Montag, 1. Dezember 2014

Falscher Objektivismus in der Psychiatrie.

aus Die Presse, Wien, 01.12.2014 | 21:01 |

Psychische Leiden 
Mehr Information über Ursachen schwächt Empathie
Die Versachlichung psychischer Leiden durch Wissenschaft – Genetik, Hirnforschung – kann Patienten auf Maschinen reduzieren.

Irrenhäuser gibt es nicht mehr, zumindest heißen sie nicht mehr so, und „verrückt“ wird keiner mehr genannt, in dessen Gehirn etwas durcheinandergeht. Das hat seinen guten Grund: Niemand wird mehr aus der Menschheit hinausdefiniert – etwa als besessen, von Dämonen oder gar vom Teufel –, psychische Krankheiten gelten als Krankheiten wie körperliche auch, die Medizin dringt in ihre molekularen Feinheiten ein, vor allem mit Genetik und Hirnforschung. Aber diese Versachlichung hat einen paradoxen Preis: Wieder droht ein Hinausdefiniertwerden aus der Menschheit, als schlecht funktionierende Apparate diesmal: Die Leiden werden – in der Wahrnehmung – nicht wegemotionalisiert, sondern wegneutralisiert.

Und zwar just in der Wahrnehmung derer, die den Leidenden professionell helfen wollen und sollen, in der der Psychologen und Psychiater: Methew Lebowitz (Yale) hat 237 in den USA um Therapievorschläge für vier fiktive Patienten gebeten, es ging um Schizophrenie, Sozialphobie, Depression und Zwangsstörung. Die waren zudem in zwei Gruppen unterteilt, in der einen wurde das Leiden strikt biologisch beschrieben – genetisch und neurobiologisch –, in der anderen psychosozial, da ging es um Lebensgeschichten, etwa erlebte elterliche Gewalt. – Dann legte man den Probanden eine Liste mit 18 Wörtern vor, die sie den Patienten zuordnen sollten, die aber mehr über sie sagten: Sechs hatten mit Einfühlungsvermögen zu tun, Empathie („warm“, „sympathisch“ etc.), sechs mit Stress („aufgeregt“, „durcheinander“ etc.), die restlichen dienten der Kontrolle („ärgerlich“, „glücklich“). Nun zeigte die Art der Beschreibung ihre Macht: Bei Patienten/Leiden, die in biologische Termini gefasst waren, war die Empathie der Spezialisten geringer, und die Empfehlung von rein biologischen Gegenmitteln – Medikamenten statt Gesprächstherapien – höher (Ausnahme: Schizophrenie: Die galt durchgehend als biologisch verursacht und therapierbar).

Neue Form der Dehumanisierung

Natürlich war das Design des Experiments übertrieben – kein Seelenarzt beurteilt einen Patienten nur nach biologischen oder lebensgeschichtlichen Faktoren –, deshalb ging es in der zweiten Runde realistischer zu: Die Krankenblätter enthielten beide Aspekte, unterschiedlich gewichtet. Der Effekt zeigte sich neuerlich (Pnas, 1. 12.). „Biologische Erklärungen sind zweischneidige Schwerter“, schließt Lebowitz: „Sie können dehumanisieren, indem sie Menschen auf biologische Maschinen reduzieren.“ (jl)

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