Samstag, 30. November 2013

Intelligenz entstand mehrmals und auf getrennten Wegen.

aus derStandard.at, 29.11.2013                                                 Katharina Wieland Müller  / pixelio.de

Die Intelligenz der Rabenvögel neurophysiologisch betrachtet
Bei schwierigen Entscheidungen spielen sich im Gehirn der Vögel ähnliche Mechanismen ab wie bei Primaten, fanden deutsche Forscher heraus

Tübingen - Rabenvögel fertigen und gebrauchen Werkzeuge, merken sich Futterplätze und planen ihr Sozialverhalten, indem sie die Handlungen anderer Gruppenmitglieder mit einbeziehen. Verhaltensbiologen sind schon lange an den intelligenten Tieren interessiert. Wissenschafter der Universität Tübingen erforschten nun erstmals die hirnphysiologischen Grundlagen dieses intelligenten Verhaltens und stellten dabei fest: Bei schwierigen Entscheidungen sind im Gehirn der Vögel ähnliche Muster zu beobachten wie bei Primaten. Die Ergebnisse wurden nun im Fachblatt "Nature Communications" veröffentlicht.
    Die Forscher trainierten Rabenkrähen, Gedächtnisaufgaben am Computer zu lösen. Die Krähen bekamen ein Musterbild präsentiert, mussten sich dieses merken, und bekamen kurz darauf erneut zwei Bilder gezeigt: Das bereits gesehene und ein anderes. Auf einem Touchscreen mussten die Tiere mit dem Schnabel nun eines der Bilder auswählen: Ob das gleiche ("gleich-Regel") oder ungleiche Testbild ("ungleich-Regel") die richtige Lösung war, wurde den Krähen in jedem Versuchsdurchlauf durch einen Hinweisreiz neu angezeigt. Je nach Regel mussten die Tiere also die Aufgabe blitzschnell wechseln. Das erfordert höchste Konzentration und eine geistige Flexibilität, die bei weitem nicht alle Tierarten aufbringen können und die selbst für Menschen eine Herausforderung ist.
     
    Einblicke in evolutionäre Intelligenzentwicklung

    Die Rabenkrähen lösten diese Aufgabe nach einiger Zeit selbst mit völlig neuen Musterbildern souverän. Dabei beobachteten die Forscher in einem umgrenzten Hirngebiet der Krähen Nervenzellen mit erstaunlichen Eigenschaften. Die eine Gruppe der Nervenzellen reagierte ausschließlich und immer dann, wenn die Krähe die „gleich-Regel" anwenden musste, während eine andere Gruppe von Nervenzellen immer nur bei der „ungleich-Regel" aktiv war. Anhand der Regelzellen war oft vorherzusehen, welche Regel die Krähen befolgen würden, noch bevor sie die Auswahl trafen.

    Das Ergebnis der Studie biete wichtige Einblicke, wie intelligentes Verhalten mehrmals unabhängig voneinander hervorgebracht und hirnorganisch verwirklicht wurde, sagte die Neurobiologin Lena Veit von der Universität Tübingen. "Bei Vögeln sind viele Funktionen anders verwirklicht, uns trennt eine sehr lange evolutionäre Entwicklung von diesen direkten Nachfahren der Dinosaurier", so Veit. "Wir können also im Gehirn der Vögel eine alternative Lösung dafür finden, wie mit verschiedenen anatomischen Voraussetzungen die gleichen Intelligenzleistungen hervorgebracht werden können."

    Trotz der Unterschiede im Gehirn seien sich die Regelzellen bei Krähen und Primaten zum Verwechseln ähnlich ‒ sie deuten also auf ein allgemeines Prinzip hin, das sich im Laufe der Evolution immer wieder bewährt habe: "So wie man durch den Vergleich der grundsätzlich verschieden aufgebauten Flügel von Vögeln und Fledermäusen allgemeine Prinzipien der Aerodynamik ableiten kann, so können wir auch durch die Untersuchung der funktionalen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der entsprechenden Areale des Vogel- und Säugergehirns auf allgemeine Prinzipien der Funktionsweise des Gehirns schließen", erläuterte der Leiter des Projekts, Andreas Nieder. (red/APA)
     

    Freitag, 29. November 2013

    "Rationalisierung".


     
    aus NZZ, 27. 11. 2013

    Der Affe als Gottsucher
    Kaspar von Greyerz' Untersuchungen zu Religion, Magie und Wissenschaft in der frühen Neuzeit

    von Urs Hafner · Auch wenn die Leute sich ereifern in Glaubensfragen, so ist doch das Religiöse seit dem Säkularisierungsschub der siebziger Jahre in unserer Weltgegend nur mehr schwach und blass präsent. In welchem Ausmass es aus unserem Alltag, aber auch etwa aus der Sphäre der Wissenschaften verschwunden ist, verdeutlicht der vergleichende Blick in die frühe Neuzeit, in eine Epoche also, die stark durch die Kirchen, den Glauben an überweltliche Mächte und durch konfessionelle Auseinandersetzungen geprägt war. Kundig lässt sich dieser Blick mit Kaspar von Greyerz werfen.

    Diesseits der Gegensätze

    Anlässlich seiner Emeritierung haben zwei seiner Schüler ein gutes Dutzend Aufsätze versammelt, die in den letzten vierzig Jahren publiziert worden sind. Vor allem zeugen sie von der ansteckenden Neugier des Basler Historikers. Unaufgeregt und unprätentiös kehrt er die überraschenden Seiten der von ihm untersuchten Dinge hervor. Was man über die Gegensätze zwischen den Konfessionen, den Gegensatz von - besonders katholischem - Glauben und den Naturwissenschaften oder jenen von religiöser Orthodoxie und - offiziell untersagter - Magie zu wissen glaubte, unterzieht er, bevorzugt für den englischen, elsässischen und Basler Raum, einer kritischen Revision.

    Kaspar von Greyerz: Von Menschen, die glauben, schreiben und wissen. 
    Ausgewählte Aufsätze. Herausgegeben von Kim Siebenhüner und Roberto Zaugg.
    Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013. 260 S., Fr. 53.-.

    Die Magie etwa, der Glaube also, dass die Materie durch Geister beseelt sei und dass man mit deren Hilfe Menschen und Dinge aus der Ferne manipulieren könne: Sie lässt sich laut Greyerz erst im 18. Jahrhundert, der Zeit der Aufklärung, deutlich von der Religion unterscheiden. Vorher sei sie weit verbreitet gewesen, auch im Protestantismus, der die Magie des Gebets gekannt habe, auch in den Bildungsschichten, unter den Mitgliedern der 1660 gegründeten Royal Society etwa, der ersten naturwissenschaftlichen Gesellschaft Englands, und sogar im Denken Isaac Newtons, des grossen Naturforschers des 17. Jahrhunderts. Dieser habe sich zwar mit Astronomie, Optik und Mathematik beschäftigt, aber viel intensiver mit Prophezeiungen, Theologie, Kirchengeschichte und Alchemie.* Von Letzterer habe er sich neue Einsichten in die Grundfragen der Wissenschaft erhofft.

    Ebenfalls keinen systematischen Gegensatz sieht Kaspar von Greyerz zwischen den im 17. Jahrhundert entstehenden Naturwissenschaften, die damals noch als Naturphilosophie firmierten, und der Religion, auch nicht dem angeblich magisch gefärbten und daher tendenziell irrationalen Katholizismus. Der Autor braucht für seine Argumentation nicht einmal die wissenschaftsinteressierten Jesuiten und ihren prominentesten Vertreter, Athanasius Kircher, gross ins Feld zu führen. In den Reaktionen aller Konfessionen auf den Fall Galilei, also auf dessen Verurteilung durch den Vatikan 1633, macht er keine grundsätzliche Ablehnung der Wissenschaft aus, sondern eine skeptische Haltung gegen eine allzu autonome und selbstbewusste Wissenschaft.

    Die Trennlinie zwischen Religion und Wissenschaft verläuft also nicht so eindeutig, wie sie später eine enggeführte, rationalistische Wissenschaftsgeschichte gezogen hat. Kaspar von Greyerz betreibt Wissenschaftsgeschichte als eine Kulturgeschichte des Wissens, das er nicht von der Welt des Sozialen isoliert.

    Kosmologisch war die frühe Neuzeit eine reichhaltige und vielfältige Epoche. In den Weltbildern und Lehren des Neuplatonismus, der aristotelischen Scholastik oder des Paracelsus, die sich alle nicht präzis von der Sphäre des Religiösen scheiden lassen, seien der menschliche Mikrokosmos und der Makrokosmos der Sterne und Engel eng miteinander verwoben gewesen. Über dieser «great chain of being» (Arthur O. Lovejoy) habe Gott gethront. Auf einer Darstellung dieses Zusammenhangs aus dem frühen 17. Jahrhundert hockt überraschend in der Mitte ein Affe auf der Erdkugel. Der Affe sei hier positiv konnotiert, erläutert der Autor: Er fordere die Menschen auf, die Natur nachzuahmen, sozusagen nachzuäffen, um Fortschritte in den Wissenschaften zu erzielen. Als Nachäffer sei der Affe ein Gottsucher. Bis ins frühe 18. Jahrhundert sei die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Natur primär eine Gottessuche gewesen, die sich nicht nur dem Protestantismus zuordnen lasse.

    Max Webers These

    Man ahnt es: Eine der Absichten Kaspar von Greyerz' ist die Revision einer zu einfachen Vorstellung von der Rationalisierung der Welt, die laut Max Webers sogenannter Protestantismus-These vom Calvinismus angestossen und dann von den Wissenschaften beschleunigt worden sei. In seiner Analyse der Selbstzeugnisse englischer Puritaner, Webers Paradebeispiel, kommt Greyerz zu dem Schluss, dass diese keine reinen Calvinisten gewesen seien. Weber habe das theologische Dogma verabsolutiert. Freilich möchte man an dieser Stelle den Soziologen vor dem Historiker, der für jeden Fall wissen will, wie es wirklich war, in Schutz nehmen: Weber arbeitete mit kontrafaktischen Idealtypen, um den grossen Entwicklungslinien auf die Spur zu kommen. Auch wenn wir dem umfassenden Anspruch seiner Rationalisierungstheorie heute skeptisch gegenüberstehen: Was für ein intellektueller Verlust, gäbe es sie nicht!


    *Nota.

    Newtons Leidenschaft für die Alchemie - das Goldmachen - sollte nicht als irrationale Abschweifung ins Okkulte verstanden werden. Dass eine Scheidelinie zwischen organischer und anorganischer Chemie verläuft, war eine Erkenntnis erst des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts. Bis dahin war es selbstvertänd- lich, chemische Reaktionen im Sinne von organischen Stoffwechsel- und Wachstumsprozessen aufzufassen. Dass also etwa Gold aus kristallinen Vorstufen 'herauswuchs', war nichts, was die Vernunft hätte irritieren müssen.
    JE

    Donnerstag, 28. November 2013

    Nachäffen.

    aus Die Presse, 28. 11. 2013                                                         Nicole Lünz  / pixelio.de


    Wir imitieren die anderen – um jeden Preis
    Das Nachäffen ist eine rätselhafte Verhaltensweise. Wir praktizieren sie auch zu unserem eigenen Schaden.

     

    Was wir den Affen nachsagen, darin sind wir selbst Meister, wir äffen nach: Wenn wir einen gähnen sehen, gähnen wir, und wenn wir einen lachen sehen, lachen wir, vor allem, wenn es der Chef ist. Aber nicht nur, das Imitieren gehört zu unserer Natur, und in Fällen wie dem Gähnen oder Lachen dient es vermutlich dem sozialen Zusammenhalt. Aber auf solche Fälle ist es nicht beschränkt, das zeigte sich etwa, als Richard Cook (University College London) 2011Testpersonen zum Handgestenspiel „Schere, Stein, Papier“ animierte. Dabei ist das Imitieren des Gegners nicht die optimale Strategie, und doch zuckten die Hände häufig so (Proc. Roy. Soc. B, 279, S. 780). Na ja, vielleicht dachten sich die Probanden doch etwas dabei!

    Selbst Geldverlust schreckt nicht ab

    Deshalb hat Marnis Naber (Harvard) nun andere Testpersonen zu einem anderen Spiel eingeladen, da ging es nicht gegeneinander, da ging es um die Wette: Auf einem PC-Schirm tauchten bunte Punkte auf, jede Farbe hatte einen anderen Wert. Die Spieler sollten mit einem Stift möglichst rasch auf möglichst viele bzw. wertvolle zeigen – es ging um echtes Geld –, und sie sollten einander dabei nicht ins Gehege kommen, je zwei saßen vor dem gleichen PC. Das Imitieren stellte sich rasch ein, wieder gegen die Interessen der Spieler: Der jeweils raschere passte seine Geschwindigkeit an die des langsameren an, auch die Entfernungen, über die hin er noch zu wertvollen Punkten deutete.

    Das wiederholte sich, als es nur einen wirklichen Spieler gab und der andere instruiert war, in den ersten zwei Runden rasch und weit zu zeigen, in den nächsten zwei langsam und nicht weit. Wieder folgte der andere. Das tat er partiell sogar noch dann, wenn der Mitspieler ein Computer war (Pnas, 26. 11.). Wie das zugeht, ist rätselhaft, und wo es zugeht, war auch schon klarer: Lange setzte man auf ganz besondere Hirnzellen, auf sie war man per Zufall gekommen, als ein Forscher seinen Versuchstieren, Rhesusaffen, zum Spaß die Zunge herausstreckte. Sie streckten ihm ihre auch heraus. Das führte man auf „Spiegel- neuronen“ zurück, sie hatten eine regelrechte Hausse. Inzwischen haben sich allerdings die Zweifel daran gemehrt, ob es sie überhaupt gibt.

    Mittwoch, 27. November 2013

    Fuzzylogisch..

    aus Der Standard, Wien, 27. 11. 2013                                                     A.Dreher  / pixelio.de

    "Es gibt für jedes Problem eine Logik"
    Die Informatikerin Agata Ciabattoni forscht im Bereich Logiken, die mehr Möglichkeiten als "wahr" oder "falsch" zulassen - sie ist überzeugt, dass sich jedes System damit beschreiben lässt

    ein Interview von Tanja Traxler

    Es gibt Artikel, die eigentlich mit einem Lexikon beginnen sollten. Denn jede Wissenschaft erschafft ihre Sprache, und wenn man sich aus ihr hinausbewegt, ist es kaum noch möglich, über sie zu sprechen.

    Wenn Agata Ciabattoni über ihre Forschung spricht, ist dieses Problem besonders präsent. Die Informatikprofessorin an der TU Wien arbeitet zu sogenannten nichtklassischen Logiken. Sie hantiert dabei zumeist mit abstrakten, mathematischen Symbolen, die für alles Mögliche stehen können - für einen Computeralgorithmus ebenso wie für die medizinische Leidensgeschichte eines Menschen; und dennoch ist die konkrete Anschauung immer nur ein unzureichendes Beispiel der abstrakten Formulierung.

    Wenn Ciabattoni also über ihre Forschung spricht, entstehen immer wieder Pausen, die weniger Nachdenkpausen als Übersetzungspausen sind, die beim Übergang von der Alltagssprache in die Formalsprache und wieder zurück entstehen. Oft begleiten Entschuldigungen ihre Antworten: "Verzeihen Sie, aber meine Forschung ist sehr abstrakt."

    Eines von Ciabattonis Lieblingsforschungsobjekten ist eine besondere Art von nichtklassicher Logik, genannt Fuzzylogik. In dieser Theorie ist es möglich, dass unsichere, vage Faktoren Eingang finden in ein mathematisches Modell. Ein Beispiel, das den Anwendungsbereich von Fuzzylogik klar macht, ist eine Heizung: In der klassischen Logik wird so lange mit voller Kraft geheizt, bis die Wunschtemperatur erreicht ist, sobald es abkühlt, wird wieder mit voller Energie nachgeheizt. Mit Fuzzylogik können dagegen vage Angaben wie "es ist schon wärmer" oder "es ist schon fast warm genug" berücksichtigt und die Heizkraft daran angepasst werden, wodurch der Energiebedarf beachtlich sinkt.

    Mit Angaben wie "ziemlich", "mehr" oder "ein wenig" erscheinen nichtklassische Logiken natürlichen Prozessen und der menschlichen Art zu denken näher als die klassische Logik, die nur die Kategorien "wahr" und "falsch" zulässt. Daher ist Ciabattoni überzeugt, dass es für jedes Problem eine nichtklassische Logik gibt, die es beschreibt, wie sie im Interview erzählt:


    STANDARD: Sie forschen zu sogenannter nichtklassischer Logik - was ist das Besondere daran?
     
    Ciabattoni: In der klassischen Logik sind Objekte entweder wahr oder falsch beziehungsweise weiß oder schwarz. Das ist sehr praktikabel, doch in vielen Fällen sind Abstufungen notwendig - und viele nichtklassische Logiken ermöglichen das. Man hat dann alle Varianten der Grauabstufung.
     
    STANDARD:  Wo werden solche Logiken angewendet?
     
    Ciabattoni: In der Medizin zum Beispiel. Wenn man sich Symptome ansieht, ist es oft nicht so einfach, zu unterscheiden, ob sie vollkommen zutreffen oder nicht. Symptome sind meist unscharf, und es ist notwendig, zwischen ein wenig oder viel Schmerz zu unterscheiden. Doch es gibt noch viele weitere Anwendungsbereiche, die nach nichtklassischer Logik verlangen. In den vergangenen 40 Jahren sind sehr viele nichtklassische Logiken entwickelt worden, denn jede Anwendung verlangt nach einer anderen Logik.
     
    STANDARD:  Wie kann man bei so vielen Logiken wissen, für welchen Fall welche Logik gilt?
     
    Ciabattoni:  Das ist eine der großen Fragen. Denn immer wenn man eine Logik verwenden will, muss man zuerst ihre Eigenschaften kennen. Deswegen arbeite ich mit meiner Gruppe derzeit daran, verschiedene Typen von nichtklassischer Logik zu systematisieren. Im Idealfall werden wir eine Datenbank erstellen, in der alle Arten von Logiken erfasst sind.
     
    STANDARD:  Kann man eigentlich jedes System mit einer Logik beschreiben?
     
    Ciabattoni: Ja, im Prinzip gibt es für jede Problemstellung eine Logik. Doch oft ist es nicht einfach, zu wissen, was man will - und sobald man das weiß -, die richtigen Werkzeuge zu finden.
     
    STANDARD:  Klassische Logik geht bis zu den alten Griechen zurück - seit wann gibt es nichtklassische Logik?
     
    Ciabattoni: Aristoteles hat schon von einer Logik gesprochen, die mehr als nur wahre und falsche Argumente hat. Die Idee der nichtklassischen Logik ist daher beinahe so alt wie die der klassischen Logik. Aber die meisten nichtklassischen Logiken sind sehr modern, sie kommen aus der Computerwissenschaft.
    ...
     

    Agata Ciabattoni ist seit 2012 Professorin für Informatik an der TU Wien. Ihre Forschung zu nichtklassischer Logik wird derzeit im Start-Programm des FWF gefördert. Im Rahmen der Initiative Femtech des Infrastrukturministeriums wurde die gebürtige Italienerin zuletzt zur Expertin des Monats gewählt. Sie lebt seit 2000 in Wien, ist verheiratet und hat einen Sohn.p Ciabattoni organisiert mit Kollegen der Kurt-Gödel-Gesellschaft im Juli 2014 in Wien die größte Logikkonferenz der Geschichte.
    Link
    Vienna Summer of Logic

    Dienstag, 26. November 2013

    "Digital Humanities".


    Forschung 2.0 – Positionen der Digitaleninstitution logo Geisteswissenschaften im Diskurs 

    Jens Rehländer  
    Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
    VolkswagenStiftung  
     
    25.11.2013 10:55 

    Die Herausforderungen der Digitalen Geisteswissenschaften ("Digital Humanities") werden im Fokus einer Herrenhäuser Konferenz vom 5. bis 7. Dezember in Hannover stehen. 

    Lesen Sie auch das Interview mit Prof. Dr. Gerhard Lauer, Geschäftsführender Direktor des Göttingen Center for Digital Humanities, am Ende dieser Presseeinladung.

    Durch den Einsatz von Verfahren und Ressourcen der Digitalisierung eröffnen sich den Geisteswissenschaften neue Chancen: Forscher können beispielsweise von jedem Teil der Welt aus durch die Ruinen von Pompeji wandeln – weil es eine zentrale Datenbank mit Informationen und Bildern sämtlicher Fundstücke und archäologischer Erkenntnisse gibt. Oder sie erforschen die Akustik-Entwicklung und den Eindruck von Räumen aus zerstörten Gebäuden – anhand von originalgetreuen 3D-Rekonstruktionen. Und Historiker können ergründen, welches Bild vom Zweiten Weltkrieg die heutige Jugend hat – indem Computer zahllose Facebook-Einträge auswerten. Die Projekte in den digitalen Geisteswissenschaften sind vielfältig und dienen stets weiterem Erkenntnisgewinn. Welche Ergebnisse lassen sich generieren und welches Wissen kommt abhanden, wenn nicht die richtigen Fragen gestellt werden oder keine Kontextualisierung stattfindet? Das sind einige der Fragen, die in der internationalen Herrenhäuser Konferenz "Digital Humanities" diskutiert werden.


    "(Digital) Humanities Revisited – Challenges and Opportunities in the Digital Age"
    05. bis 07. Dezember 2013
    Auditorium, Tagungszentrum Schloss Herrenhausen, Hannover


    Auszüge aus dem Programm:

    • 5. Dezember, Jeffrey T. Schnapp: Knowledge Design (Keynote)

    Die Werkzeuge der humanistischen Forschung sind genauso zum Gegenstand von Forschung und Experimenten geworden wie die Verbreitungsmethoden. Statistische Methoden nehmen Einfluss auf qualitative geisteswissenschaftliche Forschung von der einen Seite, Grafik- und Informationsdesign von der anderen. Labore entstehen, in denen ein Teamgeist vorherrscht, um die Einzeldisziplinen Forschung, Pädagogik, Publizieren und Praxis miteinander zu verknüpfen. Die einstige Trennlinie zwischen Bibliotheken, Museen, Archiven und dem Klassenraum verschwimmt zusehends; denn das Wissen, das ehemals nur in Druckform vorlag, bewegt sich heute durch diverse Medien frei im Raum. In seinem Vortrag ordnet Schnapp die aktuelle Situation mit Fokus auf einzelne Kernaspekte ein.

    • 5. Dezember, Viktor Mayer-Schönberger: The Big Deal About Big Data

    Es besteht ein regelrechter Hype um das Thema "Big Data". Jenseits des Hypes kann das, was als "Big Data" bezeichnet wird, sich in einer fundamentalen Verschiebung dessen ausprägen, wie wir die Welt um uns erklären. In seinem Vortrag wird Mayer-Schönberger (Mitautor des Bestsellers "Big Data" sowie des preisgekrönten Buches "Delete: The Virtue of Forgetting in the Digital Age") die bestimmenden Eigenschaften von "Big Data" im Bezug auf Sinn und Verständnis von Realität betrachten und darauf beziehen, wie es die Geisteswissenschaften beeinflussen kann.

    • 6. Dezember, Lev Manovich: Looking at One Million Images: How Visualization of Big Cultural Data Helps Us to Question Our Cultural Categories

    Wie lassen sich Informationen aus riesigen kulturellen Datensätzen gewinnen, um unsere kulturellen Prämissen und Neigungen in Frage zu stellen? Wie lassen sich große Bildbestände aus Milliarden nutzergenerierter Inhalte für Forschungszwecke einsetzen? Welche neuen theoretischen Konzepte sind notwendig, um mit der neuen Kultur, die im digitalen Zeitalter geboren wurde, umzugehen? Welche Software Perspektiven für explorative Analysen großer Materialsammlungen bietet und wie die Visualisierung großer kultureller Datensätze zu der Frage nach neuen Kategorien für kulturelle Kategorisierungen, wird Manovich in seinem Vortrag erläutern.

    • 7. Dezember, Gregory Crane: The Humanities in the 21st Century

    Wenn von "Digital Humanities" gesprochen wird, kann dies in die Irre führen; denn sie können in gesonderter Nische betrachtet werden, getrennt von den übrigen Geisteswissenschaften oder gar ihnen gegenüber nicht gleichwertig. Jedoch ist die Welt heute digitalisiert und alle Studenten der Literatur-, Kunst-, Musik- und Kulturwissenschaften müssen von Grund auf überdenken, wie sich das intellektuelle Leben der Gesellschaft fördern lässt. Eine neue Kultur des Lernens ist erforderlich, die gleichzeitig offener und drastischer ist als die, die durch Druckwerke klassisch auferlegt ist.

    Das vollständige Programm zum Download finden Sie unter http://www.volkswagenstiftung.de/fileadmin/downloads/programme/Digital_Humanitie....


    Interview mit Prof. Dr. Gerhard Lauer, Literaturwissenschaftler, Geschäftsführender Direktor des "Göttingen Center for Digital Humanities" (GCDH) und Mitglied des Programm-Komitees der Konferenz:

    Frage: Welche Hinweise, Ergebnisse oder Entwicklungen versprechen Sie sich von der Herrenhäuser Konferenz?

    Lauer: Digital Humanities oder genauer die computergestützten Geisteswissenschaften scheinen auf den ersten Blick eine kleine Community zu sein, eben die Nerds. Die Herrenhäuser Konferenz macht deutlich, dass es anders ist. Es gibt eine große Neugierde für neue Wege in den Geisteswissenschaften. Mehr als 250 Teilnehmer sprechen für sich, und mehr noch die vielen Bewerbungen für die Kurzvorträge durch die jüngeren Kolleginnen und Kollegen. Wir hätten auch dreimal so vielen Vorträgen Platz geben können, soviel Interesse besteht daran, neue Forscherergebnisse vorzustellen. Digital Humanities zieht an. ¬Und natürlich ist es wichtig, dass die noch vielfach verstreute geisteswissenschaftliche Community so verschiedener Fächer zusammenkommt. Die Herrenhäuser Konferenz lässt viel Raum für Gespräche. Es ist nicht die klassische Konferenz mit einem engen Reigen von Vorträgen, sondern ein Ort der Diskussion. Viele Fächer, viele neue Ideen und interessante Köpfe, die neugierig sind auf eine Erweiterung der bisherigen Geisteswissenschaften, das macht die Herrenhäuser Konferenz aus.

    Frage: Sie sind Literaturwissenschaftler heute. Welche Fragen wird sich der Literaturwissenschaftler der Zukunft stellen?

    Lauer: Noch vor wenigen Jahrzehnten war es aufregend, eine Bibliografie mit einem Telefonkoppler automatisiert durchsuchen zu können. Heute ist es Alltag, Bibliothekskataloge überall auf der Welt mittels Computer zu durchleuchten. Und auf digitale Editionen wird wie selbstverständlich zurückgegriffen, als hätte es diese immer schon gegeben. In den nächsten Jahren wird das alles nicht nur für Texte möglich sein, sondern auch für Bilder, Filme und Objekte. Das alles ändert die Relationen, in denen wir kulturelle Hervorbringungen wahrnehmen und wissenschaftlich bearbeiten. Wenig beachtete Werke, Spezialsammlungen oder Verbindungen zwischen Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte treten plötzlich hervor.

    Frage: Spötter behaupten, dass die Literaturwissenschaftler in Zeiten der "Digital Humanities" zu Wörterzählern verkommen...

    Lauer: Zum einen sind die Digital Humanities aus der ganz klassischen Auseinandersetzung mit einzelnen, zumeist hochkanonischen Werken hervorgegangen. Zum anderen aber urteilen solche Spötter nicht nur in Unkenntnis der jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit Werken, sondern ebenso in Unkenntnis, was Datenmodellierung, formale Modelle und Statistik zu leisten vermögen – eine typische Überheblichkeit mancher Geisteswissenschaftler gegenüber den in den Naturwissenschaften gängigen Methoden. Wörterzählen gehört zu den sinnvollen Methoden der Textwissenschaften. Man kann mit intelligent konzipierten Wortfrequenzlisten die stilistische Besonderheit eines Heinrich von Kleist ermitteln oder die Unterschiedlichkeit von weiblichen und männlichen Autoren zu einer historischen Zeit bestimmen.

    Frage: In Büchern hat die Menschheit ihr Wissen gespeichert und vor allem geordnet. Wie wird das in Zukunft sein, wenn unser Wissen in Datenbanken ruht?

    Lauer: Es gibt Bücher, und es gibt Datenbanken. Wie so oft bei neuen Medien treten diese neben die alten. Daher ändert sich auch die Zahl der intensiven Leser seit Jahrzehnten nur unwesentlich. Daraus entstehen nicht nur neue Strukturen, in denen Wissen prozessiert wird. Vielmehr werden Bücher nur ein Speicherformat neben derzeit bereits vielen anderen, nicht nur digitalen Speicherformaten sein.


    Weitere Informationen:
    http://www.volkswagenstiftung.de/digitalhumanities Weitere Informationen zur Veranstaltung.
    http://www.volkswagenstiftung.de/nc/servob/presse/pressedet/ttback/22/article/fo... Die Pressemitteilung im Internet.
    http://www.volkswagenstiftung.de/fileadmin/downloads/programme/Digital_Humanitie... Das vollständige Programm zum Download.

    Montag, 25. November 2013

    Domestiziert durch Alkohol.


    Uwe Schlick, pixelio.de

    Unglaublich, dass ich diesen Artikel seinerzeit übersehen konnte! Und das Buch, von dem er berichtet, ist sogar schon fünf Jahre alt. Zunächst einmal ist die aufgestellte These über die wahre Ursache des als "neolithische Revolution" verklärten Übergangs unserer jagenden Vorfahren zu Arbeit und Sesshaftigkeit sehr lustig, namentlich für Leute, die im lutherischen Flachdeutschland großgeworden sind.

    Aber außerdem muss sie völlig ernst genommen werden. Tatsächlich liegen die Motive, die unsere Vorfahren bewogen haben könnten, das abwechslungsreiche Wanderleben gegen eintöniges Hockem am Platz einzutauschen, ganz im Dunkeln. Viel größere Sicherheit erreichten sie dadurch nicht, denn sie waren den Überfällen der Nomaden ausgeliefert. Die ersten Mauern hat sich Jericho wohl erst nach zweitausend Jahren gegeben. Und ernährungshygienisch war es eine Verarmung, der Getreidekonsum führte zu Mangelernährung. Und solange das Getreide nur geerntet, nicht aber gesät wurde, können die Erträge unmöglich gereicht haben, um die gewohnte Diät zu ersetzen.

    Andererseits hatten die Jäger auch keine Möglichkeit, gelegentliche Nahrungsüberschüsse anders zu verwerten als im Fest. Und so gewinnt die neue Theorie schon Plausibilität. Wenn man dazu noch Johan Huizingas These vom Homo ludens denkt, ergibt sich schon ein rundes Bild...



    aus Süddeutsche.de, 17. Mai 2010 21:49




    Sesshaft dank Saufen  
    Am Anfang war die Party

    Dem Biologen Josef H. Reichholf zufolge war die Sesshaftigkeit des Menschen nicht in der Fleisch-Knappheit begründet - sondern im kollektiven Besäufnis.
     
    Von Johan Schloemann

    Von dieser Theorie könnte man besoffen werden. Denn vereinfacht geht sie so: Der Ackerbau und damit die Sesshaftigkeit und damit die Höfe, Dörfer und Städte und damit die ganze menschliche Kultur sind nicht entstanden, weil einst das Fleisch knapp geworden war, sondern weil es im Gegenteil Fleisch von wilden Tieren im Überfluss gab.

    Also haben sich die Menschen in der Nacheiszeit, die grob vor 12.000 Jahren begann, zu gemeinschaftlichen Fleisch-Gelagen verabredet. Der Ertrag des wilden, noch nicht gezüchteten Getreides reichte auch gar nicht aus, um sie hinreichend zu ernähren. Aber diese frühen Menschen hatten, nach dem Vorbild überreifer Beeren und Früchte, die Gärung entdeckt: Sie rührten die Getreidekörner zu einem alkoholischen Gebräu an und erkannten dessen berauschende Wirkung.

    Der erste Zweck des Getreides, das erst in der Folge zu einer effektiven Nahrungsquelle kultiviert wurde, war ein frühes Bier, das aus dem Fleisch-Fest ein kultisches Begängnis machte. Oder in noch kürzerer Fassung, und je nach Präferenz: Am Anfang war die Dinner-Party. Am Anfang war das Oktoberfest.

    Widerspruch zu geläufigen Erklärungen der Kulturentstehung

    Der Schöpfer des geselligen Szenarios aber ist, obschon ein Bayer, aus ganz nüchternen Überlegungen zu diesem Modell gekommen. Es widerspricht den geläufigen Erklärungen der Kulturentstehung fundamental und müsste, wenn man ihm folgt, die Forschungen über unsere Evolution und Prähistorie, einschließlich der Religionsgeschichte, in eine ganz neue Richtung lenken.

    Es ist der bekannte Naturhistoriker und Ökologe Josef H. Reichholf, der diese Theorie aufstellt, in seinem soeben erschienenen Buch "Warum die Menschen sesshaft wurden. Das größte Rätsel unserer Geschichte" (S. Fischer Verlag, Frankfurt 2008, 315 Seiten, 19,90 Euro).

    Reichholf hatte zuletzt im vergangenen Jahr mit seiner "Kurzen Geschichte des letzten Jahrtausends" für Aufsehen gesorgt und den Preis der Darmstädter Akademie für wissenschaftliche Prosa erhalten. Schritt für Schritt, und ohne erkennbaren Einfluss von Genussstoffen, nähert er sich nun anhand von erd- und klimageschichtlichen, botanischen, zoologischen und humanevolutionären Beobachtungen seinem dionysischen Befund.

    Wechsel von der Pflanzenkost zum Fleisch

    Da sind zunächst die anthropologischen Grundlagen. Heute bedroht bekanntlich der nicht endende Fleischhunger der wachsenden Menschheit sowohl die unbewirtschaftete Natur als auch die Ernährung der Armen.

    Dieser Fleischhunger hat tiefe Wurzeln: Wir begegnen unserem Vorfahren, der vor sechs bis sieben Millionen Jahren mit aufrechtem Gang in die Savanne trat und sich zu einem exzellenten Jäger entwickelte.

    Er wechselte, so zeichnet Reichholf das Bild, von der Pflanzenkost des Urwalds zum Fleisch; er ist im Ergebnis eine einzigartige Kombination aus Sprinter und Dauerläufer, denn der schwach behaarte, nackte Mensch hat nicht nur einen schnellen Antritt, sondern durchs Schwitzen auch die beste nur vorstellbare Kühlung und kann dadurch lange Distanzen rasch überwinden; und er erfindet das Jagen mit Waffen aus der Ferne, weshalb er anderen Raubtieren überlegen ist.

    Evolutionär entscheidend ist der Fortpflanzungserfolg, die menschentypische "Erhöhung der Zahl der Kinder und Verlängerung der Betreuungsdauer des Nachwuchses". So wird auch das Gruppenleben durch die Versorgung der Mütter gestärkt.

    Dafür aber, gerade auch für die Entwicklung des großen Gehirns, brauchten die Mütter und Kinder der Frühzeit vorrangig Proteine. Also Fleisch. Das galt erst recht, als der Homo erectus aus Afrika in die nördlichen Eiszeitgebiete wanderte; immerhin hat er es rund anderthalb Millionen Jahre dort, außerhalb seiner warmen tropischen Heimat, ausgehalten.

    Durch die eiskalten Winter können damals, wie Reichholf vorrechnet, nur Tierfelle und Fleischvorräte gerettet haben; Pflanzen, Beeren, Pilze waren bloß ein schwaches Zubrot und halfen allenfalls über kleinere Versorgungslücken. Die "Jäger und Sammler" waren, in existenzieller Hinsicht: Jäger.

    Vor rund 70.000 Jahren wanderten die ersten Menschen unserer Art im engeren Sinne aus Afrika nach Vorderasien. Später dann, nach dem Rückzug des Eises, setzt Josef Reichholf eine Parallele zu dem früheren Szenario in Afrika an: Auf dem Weg hin zur landwirtschaftlichen Sesshaftigkeit, die zuerst im sogenannten Fruchtbaren Halbmond nachweisbar ist, habe wieder das Fleisch die zentrale Rolle gespielt und das Pflanzenreich zunächst nur als Supplement gedient.

    Vor der Versteppung der Sahara um 2500 vor Christus gab es demnach eine wildreiche Savanne, die sich über die Arabische Halbinsel erstreckte, über Mesopotamien und die Gebiete Persiens, die heute Wüste oder Halbwüste sind.

    Für die gängige Hypothese eines akuten Mangels an Jagdwild, der, kombiniert mit Bevölkerungsdruck, den menschlichen Ackerbau erzwungen haben müsse, sieht Reichholf keinerlei Belege.

    Am Anfang war die Party

    "Warum sollte ausgerechnet dort, wo die passenden Wildpflanzen wuchsen, aus denen Getreide werden konnte, das Wild so selten geworden sein?" Denn: "Wo gutes Gras wächst, sammelt sich auch das Wild." Es sei auch prinzipiell falsch, "Fortschritte" des Menschen immer nur durch Ressourcenknappheit und Existenzangst zu begründen.

    Dann kam die Fleischparty

    Vielmehr stehe am Beginn der schrittweisen Domestikation der Überfluss an Tieren: Man begann - natürlicherweise nur, weil es genug davon gab -, die Tiere nicht gleich aufzuessen, sondern mit der Zeit die Wildformen von Schafen, Rindern und Ziegen als "lebende Fleischreserve" zu fangen und zu halten. "Zähmung und Züchtung", so Reichholf, "erfolgten nicht der Not gehorchend."

    Und dann kam die Fleischparty. Jene beginnende Vorratswirtschaft in einer noch wesentlich nomadischen Kultur habe sich gewissermaßen in kollektiven Feiermahlzeiten entladen.

    Josef Reichholf verweist hier auf Funde wie die erst unlängst entdeckte, bisher älteste menschliche Kultstätte von Göbleki Tepe in Anatolien, die mindestens 12.000 Jahre alt ist; dort finden sich Reliefs von Wildtieren. Und solche Kultereignisse seien eben auch große Besäufnisse gewesen, für die das Getreide ursprünglich verwendet worden sei.

    In der Tat hängen ja Rausch und religiöse Transzendenz in vielen Kulturen zusammen; für die Exstase zuständige Priester oder Schamanen kennen sich mit Zauberformeln, Geheimsprache und halluzinogenen Pilzen aus - oder, wie in diesem kulturentscheidenen Fall, mit dem Rezept fürs Bier.




    Auf frühen sumerischen Darstellungen sieht man Menschen feierlich mit Strohhalmen aus Tonkrügen trinken, das würde zum ungefilterten Bierbrei der Frühzeit passen; ähnliche Praktiken sollen durch Wanderungen über die Beringstraße bis zu den südamerikanischen Indios gelangt sein, wo das "Chicha"-Bier in Amazonien durch Spucke zum Gären gebracht wird.

    Die Aborigines sind hingegen vor mindestens 40.000 Jahren nach Australien gelangt und haben nicht nur keine Nutzpflanzen oder -tiere entwickelt, sondern auch nicht die geringste Alkoholverträglichkeit.

    Erst das Bier, dann davon ausgehend das planmäßig angebaute Getreide, dann erst die Sesshaftigkeit (und Städte und Kriege und so weiter) - das ist Josef Reichholfs spektakulärer neuer Vorschlag für den Ursprung der "neolithischen Revolution", den er mit atemberaubendem Überblick über die Wissensfelder und zugleich großer geistiger Unabhängigkeit erreicht, und das in vorbildlich zugänglicher Sprache.

    Es wird, es muss Einwände geben: Die Erklärung könnte zu monokausal sein. Die Religionsgeschichte kann Zweifel an der These anmelden, ob mythische Welten, ob Götter und Geister tatsächlich erst, wie Reichholf andeutet, durch den Rausch entstanden sind, sowie die Berücksichtigung der diversen Theorien des Opfers einfordern, die bei Reichholf fehlen.

    Auch die von ihm verwendete Verknüpfung von Genetik und Sprachfamilien (nach L.L. Cavalli-Sforza) ist höchst umstritten. Aber Josef Reichholfs Theorie ist ein genialer Denkanstoß, der das berührt, was noch in jedem von uns stecken mag. Prost.



    Samstag, 23. November 2013

    Novalis' Tod.

    aus NZZ, 23. 11. 2013

    Vom Nachsterben
    Der Tod des Anderen und der romantische Tod oder wie der Dichter Novalis seiner früh verstorbenen Verlobten folgte

    Zwei Jahre nach ihrer Verlobung stirbt im März 1797 Novalis' Verlobte Sophie von Kühn an der Schwindsucht. Er beschliesst, ihr im Tod nachzufolgen, erwägt auch einen Suizid, stirbt aber vier Jahre später ebenfalls an Schwindsucht.

    von Ludger Lütkehaus

    Die abendländische Philosophie von Platon und Epikur über Montaigne und Schopenhauer bis zu Heidegger hat sich als «Einübung in den Tod», als «Sterbenlernen» verstanden. Ihr Ziel war die Überwindung der Todesfurcht, Gelassenheit ihr eindrucksvolles Versprechen. Aber sie blieb zumeist auf den «Eigentod», den individuellen, ganz persönlichen Tod des Ichs, beschränkt. In einem Ausmass, das von den Philosophen - nicht den Poeten, die immer schon todesrealistischer waren - erst in der Auseinandersetzung mit der Todesphilosophie Martin Heideggers mit dem nötigen Nachdruck bemerkt worden ist, hat der «Eigentod» die Todesphilosophie bestimmt. Und noch im Begriff des «Fremdtodes», der dem «Eigentod» gegenübergestellt wurde, blieb der Tod der Anderen von Grund auf fremd. Dagegen hat vor allem die Todesphilosophie von Emmanuel Levinas gelehrt: «Der Tod des Anderen ist der erste Tod.» Das gilt in jedem Sinn, ontologisch, chronologisch, existenziell. Die Erfahrung des Todes, die für den Sterbenden alle weitere Erfahrung unmöglich macht, ist primär die des Todes des Anderen.

    Liebes- und Sterbensgeschichte

    Der Eine stirbt den Tod des Anderen freilich nicht mit - er überlebt ihn auch. Leben ist sterblich, aber mehr noch ist es Überleben. Und dieses Überleben ist im Widerspruch zu den üblichen Einschätzungen kein Vorzug. Weit schlimmer, als selber zu sterben, ist es, den Sarg des geliebten Menschen im offenen Grab verschwinden oder neuerdings mit dem Fahrstuhl der Krematorien in den Keller der Endentsorgung abfahren zu sehen. Auf sich selber kann das Ich zur Not gut verzichten - Friedrich Nietzsche hat das unübertrefflich formuliert: «Ich» - ich als Toter - «Ich würde mich nicht vermissen.» «Dich», den Toten, vermisse ich wie nichts sonst. Das gilt am meisten für die Liebenden: Der Tod ist die Trennung der Liebenden. Ihre heillose Frage, wer das Privileg hat, als Erster zu gehen, wird immer zuungunsten der Überlebenden beantwortet.

    Das zeigt paradigmatisch jene Liebes-, Lebens- und Sterbensgeschichte, die den Vorrang illustriert, den der Tod des Anderen vor dem Eigentod hat, die zugleich aber als die romantischste, versöhnlichste aller romantischen Liebesgeschichten gilt: diejenige, die Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, mit seiner zehn Jahre jüngeren Braut Sophie von Kühn verbunden hat. Es ist eine Geschichte vom Lieben und vom Sterben und vor allem vom «Nachsterben», die zur Wiedervereinigung des durch den Tod getrennten Paares führen soll, aber am Ende andere Wege geht. Die ungelöste, vielleicht unlösbare Bindung an die Geliebte entbindet einen Toten- und Todeskultus des Überlebenden, der die Eine nicht wirklich sterben und den zum «Nachsterben» entschlossenen Überlebenden nicht wirklich leben lassen kann. Im November 1794 hatte der 22-jährige Novalis die seinerzeit erst zwölfjährige Sophie von Kühn kennengelernt und sich nach einer nur viertelstündigen ersten Begegnung gleich «sterblich» in sie verliebt. Zärtlich nannte er sie sein «Söphchen», die Liebe zu ihr mit schönem Doppelsinn seine «Philo-Sophie», die Liebe zu Sophie, gleichbedeutend mit der Liebe zur Weisheit.

    Die Liebe wurde erwidert. Nach nur vier Monaten verlobte sich das Paar - zunächst heimlich, aber dann auch familienöffentlich. Allerdings liebte Sophie etwas distanzierter. Novalis notiert noch 1796 in seinem Tagebuch: «Sie will sich nicht durch meine Liebe genieren lassen. Meine Liebe drückt sie oft. Sie ist kalt durchgehends.» Bei aller Liebe ist Novalis von ihrer Idealisierung zunächst weit entfernt. Die Andere wird als Andere wahrgenommen. «Sie will nichts seyn. Sie ist etwas.»

    Eben deswegen «glaubt sie an kein künftiges Leben, aber an die Seelenwanderung». Dann allerdings, nur ein halbes Jahr nach der Verlobung, bricht Sophies tödliche Krankheit aus: Leberentzündung und Lungentuberkulose. Dreimal wird Sophie ohne Narkose operiert. Auf dem Hintergrund einer todesgeneigten, sterbensbegierigen Romantik darf man die Krankheit bei ihrem alten Namen nennen: Es ist die Schwindsucht, die Sucht zu schwinden. Sophie freilich verbirgt ihre Wundmale, anders als die stigmatisierten Frauen der mystischen und romantischen Tradition, die mit ihrem nur zu gerne vergossenen Blut als Himmelsbräute den Weg der Nachfolge Christi beschreiten. Der Bräutigam, der sie inzwischen buchstäblich «anbetet», liebt sie «ihrer Krankheit wegen fast mehr». Leiden und Mitleiden, Krankheit und drohender Tod zeigen sich als die Mächte der Bindung und zugleich der Stilisierung der Braut zu einer «der edelsten Gestalten, die je auf Erden gewesen sind und sein werden».

    Dieses Romantisieren des Anderen unter der Todesdrohung steigert das Gefühl für das ganze Ausmass der drohenden Katastrophe. Zugleich bereitet es die Rettung durch Erhöhung des Bildes, durch die Ikonisierung der Braut bei gleichzeitigem Verblassen der realen Gestalt vor. Doch noch bestimmt den Bräutigam die Hoffnung. Der «gute Gott» der Liebenden gibt ihm den Glauben an Sophies Genesung. Aber die Hoffnung wird enttäuscht, ohne dass Novalis deswegen mit Gott rechtete. Liebe und Klage hängen zusammen, aber nicht Liebe und Anklage. Mit dem Schwinden der Hoffnung stürzt er jedoch in Verzweiflung, Lebensekel, Lebensüberdruss. Alles ist für ihn nun «tot, wüste, taub», der Schlaf als Zwillingsbruder des Todes die einzige Wohltat. Nach anderthalbjähriger schmerzenreicher Todeskrankheit stirbt Sophie am 19. März 1797.

    Der Bräutigam freilich ist bei Sophies Tod nicht anwesend: «Es war über meine Kräfte», bekennt er, «die entsetzlichen Kämpfe der unterliegenden blühenden Jugend, die fürchterlichen Beängstigungen des himmlischen Geschöpfs ohnmächtig mit anzusehen.» Etwas weniger Liebe und Mitleiden - und er hätte bei Sophie bleiben können. Idealisierung und Ikonisierung steigern sich in der Folge zur Apotheose, einem neuen Gottesdienst der Liebe, als wäre die nun verklärte Braut seit je so fromm, so stille gewesen, dass sie auf der irdischen Welt nicht am richtigen Platze war. Die Liebe soll in einer «himmlischen Gestalt» gründen, deren Bild sich ihrerseits der Liebe verdankt. Die erste Biografie Hardenbergs schreibt: «Dieses liebenswürdige Geschöpf ward seine Madonna.»

    Desto quälender aber das Weiterleben. Als Novalis acht Tage nach dem Verlassen Sophies die entsetzlichen Worte der Todesnachricht erhält, da stürzt die Gewissheit lebenslanger Hoffnungslosigkeit und Verlassenheit auf ihn ein, deren Last nur mit dem eigenen Tod enden kann. Die Trauer ist grenzenlos wie die Liebe. Der Tod der untrennbar mit seinem Ich amalgamierten Braut ist der vollständige Selbst- und Weltverlust. «Mit ihr bin ich von allem getrennt, denn ich selbst habe mich fast nicht mehr.»

    Der zweite Tod

    Die Frühromantik, die sich wie keine andere geistesgeschichtliche Epoche auf das Ich, das Selbst gestellt hat, erlebt ihr Korrektiv in einer rigorosen Erfahrung unbedingter Koexistenz. Der Tod der Anderen ist so sehr der eigentliche, der wahre Tod, dass der vermeintlich erste Tod: der des Ich, zum sekundären wird. Das eigene Leben ist zum Überleben geworden, das der Überlebende nicht mehr leben kann, ja, gar nicht mehr leben will. Folgerichtig bestimmen Novalis Todesphantasien, Todessehnsüchte. «Sie ist gestorben - so sterbe ich auch - die Welt ist öde - leer.»

    Die Hoffnung auf jenseitige Wiedervereinigung könnte auch durch eine Erscheinung, eine Selbstoffenbarung Sophiens gestärkt werden. Aber da sich diese nicht oder nur in dichterischer Form ereignet, fasst Novalis einen «Entschluss», wie er entschlossen sagt, mit dem Tod und Verlust der Geliebten zur himmlischen Wiedervereinigung führen sollen. Dieser «Entschluss» wird in den Tagebüchern geradezu obsessiv festgehalten. Er will der Geliebten «nachsterben». Die Liebe war der Anfang - sie wird auch das Ende seines Lebens sein. Der nachzusterbende, der zweite Tod soll indes den ersten Tod überwinden, das Nachsterben soll zur seit je herbeigesehnten Brautnacht des mystisch getrauten Paares führen, die «Hymnen an die Nacht» zu Hymnen auf eine süssere Hochzeitsnacht. Innerhalb eines Jahres, so Novalis' Gelübde, will er der Geliebten auf dem Weg ins Himmelreich des jenseitigen Lebens folgen.

    Wie dieses «Nachsterben» sich vollziehen soll, bleibt allerdings offen. Es könnte sich ereignen als Prozess des einverständigen Siechtums, des gebrochenen Lebenswillens, einer Krankheit zum Tod, wie es dann am Ende tatsächlich der Fall ist. Mehr noch aber spielt der aktive «Entschluss, freiwilligen Abschied zu nehmen» und aus dem Leben zu scheiden, eine kaum verhohlene Rolle. In Novalis' Tagebuch melden sich zwar familiäre Bedenken: «Meine Mutter, Vater und die Methode machen mir noch zu schaffen . . . Der Entschluss erhielt aber neues Leben - neue Festigkeit.» Das Tagebuch wird schon suizidal konkret: «Heute früh ein ernsthaftes Gespräch über den Selbstmord mit Langermann», einem der behandelnden Ärzte Sophies. «Der Entschluss stand fest. Der Arzt sprach mit mir heute über die Schwierigkeit der Untersuchung, ob jemand an Pflanzengiften gestorben sei.» Es droht also auch kein Nachweis des tödlichen Gifts. Das christliche Verdikt des «Selbstmords» spricht allerdings gegen das aktive suizidale «Nachsterben». Und der Gedanke an die Eltern und Geschwister bedrückt die Seele. Aber sie werden ihn schon vermissen lernen.

    Zur Bekräftigung seines Entschlusses zum «Nachsterben» sucht Novalis immer wieder das Grab der Geliebten auf, das er mit Blumen schmückt und an dem er zu der nun vollständig Idealisierten, Sakralisierten unablässig betet. Der Friedhof wird zum Wohnort, zugleich zur Stätte der Heiligung, zum Pilgerort und zum mystischen Ort. Und wenn Novalis nicht am Grabe seinen Totengottesdienst feiert, inszeniert er einen im buchstäblichen, nicht perversen Sinn «nekrophilen» Totenkult, indem er die Lieblingskleider der Geliebten auf ihrem Bett so arrangiert, als liege sie selber noch dort.

    Gewöhnung an den Tod

    Nun ereignet sich auch Sterbens-, Nachsterbenswidriges. Selbst gegen die Übermacht der Toten fordert das weitergehende Leben des Überlebenden sein Recht. Das «Journal» wird zum Dokument seines Schwankens zwischen der Bekräftigung des «Entschlusses» zum «Nachsterben» und Selbsterhaltungsimpulsen. Novalis belauert sich selber voller Argwohn. Peinlich genau registriert er den Pegelstand seiner Trauer. Er weint nicht mehr. Seine «Versteinerung» geht schnellen Schrittes. Er erlebt eine Art von posttraumatischer Starre, die das Leben stillstellt, es gefriert. Dann kehren seine Lebensgeister wieder, zumal die erotischen, ja, unverhohlen die sexuellen. Das ausserordentlich freimütige Journal wird zum «journal intime». Immer wieder erlebt er, der sich schon früh in seinen sinnlichen Regungen und Phantasien ungeduldig nach «Brautnacht» gesehnt hatte, «etwas weit getriebene» Momente der «Lüsternheit».

    Wenn er sich trotzdem immer mehr an den Tod Sophies gewöhnt, so stirbt sie gleichsam noch einmal. Der Tod des Anderen ist nun wieder der sekundäre Tod. Gewöhnung ist das Lebens-, das Überlebensmittel des Überlebenden. Und wie das Gefühl zeigt auch der Verstand die Spuren der Zeit. Er «beräsonirt» den schwankenden «Entschluss». Reflexion ist das Vehikel der Relativierung. Als Novalis den «Entschluss» doch wieder bekräftigt, ist er zwar sichtlich erleichtert. Aber das hindert nicht, dass er bereits 1798 ein neues Verlöbnis mit der reiferen Julie von Charpentier eingeht.

    Die Treue hält er der verklärten Sophie literarisch: mit den «Hymnen an die Nacht» und der «Blauen Blume» des «Ofterdingen»-Romans, der die Poesie auf die Liebe gründet. Aber man darf auch die Konsequenz des realen Endes nicht unterschlagen. Denn als Novalis selber vier Jahre nach Sophies Tod stirbt, ist es wie eine Erneuerung des Todes-Entschlusses zum Nachsterben, wie eine letzte Feier des Todeskultes, dass Novalis genau in dem Moment stirbt, da die Liebe zu Julie zur Feier einer neuen Brautnacht zu führen droht. In diesem Sinn folgt er der ersten Braut doch nach. Nachfolge auch in der Todesursache: Es ist die Schwindsucht, an der er sich ansteckt und wie Sophie stirbt: die Sehnsucht, nach dem Tod der Braut auch selber zu schwinden. Und diese Sehnsucht wird erfüllt.

    Die Liebes-, Lebens- und Sterbensgeschichte dieses romantischen Paares zeigt so entgegen den Verkürzungen einer auf den «Eigentod» fixierten abendländischen Todes-Philosophie in der Tat, wie sehr Sterben und Tod vorab die des Anderen, der Anderen sind.

    Die Verwandlung des Unausdenklichen

    Der Tod des Anderen ist der erste Tod, Leben als Überleben das schwere Geschick, das den Hinterbliebenen bleibt. Deswegen der romantische Versuch, erst dem direkten Erleben des Sterbens der Braut, dann durch das Nachsterben der schneidenden Dissonanz des Sterbens der Einen und des Überlebens des Anderen zu entgehen. Deswegen der Versuch, mit der Idealisierung, der Ikonisierung der Toten einen Totenkult zu begründen, der den Schmerz des unvermeidlichen Abschieds in die Feier eines neuen Gottesdienstes, eines Göttinnendienstes, überführen soll. Aber die Überlebenden sind und bleiben Andere als die Toten. Sie entgehen vor allem nicht der fundamentalsten Form des Sterbens: der allmächtigen Zeit, die zwar keine Wunden heilen, nur Narben bilden kann, aber in Gewöhnung oder auch in eine neue Liebe verwandelt, was das Unausdenkliche war.


    Nota.

    Ja einmal muss es doch gesagt werden: Sophies Tod hat ihm auch den Verstand gebrochen.  Seine wahre Berufung war die Philosophie, aber damit war nun Schluss; er hat nur noch gesponnen. Seine Dichtung, und vor allem den Ofterdingen, schätze ich gar nicht, außer vielleicht die Hymnen. Aber ein scharfsichtiger Philosoph ist an ihm verlorengegangen.
    JE

    Freitag, 22. November 2013

    Unsere Abstammung - statt einfacher nun doch komplizierter?

    aus derStandard.at, 19.11.2013

    Kopulation mit unbekannter Population
    In London präsentierte Gensequenzen von Neandertaler und Denisova deuten darauf hin, dass es vor 30.000 Jahren in Asien eine unbekannte Menschenart gegeben haben dürfte

    "Wir haben nicht die geringste Idee", sagt einer, der es eigentlich wissen müsste, nämlich der britische Paläoanthropologe Chris Stringer. Die Rede ist von einer neuen Hominidenpopulation, die vor rund 30.000 Jahren in Asien gelebt haben muss, von der aber praktisch jeder Hinweis fehlt. Dass es sie gegeben haben muss, schließen führende Paläogenetiker allein aus den bisher genauesten Analysen der DNA von Neandertaler und Denisova-Mensch, die am Montag bei einer Konferenz der Royal Society in London präsentiert wurden.

    Lagen bisher nur vorläufige Genomdaten des vor rund 30.000 Jahren ausgestorbenen Neandertalers und des rätselhaften, erst 2010 entdeckten Denisova-Menschen vor, der Sibirien vor mehr als 30.000 Jahren unsicher machte, so hat ein Expertenteam um Svante Pääbo (MPI für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig) und David Reich (Harvard) diese Lücken geschlossen. Die neuen Daten bergen einige kleinere Überraschungen und eine besonders große.


    Bekannt war bereits, dass alle heute lebenden Menschen, deren unmittelbare Vorfahren nicht aus Afrika stammen, zwei Prozent ihrer DNA den Neandertalern verdanken. Und vier Prozent der DNA von Bewohnern Ozeaniens und Papua-Neuguineas gehen wiederum auf Kreuzungen zwischen dem modernen Menschen und dem Denisova-Menschen zurück. Doch das ist noch nicht alles: Die neuen Daten legen nahe, dass die Denisovas auch mit den Neandertalern Sex hatten und mit den Vorfahren jener Populationen, die heute in Ostasien leben.

     

    Vierte, bisher unbekannte Menschenart


    Die große Sensation aber ist, dass laut den Analysen vor rund 30.000 in Asien noch eine vierte, völlig unbekannte Menschenart existiert haben muss, die sich vor rund 30.000 Jahren an den Kreuzungen beteiligte. Es scheint so, also ob die Welt in dieser Zeit ein bisschen was vom "Herrn der Ringe" hatte, wird der Genetiker Mark Thomas vom Wissenschaftsmagazin "Nature" zitiert ­- also eine Welt mit mehreren Menschenarten, die sich untereinander paarten.

    Der eingangs zitierte Chris Stringer vom London Natural History Museum, der an der Studie nicht beteiligt war, wartete immerhin mit einigen Spekulationen auf: Womöglich war diese Menschenpopulation mit Homo heidelbergensis verwandt, einer Menschenart, die vor mehr als 500.000 Jahren Afrika verließ und aus der sich die Neandertaler entwickelten. Und womöglich lebte sie auch noch nach den Kreuzungen vor rund 30.000 Jahren noch einige Jahrtausende in Asien weiter. (tasch)