aus nzz.ch, 17.12.2014, 05:30 Uhr
Paul Watzlawick in einer Biografie
Kommunikationskünstler mit Kultstatus
von Oliver Pfohlmann
Wie heilt man einen Daumenlutscher? Ein Psychoanalytiker würde wohl, womöglich jahrelang, Kindheit, Träume und Sexualleben des Betroffenen durchleuchten, um die Ursache für das zwanghafte Verhalten zu finden. Geht es auch einfacher? Aber sicher: Man trägt dem Patienten einfach auf, von heute an auch alle anderen Finger ausgiebig zu lutschen. Denn dann wird aus der lustvollen Gewohnheit plötzlich eine lästige Pflicht – mit der der Betroffene von selbst aufhört.
Was wie ein Scherz klingt, ist unter Therapeuten ein Beispiel für eine «paradoxe Intervention». Dabei wird dem Patienten im Grunde nur eine Hilfestellung gegeben, um seine erlebte Wirklichkeit im Hier und Jetzt in eine weniger leidvolle «umzudeuten», ohne Rückgriff auf seine Vergangenheit. Erstaunliche Popularität erlangte diese Technik durch die Schriften Paul Watzlawicks («Wie wirklich ist die Wirklichkeit?», «Anleitung zum Unglücklichsein»). Entwickelt wurde sie am Mental Research Institute im kalifornischen Palo Alto, und zwar bereits bevor der damals vierzigjährige Österreicher 1961 dort ankam.
Als Watzlawick mit seinen Büchern in den 1980er Jahren weltweit, aber vor allem im deutschsprachigen Raum Kultstatus erlangte, wurde ihm vorgeworfen, er profitiere ja nur von den Einsichten anderer. Dabei hat sich der im Jahr 2007 im Alter von 85 Jahren verstorbene Psychotherapeut nie als der Erfinder der von ihm unter dem Label «radikaler Konstruktivismus» versammelten Ideen und Einsichten geriert, im Gegenteil: In seinen Büchern, die Erkenntnis- und Kommunikationstheorie, Spiel- und Systemtheorie, Kybernetik und Philosophie zu einem höchst anregenden und unterhaltsamen Potpourri verrühren, erinnerte Watzlawick regelmässig an die Leistung seiner Mentoren, unter ihnen der Anthropologe Gregory Bateson oder der Schizophrenie-Forscher Don D. Jackson, aber auch an die von Vorläufern wie seinem Landsmann Viktor Frankl.
«Synthesizer und Integrator»
Mit Recht wird Paul Watzlawick daher in der ersten ihm gewidmeten Biografie nicht als genialer Schöpfer origineller Ideen gewürdigt, sondern als «Synthesizer und Integrator», als «Scout» und begnadeter «Übersetzer» grosser Menschheitsfragen. Seine kreative Leistung habe primär darin bestanden, Muster, die quer zu Disziplinengrenzen verliefen, erkannt, verbunden und popularisiert zu haben, so die Biografin Andrea Köhler-Ludescher.
Dass die in Wien lebende Kommunikationsexpertin und promovierte Juristin ihren Protagonisten beim Vornamen nennt («und Paul ist mittendrin»), wirkt zunächst befremdlich, ist aber dem Umstand geschuldet, dass sie eine Grossnichte Watzlawicks ist. Die Befürchtung, der überwiegend gut lesbaren Darstellung könne es deshalb an Objektivität mangeln, bewahrheitet sich zum Glück nicht (wobei es für Watzlawick-Anhänger ja ohnehin nur subjektive Konstruktionen gibt); mit vielen ausführlichen Zitaten des Therapeuten eignet sich das Buch sogar als Einführung.
Zum Schicksal, das macht Köhler-Ludescher rasch deutlich, wurde für Watzlawick seine immense Sprachbegabung. Freilich war ihm die Polyglottie gleichsam schon in die Wiege gelegt, war er doch aus «k. u. k. Holz» geschnitzt – mit Familienwurzeln in Böhmen und Italien. Bereits die Nazis liessen den jungen Watzlawick als Dolmetscher arbeiten, später die Alliierten und die Uno. Watzlawicks Interesse für Psychologie erwachte in Triest, wo er als Assistent des britischen Leiters von Interpol Kriminalfälle bearbeitete. Ein Zufall führte ihn dann nach Zürich, wo er sich 1950 am C.-G.-Jung-Institut zunächst zum Analytiker ausbilden liess.
Die Basis für seine Abkehr von Freud und für seine Wende zum Konstruktivismus wurde während eines Aufenthaltes in Indien 1954 gelegt, wo er Yoga, Meditation und das Denken Krishnamurtis kennenlernte. Über die Zwischenstation El Salvador kam er schliesslich nach Kalifornien. Dort sorgte Watzlawick nicht nur wegen seiner therapeutischen Einfälle für Aufsehen, sondern, wie ehemalige Kollegen der Biografin bestätigten, weil er wie ein Hollywoodstar aussah und dabei den Habitus eines österreichischen Grandseigneurs pflegte.
Leben im Augenblick
Das Phänomen, das Watzlawick zeitlebens am meisten faszinierte, war das Leben im Augenblick, die Erfahrung einer «mystischen» Einheit von Ich und Welt, etwa bei Todesgefahr, wie er sie in der NS-Zeit erlebt hatte, als Wehrmachtssoldat, aber auch nach einer Denunziation als Häftling der Gestapo. Momente der Todesnähe waren für ihn Beispiele für «mystische Durchbruchserlebnisse», in denen das Individuum blitzartig aus sich heraustritt und sich von aussen sehen kann, «in seiner Relativität und seiner Möglichkeit des Andersseins». «Die Entdeckung des gegenwärtigen Augenblicks» sollte der Roman heissen, den Watzlawick zuletzt schreiben wollte. Dass er ihn nicht vollenden konnte, lag an seiner Demenzerkrankung, die ihn, bittere Ironie des Schicksals, zum Gefangenen des Jetzt machte. Er deutete – typisch Watzlawick – seinen Zustand um in eine weniger leidvolle Wirklichkeit: Freunden und Bekannten berichtete er von seiner «immer engeren Zusammenarbeit mit Professor Alzheimer».
Andrea Köhler-Ludescher: Paul Watzlawick. Die Entdeckung des gegenwärtigen Augenblicks. Mit einem Nachwort von Fritz B. Simon. Verlag Hans Huber, Bern 2014. 338 S., Fr. 39.90.
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