Donnerstag, 7. November 2013

Der andere Vater der Evolutionslehre.


aus NZZ, 6. 11. 2013

Der zu Unrecht Vergessene
Unabhängig von Charles Darwin entdeckte Alfred Russel Wallace am anderen Ende der Welt dasselbe Evolutionsprinzip

Seine Bescheidenheit und eine Absprache alteingesessener Wissenschafter kosteten Alfred Russel Wallace wohl den Ruhm, den er verdient hätte. Er starb vor 100 Jahren.

von Martin Amrein

Die natürliche Selektion ist eine der bedeutendsten wissenschaftlichen Theorien der Geschichte. Sie stiess den Menschen als Krone der Schöpfung von seinem selbst errichteten Sockel. Ein Name - Charles Darwin - wird fast schon als Synonym der Theorie verwendet, obwohl sie ihm nicht alleine gehört: Auch Alfred Russel Wallace erkannte, unabhängig von Darwin, das Prinzip der natürlichen Selektion. Während Wallace zu seinen Lebzeiten ein bekannter Naturforscher war, ist sein Ruhm mittlerweile verblasst. Nach seinem Tod am 7. November 1913 rückte er immer mehr in den Schatten Darwins und geriet allmählich in Vergessenheit - zu Unrecht.

Verarmte Familie

Anders als Darwin, der genug Geld geerbt hatte, um sein ganzes Leben der Wissenschaft zu widmen, stammte der 1823 in Wales geborene Wallace aus bescheidenen Verhältnissen. Als seine Familie verarmte, musste er mit 14 Jahren die Schule verlassen und sich bezahlte Arbeit suchen. Seine Kenntnisse über die Natur stammten aus den Büchern grosser Naturforscher. Begeistert von den Schriften Humboldts und Darwins, brach er 1848 im Alter von 25 Jahren selber auf, um die Weiten des Amazonas-Gebietes zu erkunden. Die Expedition finanzierte er, indem er in Regionen, die noch kein Europäer zuvor betreten hatte, seltene Tiere sammelte und als Präparate nach England schickte. 

Unzählige Schachteln mit Überresten von exotischen Tieren, die ausserhalb Südamerikas noch niemand gesehen hatte, stapelten sich auch auf dem Schiff, mit dem Wallace zurückkehrte. Als sich dieses jedoch mitten im Atlantik befand, weckte der Kapitän Wallace eines Morgens mit den unheilvollen Worten: «Ich befürchte, das Schiff steht in Flammen.» Dem jungen Forscher blieb nichts anderes übrig, als seine wichtigsten Habseligkeiten - sein Reisetagebuch und einige Kleidungsstücke - zusammenzusuchen und sich mit der Besatzung in ein Beiboot zu retten. Aus sicherer Entfernung sah Wallace, wie seine gesamte Sammlung sowie etliche Forschungsnotizen und Zeichnungen mit dem Schiff verbrannten.

Zurück in der Heimat, gerettet von einem englischen Handelsschiff, war Wallace am Boden zerstört: «All der Lohn für vier Jahre Entbehrung und Gefahren: verloren», schrieb er einem Freund. Alles war aber nicht weg. Wallace blieb sein reicher Erfahrungsschatz, der ihn immer mehr über die Entstehung von Arten grübeln liess.

5000 neue Arten

Während die konventionellen Naturforscher jener Zeit neue Spezies noch als scheinbar zufällige Kreationen eines Schöpfergottes betrachteten, war Wallace bereits davon überzeugt, dass die geografische Verteilung der Tiere einem natürlichen Gesetz folgen müsse. Er war fasziniert von Konzepten der Evolution, die damals - noch lange bevor Darwin etwas zur Evolution publizierte - bereits kursierten, von der wissenschaftlichen Welt aber in der Luft zerrissen wurden. Wallace wollte das nach seinen Worten «schwierigste und interessanteste Problem der Naturgeschichte» lösen: den Ursprung der Arten. Dazu stach er 1854 erneut in See. Der Malaiische Archipel, eine Inselgruppe zwischen Malaysia und Papua-Neuguinea, schien ihm ein gutes Ziel, um Neues zu entdecken.

Im Verlauf der folgenden acht Jahre besuchte er jede bedeutende Insel des Archipels und schickte 110 000 Insekten, 7500 Muschelschalen und Schneckenhäuser, 8050 Vogelhäute und 410 Präparate von Säugetieren und Reptilien nach England. Dabei entdeckte Wallace nicht weniger als 5000 neue Tier- und Pflanzenarten. Im Verlauf seiner Reise erkannte er zudem, dass eine tiefe Meeresstrasse Indonesien in zwei Hälften teilt, die sich in Flora und Fauna unterscheiden. Noch heute wird diese Grenze als Wallace-Linie bezeichnet. 



Immer wieder brütete Wallace am Mechanismus des Artenwandels. Einmal mehr im Februar 1858, als ihn eine durch Malaria ausgelöste Fieberattacke zwang, einige Tage in einer brüchigen Hütte auf der Insel Gilolo, westlich von Papua-Neuguinea, zu verbringen. Während seine Gedanken im Fieberwahn um die Artenfrage kreisten, erinnerte er sich an einen Essay des britischen Ökonomen Thomas Malthus, der bereits Jahre zuvor auch Darwin inspiriert hatte. Malthus beschrieb darin, dass Hungersnöte und Krankheiten die starke Wachstumstendenz des Menschen in Grenzen hielten. «Plötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitz», so erinnerte sich Wallace später an jenen Moment: «In jeder Generation würde der Unterlegene wegsterben und der Überlegene erhalten bleiben - das bedeutet, der am besten Angepasste würde überleben.» Wallace hatte unabhängig von Darwin das Prinzip der natürlichen Selektion erkannt. Zur selben Zeit mühte sich Darwin seit 20 Jahren mit der Ausarbeitung seiner Theorie, ohne sie je veröffentlicht zu haben.

Verschollener Originalbrief

Wallace brachte seine Gedanken eiligst zu Papier. Bereits früher hatte er Abhandlungen über die Lebenswelt Südostasiens zur Veröffentlichung nach England geschickt. Diesmal allerdings, seine Ideen schienen ihm allzu bedeutend, wollte er erst die Meinung eines anderen Naturalisten einholen. Es war der vielleicht grösste Fehler seines ganzen Lebens: Wallace schickte sein Manuskript ausgerechnet an Darwin, mit dem er seit wenigen Jahren in Briefkontakt stand. Die turbulenten Ereignisse, die darauf folgten, sorgen bei Historikern noch immer für Kopfzerbrechen. 
Fest steht, dass Wallace den fünfzigjährigen Darwin auf dem falschen Fuss erwischte: «Eine verblüffendere Duplizität der Ereignisse habe ich noch nie erlebt. Hätte Wallace das Manuskript meines Entwurfs in der Hand gehabt, er hätte keine treffendere Kurzfassung davon schreiben können», schrieb der um die Priorität seines Lebenswerks besorgte Darwin seinem Freund, dem Geologen Charles Lyell noch am selben Tag. Weil jedoch der Originalbrief von Wallace verschollen und Darwins Brief an Lyell nur ungenügend datiert ist, bleibt bis heute nicht ganz geklärt, wann Wallaces Brief bei Darwin eingetroffen ist. Während einzelne Experten mutmassen, Darwin habe bewusst die Ankunft des Briefes verschleiert, um Gedanken daraus in die eigene Evolutionstheorie einfliessen zu lassen, sprechen andere Darwin von jeglichem Ideendiebstahl frei.

Unabhängig davon erwies sich Darwin in diesen Tagen nicht als der Ehrenmann, der er sonst stets war. Um seine Priorität zu sichern, stimmte er dem Plan von Lyell zu, Wallaces Aufsatz gemeinsam mit einer alten Niederschrift von Darwins Theorie zu veröffentlichen. Dies geschah am 1. Juli 1858, ohne dass Wallace davon in Kenntnis gesetzt worden war.

Arrangierte Veröffentlichung

Hätte Wallace seine auf Gilolo verfasste Abhandlung direkt veröffentlichen lassen, würden wir heute vielleicht von «Wallacismus» statt von «Darwinismus» sprechen. Dazu kam es aber nicht. Angestachelt von der Erkenntnis, dass ihm andere zuvorkommen könnten, stellte Darwin auf schnellstem Weg das seit Jahren geplante Artenbuch fertig. «On the Origin of Species» erschien im November 1859. Damit erreichte das Konzept der natürlichen Selektion die breite Öffentlichkeit und war unwiederbringlich mit Darwins Namen verbunden. Als Wallace 1862 nach England zurückkehrte, ertrug er die Situation mit Demut. Zeit seines Lebens übte er keine Kritik am delikat arrangierten Veröffentlichungsverfahren. Die Anerkennung, die ihm als vermeintlich beiläufigem Mitentdecker des Prinzips der natürlichen Selektion entgegengebracht wurde, schien dem bescheidenen Waliser auszureichen.

Insgeheim wusste Wallace aber um den Wert seiner Leistung. «Ich weiss nicht, ob du das wunderbare Buch von Herrn Darwin gesehen hast», schrieb Wallace einige Jahre nach dem Erscheinen von «On the Origin of Species» seinem Bruder John: «Ich habe selber einen kleinen Anteil daran, weil ich das Hauptprinzip entdeckt habe, auf dem das Werk beruht.»

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