritten Teil (1966–1989). Über sechs Jahre hat Rühle für den zweiten gesammelt und geschrieben. Noch einmal kann er sich vorstellen, eine solche Herkulesaufgabe auf sich zu nehmen. Aber schon jetzt hat er ganz allein geschafft, wozu die gesamte deutschsprachige Theaterwissenschaft nicht in der Lage ist (was aber ihre vornehmste Aufgabe wäre): die Geschichte des Theaters zu schreiben. Dieses Buch dürfte auf seinem Feld kaum noch einmal übertroffen werden. Rühle übersieht die Vergangenheit, er ordnet sie und stellt sie dar. Es ist der grösste Liebesdienst, den man dem Theater, diesem unspeicherbarsten aller Medien, erweisen kann.

Gründgens – wie ein Vermächtnis

Es finden sich zahlreiche Passagen, die eigenständiger Publikationen würdig wären. Der Weg Fritz Kortners, seine überragende Bedeutung für den Wiederanschluss des deutschen Theaters an seine Traditionen, wird herausgearbeitet. Wie die deutsche Erstaufführung (nach einer folgenlosen Zürcher Aufführung von 1944) von Sartres «Fliegen» den Nerv der Zeit berührte, zwischen französischer und deutscher Niederlage, wie das Stück die Ost-West-deutsche Situation auf den Punkt brachte, wie unterschiedliche Ästhetiken (von Gründgens in der Erst- und von Fehling in der bedrückenden Zweitaufführung) die Zeit und das Stück ganz unterschiedlich fassten, kommt einem so treffend beschrieben vor, dass man meint, anhand eines Stückes und auf zwölf Seiten Wesentliches über die gesamte Nachkriegsverfassung zu begreifen.

Am überragendsten aber ist Gustaf Gründgens beschrieben. Nie ist die Schärfe von Gründgens' klassisch-puristischem Naturell besser auf den Punkt gebracht worden. Allein dafür lohnt sich das Buch. Es gibt kaum einen grossen deutschsprachigen Theatermacher des 20. Jahrhunderts, der der Gegenwart ferner wäre als Gründgens. Hier ist die schillernde Erscheinung, wie im Brennglas, eingefangen. Es ist wie ein Vermächtnis.

Wahrscheinlich hat das Pathos, das darin steckt, etwas mit dem Entstehen und der Wucht dieses Buches zu tun. Rühles Theatergeschichte ist vor dem Hintergrund des Verschwindens entstanden. Aus seiner Sicht verschwindet das Theater, jenes Theater, das vor 250 Jahren mit Lessing entstanden war, das eine republikanische und moralische gesellschaftliche Institution war, das die Zeit spiegelte, befragte, kritisierte und veränderte, eine Schule der Sitten und des gesellschaftlichen Bewusstseins. «Erst beim Schreiben», sagt Rühle, «wurde mir bewusst, wie viel das Theater zur Wiederherstellung der Demokratie geleistet hat.» Es gibt ein kleines Kapitel «Die Erweiterung des Bewusstseins», das zusammenfasst, was das Theater an Neuem aufzunehmen in der Lage war. Und umgekehrt: «Sie können schon am Theater der sechziger Jahre ablesen, an seiner Verengung, warum die DDR später kaputt gegangen ist.»

Lessings Trias

Und so sitzt dieser wache, alte Mann in seinem Haus vor Frankfurt, an den sanft ansteigenden Hängen des Vordertaunus, und sagt Sätze, die in den Ohren klingeln. Er spricht vom Ende des Theaters, als sei es ausgemachte Sache. Er spricht vom Theater, als gäbe es nichts Wichtigeres. Er tut es mit glühendem Ernst. Er spricht von einem Theater, das als einzige Kunst nicht aus sich, sondern aus Gesellschaft entsteht. In der Wucht der Sätze liegt Rühles Theatralität. Aber es ist nun einmal seine Welt, die da untergeht, und ihm ist aufgegeben, sie zu retten, wenigstens zwischen zwei Buchdeckel.

«Das Programm des Humanismus im Theater ist verbraucht. Die Emanzipation, die Überwindung des Vorurteils, die Vernunft, diese Trias Lessings ist aufgebraucht. Wir leben in einer Gesellschaft, die das verwirklicht hat, was Lessing gewollt hat. Deswegen torkelt das Theater so und muss sich eine neue Szene suchen. Der Spieltrieb ist da, aber einen Gegner bekommt im Theater zur Zeit niemand zu fassen.»

«Sie sind der letzte Parzival des deutschen Theaters», soll Heiner Müller einmal zu Rühle gesagt haben. Jetzt ist dieser Parzival Historiker und vereinbart dabei Dinge, die nicht zu vereinbaren sind. Ein sicheres Urteil kann man als Kritiker erlernen. Anschauliches Schreiben lernt der Journalist. Aber die Akribie, die Systematik, die Disziplin und die Selbstlosigkeit, die zum Schreiben eines solchen Buches notwendig sind, lernt man nirgends.

Da muss man auch noch ein preussischer Charakter sein.

Günther Rühle: Theater in Deutschland 1945–1966. Seine Ereignisse – seine Menschen. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2014. 1520 S., Fr. 61.90.


Nota. - Weniger als irgendeine andere Kunstform, weniger noch als der Roman, kann man das Theater ohne Bezug auf das Zeitgeschehen betrachten, ganz recht: Denn wenn es sich selber jeden Bezug versagt, so kommt gerade das "zur Sprache", nämlich auf der Bühne, d. h. spätestens in der Pause. Theater ist von vorherein öffentlich, nicht erst seine Rezension. 

An seinem Zustand könne man den Zustand einer Gesellschaft ablesen? Es sei eine Welt, die untergeht? Geht sie unter, weil das Regietheater die Autoren verschreckt? Die schaupielerischen Talente erstickt? An die Stelle gesellschaftlicher Fragen - man mag es kaum aussprechen - private Geltungsprobleme rückt?

Vielleicht kommt das ja im 3. Band, man wünsche ihm ein langes Leben.
JE
 

Mittwoch, 24. Dezember 2014

Ein lange überschätzter Autor.

aus nzz.ch,  5.12.2014, 11:41 Uhr

Walter Benjamin und sein Werk
Ein neu zu erkundender Kontinent
Walter Benjamin (1892–1940) war für einige Jahrzehnte im intellektuellen Diskurs eine selbstverständliche, wenn auch nicht ebenso leicht verständliche Bezugsgrösse. Da nun die Hochzeit der fraglosen Rezeption zu Ende zu gehen scheint, eröffnet sich die Möglichkeit, das Werk des Philosophen neu wahrzunehmen.

von Hans Ulrich Gumbrecht 

Ein stärker vom Wert harter Fakten überzeugter Leser, als es Walter Benjamin selbst war, kann heute feststellen, dass die Rezeptionsgeschichte des Werks dieses Philosophen und Zeitkritikers den Zenit überschritten hat. Unlängst veröffentlichte der «Chronicle of Higher Education» eine ausführliche Besprechung der jüngsten Benjamin-Biografie und ergänzte diesen Rückblick mit einer Grafik zu den «posthumous citations». Ihr ist zu entnehmen, dass in den vergangenen sechs Jahren die Häufigkeit der Benjamin-Bezüge in akademischen Publikationen ihren Höchstwert von 2007 nie mehr erreicht hat und nun offenbar etwa in jenem Rhythmus zurückgeht, mit dem sie während der beiden vorausgehenden Jahrzehnte gestiegen war. Diesen Zahlen entspricht ein weniger markanter, aber doch deutlicher Eindruck aus dem Alltag der geisteswissenschaftlichen Arbeit in Europa und Nordamerika: Walter Benjamin ist nicht mehr in aller Munde und gilt nicht mehr als bedingungslos relevant. Seine Schriften scheinen sich auf dem Weg zum Status des bewunderten und ein wenig entrückten «Klassikers» zu befinden.

Ornamentaler Status

Erst aus dieser Halbdistanz aber wird die Frage möglich, was bleiben wird. In der entgegengesetzten Einstellung lag ja das – meist höflich verschwiegene – Problem der Benjamin-Rezeption während der Zeit ihres unaufhaltsamen Aufstiegs. Die Ideen des 1892 in Berlin geborenen Philosophen galten vielen – unter Ausklammerung jedes kritischen Urteils – als prophetische Antwort auf schlechthin alle Fragen. Das stufte den intellektuellen Gebrauchswert von Walter Benjamins Texten auf das Niveau des bloss Ornamentalen herab. Es steht also heute eine Zwischenbilanz an – nach einem knappen halben Jahrhundert meist hastiger Aneignungen und als Vorbereitung einer neuen, zugleich nüchternen und produktiveren Auseinandersetzung.

Der vor allem ornamentale Status von Benjamins Werk mag eine Konsequenz von dessen eigentümlicher Rezeptionsgeschichte sein, in der einander ganz verschiedene Intensitäten der Resonanz ablösten. 1892 geboren, hatte Walter Benjamin in den zwanziger Jahren als einer der vielversprechenden jungen Autoren seiner Generation gegolten, bevor sich dann schon vor der Emigration aus Hitlerdeutschland diese Erwartung beinahe plötzlich gegen den Nullpunkt zu bewegen begann. Auch nach dem Freitod im Jahr 1940 blieben Benjamins Werke im Schatten, trotz der von Theodor W. Adorno veranstalteten Ausgabe einiger Schriften – bis dann der von Hannah Ahrendt 1968 herausgegebene englischsprachige Sammelband «Illuminations», auch in seiner deutschen Version, zu einem Wendepunkt wurde. Im Nachhall der «Studentenrevolte» und parallel zum Aufstieg der Dekonstruktion seit 1967 schliesslich explodierte die Benjamin-Faszination geradezu, die – neben zahllosen Übersetzungen – bald die Projekte einer deutschen und einer englischen Gesamtausgabe auf den Weg brachte.

Ansätze zu einer differenzierten Auseinandersetzung gingen immer wieder in dieser Bugwelle von Benjamin-Begeisterung unter – und daraus ergab sich ein ebenso konturenschwaches wie euphorisches Bild des Werkes, aus dem zunächst vor allem der schon früh wieder publizierte Essay über «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» herausragte. Zu der eigenartigen Signatur aus intellektueller Hochstimmung und einem flachen gedanklichen Profil haben gewiss noch andere Faktoren beigetragen. Vor allem die begriffliche und argumentative Porosität im Stil von Benjamins Schriften, die für vielfältige Auslegungen offenblieben – mit dem einzigen gemeinsamen Fluchtpunkt einer generellen Vermutung besonderer philosophischer Tiefe. Damit verband sich die von einzelnen seiner Texte gebotene Möglichkeit, Benjamin als Vorläufer zu entdecken und zu feiern – sei es als Vorläufer der Mediengeschichte, der Kulturwissenschaften oder eines «neuen Materialismus».

Und gewiss hat auch die Geschichte seines Lebens, in dem die Schuld der deutschen und das Trauma der jüdischen Geschichte einander kreuzten, besondere Sympathie und besonderes Interesse geweckt. Anknüpfungspunkte für eine Zwischenbilanz, die sich von der pauschalen Euphorie der bisherigen Rezeption fernhält, lassen sich auch in der Lebensgeschichte des obsessiv reisenden und ebenso obsessiv zu bestimmten Themen zurückkehrenden Walter Benjamin ausmachen. Die Zeit der bis vor wenigen Jahren unveröffentlichten Schriften des genialischen Schülers und Studenten aus dem zweiten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts ist abzusetzen von Benjamins Suche nach einem Beruf und der 1925 mit dem abgewiesenen Habilitationsversuch gescheiterten Vorbereitung auf eine akademische Laufbahn. Gerade sein Scheitern aber muss Benjamin während der folgenden Jahre in der Wahrnehmung von Verlegern und Lesern eine gewisse Aura verliehen haben, welche mit dem Ausbleiben eines zunächst erwarteten Durchbruchs dann zu verblassen begann.

Diskursive Formen

Wenig Beachtung hat bisher die Entwicklung der diskursiven Formen in Benjamins Schriften gefunden. Während der ersten Werkphase kultivierte der Literaturkritiker Benjamin beinahe ausschliesslich die aus der deutschen Romantik, vor allem von Friedrich Schlegel, kommende und in Georg Lukács' Buch «Die Seele und die Formen» von 1911 programmatisch erneuerte Tradition des Essays, in dem begriffliche Klarheit und argumentative Stringenz dem Anspruch auf eine ekstatische Nähe der Sprache zum Leben der Gefühle und zum ästhetischen Erleben geopfert wurden. Gerade an der von Benjamin immer wieder gedankenreich umspielten Unvereinbarkeit von essayistischer Form und wissenschaftlicher Strenge nahmen übrigens seine Frankfurter Habilitationsgutachter Anstoss.

Obwohl Benjamin die Gattung des Essays nie ganz hinter sich liess, fand er in dem 1928 erschienenen Buch «Einbahnstrasse» eine seinen Talenten offenbar prägnanter entsprechende Form, die Form der – ohne Argumentation – unvermittelt gereihten Fragmente mit dichten Beschreibungen, aphoristisch-philosophischen Kommentaren und mit den «Denkbildern» als Geste der Kondensation. Obwohl wir wissen, dass das sogenannte Passagen-Werk aus den dreissiger Jahren nur deshalb wie eine Makro-Version dieser offenen Form aussieht, weil Benjamin das Projekt nicht zum Abschluss bringen konnte, weisen dessen anhaltende Faszination und Suggestivität auf ein auch heute brauchbares Potenzial textueller Gestaltung.

Erste Konturen für eine zukünftige Gegenwart von Benjamins Werk können erst in dem Mass deutlich werden, wie Motive benannt werden, die im Lauf der Jahre in den Vordergrund der Denkarbeit des Autors traten oder an denen er sein Interesse verlor. Benjamins neukantianische, vor allem sprachphilosophische Fragen, wie sie für seine Jugend typisch waren, ebbten bald ab, zusammen mit der Faszination für theologische Denkfiguren, die der jüdischen Tradition entstammen. Auch ein allzu affektiv geladenes Interesse an der Psyche von Kindern und deren vermeintlich unbegrenzter Kreativität blieb Episode (glücklicherweise, ist man heute versucht zu sagen) – ebenso wie eine immer wieder von dem Begriff «Ent-Staltung» (der Umkehrung von «Ge-Staltung») gefasste Intuition im Blick auf den Kollaps von Formen als Quelle intellektueller Kraft.

Auf der anderen Seite haben sich nur wenige neue Impulse in Benjamins Denken gegen den schon in den ersten Texten sich abzeichnenden und stets wieder neu durchgearbeiteten Horizont von Bezugspunkten durchgesetzt. Um 1930 erst entschloss Benjamin sich, seinem Denken mit dem Marxismus ein festes politisches Fundament zu geben – ein Versuch, der freilich über einzelne Elemente hinaus nie zu einer orthodoxen oder wenigstens idiosynkratischen Stimmigkeit führte (wie etwa sein erratischer Gebrauch des Begriffs «dialektisch» zeigt). Wenig später tauchten in Benjamins Paris-Studien die historischen Rollen des Flaneurs und des Sammlers auf, um schnell zu entscheidenden hermeneutischen Konzepten für seine Arbeit zu werden.

In ihnen vereinen sich verstreute Ansätze zur – nicht eigentlich im marxistischen Sinn – «materialisti- schen» Aneignung der Vergangenheit. Die Wahrnehmung der Oberfläche von Texten, Fotografien oder Gebrauchsgegenständen aus zeitlich entfernten kulturellen Situationen soll jener Anstoss sein, der die historische Imagination des gegenwärtigen Betrachters in Bewegung setzt. Sie könne in «profane Erleuchtung» umschlagen – in das säkulare Äquivalent eines religiösen Erlebnisses. Auf der anderen Seite hat Benjamin die Imagination eigentlich nie als Instrument eines «Verstehens» genutzt, dessen Ergebnisse sich in die übergreifende Linie eines historischen Verlaufsschemas einordnen liessen.

Berührungspunkte

Dieses besondere Verhältnis zwischen gegenwärtigem Interesse und den Versatzstücken der Vergangenheit konvergiert mit einer Konzeption von Geschichte, in der sehr früh schon Begriffe der Diskontinuität wie «Kraft», «Energie» oder «Gewalt» über die Suche nach Regelmässigkeiten oder gar «Gesetzen» eines historischen Verlaufs dominierten. So gesehen ist der für die Rezeptionsgeschichte von Benjamins Werk zentrale «Kunstwerk»-Aufsatz mit seiner geschichtsphilosophischen Erzählstruktur und der (inzwischen längst widerlegten) These einer Befreiung der Kunst von ihrer «Aura» durchaus atypisch – und ihm eine herausragende Bedeutung zuzuschreiben, ist tendenziell irreführend.

Mehr verspricht für eine systematische Auseinandersetzung mit Benjamins Geschichtsreflexion die letzte Version seines Spiels mit dem Denkbild des «Angelus Novus», der auf die Vergangenheit zurückblickt, während er von einem Wind (von einer anonymen, vielleicht affektiven Energie) in die für ihn nicht sichtbare Zukunft getrieben wird. An einem solchen Bild wollte der in Vergessenheit und prekärer Armut lebende deutsche Emigrant Walter Benjamin noch während seines letzten Lebensjahrs festhalten, als durch den Pakt der Sowjetunion mit dem nationalsozialistischen Deutschland die institutionelle Verkörperung der politisch-geschichtsphilosophischen Versprechen, auf die er gesetzt hatte, desavouiert war von ihrer plötzlichen Nähe zur Ursache für die physische Bedrohung seines nackten Lebens.

Für eine erneuerte, im Blick auf die Fragen unserer Gegenwart kritisch urteilende und differenzierende Benjamin-Rezeption allerdings sollten die längst ermatteten Fragen nach einer Revision und letztlich «Rettung» marxistischer Theorie nun wirklich nicht mehr im Vordergrund stehen. Hingegen gibt es in den Elementen einer sinnlich-materialistischen Konzeption von Geschichte, die in Benjamins Werk nie zu einem Denksystem ausgearbeitet wurden, Berührungspunkte zu intellektuellen Herausforderungen unserer Zeit: eine Affinität zu der Herausforderung etwa, in unser Bild vom Menschen die Dimension des physischen Kontakts mit der uns umgebenden Welt zurückzuholen; ebenso eine Affinität zu jener anderen, sich seit Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts besonders unnachgiebig meldenden Herausforderung, das Verhältnis zwischen einer überkomplex scheinenden Gegenwart und einer Zukunft zu überdenken, die nicht mehr wie ein offener Horizont von Möglichkeiten aussieht. Nicht minder wäre das Verhältnis dieser Gegenwart zu einer Vergangenheit neu zu begreifen, die wir nicht mehr hinter uns lassen können – wohl auch, weil elektronische Technologien die Möglichkeit des irreversiblen Vergessens ausgelöscht haben.

Es ist jedenfalls an der Zeit, nach dem Zenit seiner Rezeption Walter Benjamins Werk mit einer neuen Gelassenheit und auch mit neuer Genauigkeit ernst zu nehmen.

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht lehrt vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University. Bei Suhrkamp sind 2012 seine Studie «Nach 1945 – Latenz als Ursprung der Gegenwart» und die Aufsatzsammlung «Präsenz» erschienen.


Nota I.- Das ist ein Epitaph. Anzufügen wäre nur noch, aber dringend, dass der verzweifelte Versuch, in Stalins Sozialismus in einem Land doch noch festen Boden unter den Füßen zu finden, mit Marxismus so viel zu tun hatte wie die Konterrevolution mit der Revolution. Feige war der Zyniker Brecht jedenfalls nicht, das kann man nicht sagen; er war bloß schlau, und das kann man von Benjamin nicht sagen.

Nota II. Das Interesse an diesem Eintrag ist unerwartet groß, drum schiebe ich noch ein eigenes Wort nach: Das Beste an dem berühmten Kunstwerk-Essay (der wiederum, neben seinem Erstling über das deutsche Trauerspiel, sein Bestes war) ist der Begriff der "Aura"; aber er hat ihn sogleich wider jeden Sinn ge- braucht. Die Reproduktion rückt "die Ferne" so nahe vor die Nase, dass die Aura verloren ginge? Wer immer die Kunst dieser Welt durch das Internet entdeckt, weiß es besser, und ich selber habe ein ganzes Buch geschrieben über den Größten Star Aller Zeiten, den es... ohne die technische Reproduktion nie gegeben hätte. 

Nicht Authentizität und Einmaligkeit sind das Auratische am Kunstwerk, sondern, wer hätte das gedacht, seine ästhetische Qualität, und die hält mancher Reproduktion stand, gelegentlich selbst einer mangel- haften. Die lässt sich allerdings literarisch nicht mystifizieren, weil sie ein Mysterium schon ist.

Töter als Walter Benjamin kann einer alleine gar nicht sein.
JE

Montag, 22. Dezember 2014

Nicht die Wissenschaftsjournalisten sind schuld...

...sondern die Forschungsinstitute selbst.

aus nzz.ch, 18.12.2014, 05:32 Uhr

Wie kommt der "Dreh" in Wissenschaftsgeschichten?
Übertreibungen in universitären Pressemitteilungen Medienberichte über Forschungsergebnisse enthalten oft unzulässige Verzerrungen. Dass diese meist schon in den universitären Pressemitteilungen existieren, zeigt eine Analyse aus Grossbritannien.

Verzerrungen und Zuspitzungen in Nachrichten über Forschungsergebnisse sind keine Seltenheit. Nur: An welcher Stelle im Publikationsprozess wird der «Spin» in die Geschichte eingebaut? Dieser Frage sind britische Forscher im Zusammenhang mit Meldungen zu Gesundheitsthemen nachgegangen – und haben Erstaunliches festgestellt.¹ Nicht die Journalisten sind die Haupttäter, wenn es um Übertreibungen geht; das Problem liegt eine Stufe «tiefer», in den Kommunikationsabteilungen der Hochschulen. Diese Stellen sind für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Dazu gehört auch das Verfassen von Pressemitteilungen, mit denen die Universität die Medien über eigene Forschungsergebnisse informiert. Meist werden diese Communiqués zusammen mit den involvierten Forschern verfasst.

Medienmitteilungen der 20 führenden Universitäten

Für ihre Studie haben Petroc Summer und Christopher Chambers von der Cardiff University 462 Pressecommuniqués der 20 führenden Universitäten in Grossbritannien untersucht. Alle Mitteilungen enthielten Forschungsresultate aus dem biomedizinischen und psychologischen Bereich, die in wissenschaftlichen Fachjournalen veröffentlicht worden waren. Ebenfalls studiert wurden 668 Online- und Print-Nachrichten, die sich auf die Pressemitteilungen bezogen und von der nationalen Presse veröffentlicht worden waren.



Wie ihre Analyse zeigt, waren die meisten Übertreibungen in journalistischen Texten bereits in der Pressemitteilung nachweisbar. Die Forscher haben drei Kategorien von Verzerrungen untersucht: Übertreibungen bei Gesundheitsratschlägen; Übertreibungen bei sogenannten Korrelationsstudien, aus denen in unzulässiger Weise eine Ursache-Wirkungs-Beziehung herausgelesen wird; Übertreibungen bei Tierstudien, aus denen ohne Relativierung auf den Menschen geschlossen wird.


Neue Übertreibungen in Presseerzeugnissen sind selten

Die Forscher konnten nachweisen, dass 40 Prozent der Pressemitteilungen gegenüber der Originalpublikation überzogene Gesundheitsratschläge enthielten. In 33 Prozent der Fälle war die Grenze zwischen Korrelation und Kausalität verwischt, und in 36 Prozent waren die Ergebnisse bei Tieren als relevant für den Menschen ausgegeben worden.


Was weniger erstaunen dürfte: Überzogene Pressemitteilungen führten oft zu Medienberichten, in denen sich dieselben Übertreibungen wiederfanden (Anteil mit Übertreibungen je nach Kategorie: 58%, 81% bzw. 86%). Umgekehrt folgten auf inhaltlich korrekte Pressemeldungen eher seriöse journalistische Texte ohne «Sensationsdreh» (Anteil mit Übertreibungen je nach Kategorie: 17%, 18% bzw. 10%). Dies zeige, so die britischen Studienautoren, dass sich Interventionen bei den universitären Pressemitteilungen anbieten, um die Informationsqualität bei wissenschaftlichen Themen zu verbessern.


In der Schweiz wird das Thema in den Akademien diskutiert

Dass die Hochschulkommunikation auch hierzulande anfällig für Übertreibungen ist, bestätigt Peter Meier-Abt, Präsident der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Seiner Meinung nach hat sich das Problem in den letzten Jahren akzentuiert. Als Hauptgrund gibt der Pharmakologe den grossen Wettbewerbsdruck an, der nicht nur zwischen den Institutionen, sondern auch zwischen den Forschern herrsche. Das könne dazu verführen, Ergebnisse verfrüht zu publizieren und übersteigert zu kommunizieren.


Laut Meier-Abt hat die Schweizerische Akademie der Wissenschaften das Problem erkannt und eine Diskussion darüber angestossen, wie eine sachgerechte und faire Kommunikation von Forschungsresultaten aussehen müsste. Darüber hinaus werde in der SAMW ein breiterer Diskurs zur Wissenschaftskultur geführt, zu der auch die Kommunikation zähle. Dafür sei eine Arbeitsgruppe gegründet worden. Meier-Abt hofft, dass Mitte 2015 Empfehlungen oder ein Positionspapier vorliegen werden.

¹ BMJ, Online-Publikation vom 10. Dezember 2014.

Nota. - Das hätten Sie nicht erwartet, nicht wahr? Man hätte gedacht, die Institute müssen ihre Meldungen notgedrungen straffen und die Journalisten, die doch nicht alles so genau verstehen, machen sich ihren Reim drauf. Nun erfahren wir: Es sind die Institute selbst!

Bloß aus Ruhmsucht? Oder hat es mit Erfordernis des Einwerbens von Drittmitteln zu tun?
JE


Sonntag, 21. Dezember 2014

Ist ein Sinn in der Natur?

Materialisierte Energie aus dem Urknall: ein Wasserstoffatom, kunstvoll fotografisch in Szene gesetzt von Fritz Goro, 1949.aus nzz.ch, 20. 12. 2014                                          Wasserstoffatom; Bild: Fritz Goro 1949          
Suche nach dem Sinn unseres Lebens
Urknall, Sternenasche und ein Fragezeichen
Hat das menschliche Leben, hat das Leben überhaupt einen Sinn? Wie liesse er sich finden? Und können die Naturwissenschaften uns bei der Suche den Weg weisen?

von Gottfried Schatz

Vor zwei Jahrtausenden versuchte man noch, die Existenz Gottes und damit auch den Sinn menschlichen Lebens wissenschaftlich zu beweisen. Vor viereinhalb Jahrhunderten galt die Erde als Mittelpunkt des Universums. Und noch vor zwei Jahrhunderten glaubten viele, die Natur und mit ihr die Menschheit strebten dem Ziel höchster Vollkommenheit zu. Dies erschien als ein Beweis für die ordnende Hand Gottes, der uns Menschen als Krone der Schöpfung erwählt hat.

Energiepunkt, Materieklumpen

Heute ist von all dem nicht viel übrig geblieben. Wir haben eingesehen, dass es einen wissenschaftlichen Gottesbeweis nie geben wird, obwohl einige der klügsten Köpfe der Geschichte ihn gesucht haben. Die Astronomen der Renaissance zeigten dann, dass unsere Erde nur ein unbedeutender Himmelskörper unter Abermilliarden anderen ist. Im Jahre 1858 verkündete dann Charles Darwin, dass die Entwicklung des Lebens ein blinder Prozess ist, in dem neuartige Lebensformen durch zufällige Variation bestehender Formen und Selektion der Varianten durch die Umwelt entstehen. Damit war auch die Entwicklung des Lebens nicht mehr ein Beweis für ein göttliches Walten, das der biologischen Evolution Ziel und Sinn gibt.

Vor etwa achtzig Jahren erkannten dann Astronomen, dass unser Universum vor Milliarden von Jahren durch die Explosion eines unendlich kleinen Energiepunkts im sogenannten Urknall entstand und sich immer noch ausdehnt. Diese Entdeckung besiegelte die Erkenntnis, dass unerbittliche physikalische und chemische Gesetze das Schicksal der Welt bestimmen. Dieses neue Weltbild degradierte den Menschen zu einem winzigen und unbeständigen Materieklumpen in einem chemisch primitiven Universum. Es schien, als hätten die Naturwissenschaften uns unsere Würde und unsere Träume geraubt und dafür nur Tatsachen gegeben.

Die Naturwissenschaften schenkten uns jedoch neue Träume von fast atemberaubender Dramatik und Schönheit. Und nichts hat die Einmaligkeit und Würde jedes Menschen so eindrücklich offenbart wie die moderne Biologie. Das naturwissenschaftliche Weltbild des 21. Jahrhunderts zeigt uns ein Universum voller Rätsel, in dem lebendige Materie eine fast unfassbar kostbare Ausnahme ist.

Der Urknall war eine gewaltige Explosion von Strahlungsenergie. Ein Teil dieser Strahlung war das, was unser Auge als Licht wahrnimmt. Als das Universum sich ausdehnte, verdichtete sich ein Teil der Strahlungsenergie zu Materie, die schliesslich Wasserstoffatome bildete – die einfachsten aller Atome. Als sich immer mehr Strahlung in Materie verwandelte, wurde es im Universum finster. Doch dann ballten sich riesige Wolken von Wasserstoffgas unter der eigenen Schwerkraft zusammen und erhitzten sich dabei so stark, dass Wasserstoffatome miteinander verschmolzen und dabei ungeheure Energiemengen freisetzten.

Die nuklearen Feuer der Sterne hatten gezündet und schenkten dem Universum wieder Licht. Diese ersten Sonnen leuchteten für etwa zehn Milliarden Jahre, bis ihr nuklearer Brennstoff sich erschöpfte. Einige schleuderten bei ihrem Tod ihre Asche weit ins Weltall, andere explodierten und schmiedeten dabei schwere Atome, wie Kupfer, Gold und Uran, die es vorher nicht gegeben hatte. Die Sternenasche verdichtete sich wiederum zu Wolken und erhitzte sich dabei, so dass schliesslich auch in diesen Wolken nukleare Feuer zu brennen begannen. Unsere Sonne ist ein solcher Stern der zweiten Generation. Als sie sich vor etwa viereinhalb Milliarden Jahren aus einer Gaswolke zusammenzog, verlor sie die äusseren Schichten und gebar so die Planeten – wie unsere Erde.

Kaum hatte sich diese Erde so weit abgekühlt, dass sie eine feste Kruste besass, stiess sie mit einem gewaltigen Meteor oder verirrten Planeten zusammen, der sie wieder in einen flüssigen Feuerball verwandelte und ihr dabei den Mond entriss. Als dann nach einigen hundert Millionen Jahren wieder Ruhe einkehrte, regte sich auf der Erde Leben. Wie es entstand, werden wir wohl nie mit Sicherheit wissen. Vielleicht formte es sich in heissen Meteorkratern oder Vulkanschächten, die als Retorten für die Bildung der komplexen Moleküle des Lebens dienten. Diese Moleküle lagerten sich zu immer komplexeren Aggregaten zusammen, bis schliesslich ein Aggregat sich fortpflanzte, seine Zusammensetzung und Funktionsweise in Genen niederschrieb und sich zu immer höheren Lebensformen entwickelte.

Eine solche spontane Entstehung des Lebens war unendlich unwahrscheinlich, doch da die Natur sie über Hunderte von Millionen Jahren unendlich oft versuchte, fand sie dennoch statt. Es brauchte ja nur ein einziges erfolgreiches Experiment, um den Funken des Lebens zu zünden. Vielleicht aber entstand das Leben auf anderen Himmelskörpern und kam dann auf Meteoren oder Kometen zu uns. Sicher ist nur, dass alle heutigen Lebewesen von einer einzigen Zelle abstammen. An diesem wundersamen Baum des Lebens sind wir Menschen nur ein später Zweig.

Dieser Baum besteht aus der komplexesten Materie, die wir bisher im Universum gefunden haben – und in dieser Materie-Aristokratie sind wir Menschen eine besondere Elite, die nicht nur die Umwelt wahrnehmen und denken, sondern auch über sich selbst nachdenken kann. Doch wie frei sind wir in unserem Denken und Handeln? Bis vor kurzem schien es, dass jeder Mensch eine biochemische Maschine ist, die streng von ererbten Genen gesteuert wird. Nun aber haben Biologen erkannt, dass unsere Umwelt, unser Lebensstil und sogar unser Umgang mit anderen Menschen diese Gene verändern kann und wir einige dieser erworbenen «epigenetischen» Veränderungen sogar an unsere Nachkommen weitergeben können.

Gene

Versetzt man einer Maus einen leichten Elektroschock, dann zuckt sie zusammen. Sie tut dies auch, wenn sie dabei einen bestimmten Duftstoff riecht. Nach mehrmaliger Wiederholung zuckt die Maus auch dann zusammen, wenn sie nur den Duftstoff riecht, und vererbt diese Furchtreaktion an ihre Nachkommen, die nie den Duftstoff gerochen oder einen Elektroschock erlitten haben. Die Furchtreaktion wird selbst dann vererbt, wenn die Nachkommen von unbehandelten Leihmüttern aufgezogen oder durch In-vitro-Befruchtung gezeugt werden. Bei dieser epigenetischen Vererbung werden Gene verändert, welche die Erkennung von Duftstoffen steuern. Auch bei uns Menschen können Hunger oder andere Belastungen der Eltern die Nachkommen psychisch und körperlich schädigen. Und jeder Sozialarbeiter weiss, dass Drogenabhängigkeit, Depression und Gewaltbereitschaft einen unglücklichen Teufelskreis bilden, der eine Generation nach der anderen gefangen hält.

Wir sind also zum Teil für unsere eigenen Gene und die unserer Nachkommen verantwortlich. Ja mehr noch, wir beeinflussen sogar die Gene unserer Mitmenschen und von deren Nachkommen. Nichts zeigt uns deutlicher, wie eng wir in das Netz des Lebens eingebunden sind und wie sehr wir dazu beitragen können, dieses Netz menschlicher zu gestalten. Unsere Gene bestimmen die Grenzen dessen, was wir sein können, doch erst die Wechselwirkung mit unserem sozialen Umfeld macht uns zu Menschen. Diese biologische Erkenntnis fordert uns auf, dafür zu sorgen, dass es unseren Mitmenschen gutgeht. Diese Aufforderung ist Teil meines eigenen Lebenssinns.

Die Würde der Suche

Unser Gehirn enthält etwa hundert Milliarden Nervenzellen, von denen jede mit Hunderten oder sogar Tausenden anderer Nervenzellen vernetzt ist. Dies erlaubt unendlich viele Kombinationen, die sich zum grossen Teil erst während der Reife zum erwachsenen Menschen ausbilden. Die Zahl dieser Kombinationen übersteigt bei weitem die Zahl aller Menschen, die je gelebt haben, so dass jeder Mensch in seinem Denken und Fühlen einmalig ist. Diese Einmaligkeit jedes Menschen kommt dem am nächsten, was wir gemeinhin Seele nennen.

Vor dem Urknall steht ein Fragezeichen, das sich der Wissenschaft entzieht. Wer in diesem Fragezeichen einen göttlichen Schöpfer sieht, hat das Fragezeichen für sich beantwortet. Mir jedoch genügt das Fragezeichen. Wahrscheinlich könnte ich die Antwort darauf nicht begreifen – und wenn ich es könnte, lehrt mich die Wissenschaft, dass jede Antwort nur eine neue Frage aufwirft. Wissenschaft fordert Bescheidenheit. Auch dies ist Teil meines Lebenssinns.

Die Suche nach dem Sinn des Lebens ist eine Suche nach der eigenen Würde. Im Jahre 1952 beschrieb der russische Physiker George Gamow diese Würde mit folgenden Worten: «Das Universum brauchte weniger als eine Stunde, um Atome zu schaffen. Es brauchte einige hundert Millionen Jahre, um Sterne und Planeten zu schaffen. Aber es brauchte fünf Milliarden Jahre, um uns Menschen zu schaffen.» Heute wissen wir, dass es nicht fünf, sondern vierzehn Milliarden Jahre waren.

Der Biochemiker Dr. Gottfried Schatz ist emeritierter Professorder Universität Basel. Bei NZZ-Libro sind erschienen: «Jenseits der Gene», «Zaubergarten Biologie» und «Feuersucher. Die Jagd nachden Rätseln der Lebensenergie».


Nota. - Gottfried Schatz ist ein kluger Kopf, das weiß ich aus vielen seiner Beiträge, die die NZZ gebracht hat. Aber als ich sah, dass er zum Vierten Advent etwas über den Sinn des Lebens verfasst hat, wurde mir doch mulmig. Ich dachte, da würde ich wohl einen langen Kommentar schreiben müssen. Dann habe ich es gelesen, und jetzt bringe ich es Ihnen ganz unkommentieret.
JE



Freitag, 19. Dezember 2014

Träumen und spielen.

aus Der Standard, Wien, 17. Dezember 2014, 17:10                                                                        Links im Bild versucht eine Neukaledonische Krähe ein würfelförmiges Spielzeug in ein vertikales Rohr zu stecken. Rechts ist ein Goffini-Kakadu mit einem Spielzeug zugange

Wenn Vögel wie Kleinkinder spielen
Studie zeigt, dass manche Papageien- und Krähenarten Spielsachen gezielt kombinieren, was als Vorläufer für Werkzeuggebrauch gelten kann

Wien - Die Art, wie Objekte spielerisch gehandhabt und miteinander kombiniert werden, sagt so einiges über die kognitiven Eigenschaften des Spielers aus. Spielzeugkombinationen – wie zum Beispiel Objekte aufeinander zu türmen – sind Vorstufen technisch komplexer Verhaltensweisen, wie sie auch beim Werkzeuggebrauch vorkommen. Spielen Tiere mit Gegenständen, die für sie nicht als Nahrung in Frage kommen, kann dies als Vorläufer für funktionales Verhalten sowie Werkzeuggebrauch und andere zielgerichtete Manipulation von Gegenständen in ihrer Umgebung gesehen werden.

Ein internationales ForscherInnenteam um Alice Auersperg vom Department für Kognitionsbiologie der Universität Wien hat sich diesen Zusammenhang zunutze gemacht und einigen Papageien- und Krähenarten "Spielsachen" gegeben. Dabei fanden die Wissenschafter heraus, dass die Vögel bereitwillig Objekte in komplexe räumliche Zusammenhänge brachten: Verhaltensweisen, die nur bei wenigen Arten von Primaten vorkommen.

Besonders aufschlussreich für die Wissenschafter sind sogenannte kombinierende Objekthandlungen: Kinder beginnen im Alter von etwa acht Monaten, zwei Gegenstände zusammenzuschlagen. Mit zehn Monaten kombinieren sie Dinge mit anderen Elementen ihrer Umgebung. Sie stecken dann etwa Objekte in Öffnungen oder Ringe auf einen Pol. Nach dem zweiten Lebensjahr fangen sie in der Regel an, Gegenstände als Werkzeuge zu benutzen, um etwa an ein begehrtes Ziel zu kommen.

Vögel am Spielplatz

Um das Spielverhalten von Papageien und Rabenvögeln zu untersuchen, boten Forscher der Uni Wien, der Veterinärmedizinischen Universität Wien, den Universitäten Oxford und St. Mary in London sowie vom Max Planck Institut in Seewiesen (Deutschland) Gruppen aus insgesamt neun Papageien- und drei Krähenarten dasselbe hölzerne Kleinkindspielzeug sowie einen eigenen Spielplatz mit mehreren Rohren und Löchern zum Hineinstopfen sowie Pole zum Ringe-Aufstecken an. "Es haben alle Arten mit dem Spielzeug in irgendeiner Form interagiert", erklärte Studienleiterin Alice Auersperg vom Department für Kognitionsbiologie der Uni Wien.


Komplexe Kombinationen von Objekten waren jedoch bei Neukaledonischen Krähen, bei Goffini-Kakadus sowie schwarzen Palmkakadus und Keas bei weitem am häufigsten zu beobachten. Die Krähen verwenden Werkzeuge auch in der Wildnis, und auch Palmkakadus können als "geborene Werkzeugverwender" gesehen werden, so die Forscherin. Bei Goffini-Kakadus und bei Keas wiederum ist Werkzeuggebrauch zwar nicht angeboren, beide Arten haben aber auch in Experimenten der Wiener Wissenschafter wiederholt ihre Fähigkeiten zum Werkzeuggebrauch und ihre technische Intelligenz unter Beweis gestellt.

Spielen und technische Begabung

Bisher wurden solche spielerischen Objektkombinationen und in der Folge innovativer Werkzeuggebrauch vor allem bei Kapuziner- und großen Menschenaffen beobachtet. Auch bei diesen handelt es sich "um die typischen komplexen Werkzeugverwender unter den Primaten", so Auersperg. "Unsere Studie unterstützt die Ansicht, dass Spezies, die im Spiel bereitwillig Objekte in komplexe räumliche Zusammenhänge bringen, auch eher flexible und innovative Lösungen für neue technische Herausforderungen bringen", so der Kognitionsbiologe Thomas Bugnyar von der Universität Wien. (APA/red, derStandard.at, 17.12.2014)

Abstract
Journal of Animal Behaviour and Cognition: "Unrewarded object combinations in captive parrots"


Nota. - "Spielen Tiere mit Gegenständen, die für sie nicht als Nahrung in Frage kommen, kann dies als Vorläufer für funktionales Verhalten sowie Werkzeuggebrauch und andere zielgerichtete Manipulation von Gegenständen in ihrer Umgebung gesehen werden." Kann dies... Oder auch nicht. Es kann nämlich auch als der Beweis angesehen werden, dass schon die Tiere mehr in ihrem Verhaltensrepertoire haben, als was zur bloßen Erhaltung des Individuen und der Art unerlässlich ist. Als der Beweis, dass 'die Natur' keine Haus- hälterin ist und sich mit Freuden verschwendet, wenn das Nötige einmal erledigt ist. Dass also Spiel und Kunst ganz in ihrem "Plan" lagen und zehn Jahrtausende Arbeit ("Werkzeuggebrauch") nur ein beschwer- licher Umweg dahin waren.

Spiel und Kunst, die sind das Ästhetische. Es geht also nicht mehr darum, zu verstehen, wie es zu solchem Verhalten überhaupt kommen konnte. Wir müssen nur noch die Bedingungen einsehen lernen, unter denen es habituell werden konnte - bei Homo sapiens nämlich, denn nur das ist es, was ihn von den Tieren unter- scheidet; und nicht etwas, das er "kann" und sie nicht. Also die Voraussetzungen aufsuchen, unter denen er etwas behalten konnte und nicht bei Null immer wieder ganz von vorn anfangen muss.
JE