Montag, 11. November 2013

Vorwissen und Wahrnehmung.

Beim Anblick einer schwarz-weiß abgebildeten Banane kann das Gehirn die gelbe Farbe umgehend substituieren.
aus derStandard.at, 10.11.2013

Sehrinde des Gehirns substituiert Farbreize bei Schwarz-Weiß-Fotos
Forscher der Universität Tübingen konnten nachweisen, wie Vorwissen die visuelle Wahrnehmung beeinflusst

Tübingen - Farbwahrnehmung und Farbempfindung sind seit langem Gegenstand neurowissenschaftlicher Untersuchungen. Allerdings war bislang unbekannt, ob das menschliche Gehirn fehlende Farben in einem Bild ergänzen kann. Nun haben die Neurowissenschafter Michael Bannert und Andreas Bartels von der Universität Tübingen sowie vom Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience Tübingen in einer Studie überprüft, was im Kopf bei der Betrachtung von Schwarz-Weiß-Fotos bestimmter Objekte passiert.

In ihrer Arbeit, die in der Fachzeitschrift "Current Biology" veröffentlicht wurde, zeigten die Forscher ihren Versuchsteilnehmern Schwarz-Weiß-Fotos von Bananen, Brokkoli, Erdbeeren und anderen Objekten, die normalerweise eine typische Farbe haben und damit farblich eindeutig zuordenbar sind. Gleichzeitig zeichneten sie mittels funktioneller Bildgebung die Hirnaktivität der Probanden während des Experiments auf. Der eigentliche Zweck der Studie war den Versuchsteilnehmern unbekannt.

Automatische farbspezifische Aktivierungsmuster

Um ihre Aufmerksamkeit von den Objekten und von Farben abzulenken, hatten sie die Aufgabe, die Bewegungsrichtung der langsam rotierenden Objekte zu bestimmen. Nach Aufnahme der Hirnantwort auf die Schwarz-Weiß-Objekte zeigten die Forscher den Teilnehmern echte Farbreize in Form von Ringmustern in Gelb, Rot, Grün und Blau, um die Hirnaktivität auf echte Farben messen zu können.

Es stellte sich heraus, dass allein beim Betrachten der Schwarz-Weiß-Bilder automatisch farbspezifische Aktivierungsmuster im Gehirn entstanden. Diese Muster entsprachen exakt den Aktivierungsmustern, die durch die Wahrnehmung der echten Farbreize hervorgerufen wurden und kodierten die Farbe des jeweiligen Objekts. Die typischen Farben der gesehenen Objekte ließen sich also aus der Hirnaktivität herauslesen.

Frühe Reizverarbeitung

"Besonders interessant war, dass die Farben der Objekte nur in der primären Sehrinde nachweisbar waren", sagt Michael Bannert. Die primäre Sehrinde ist ein Hirnareal der frühen Reizverarbeitung, von dem eigentlich angenommen wird, dass es die physikalischen Eigenschaften der Umgebung in unserem Blickfeld wahrheitsgetreu widerspiegelt. Zudem ist die primäre Sehrinde nicht fähig, Objekte zu erkennen oder gar Farbwissen über Objekte zu speichern.

"Dieses Ergebnis zeigt, dass unser Vorwissen über die Farben von Objekten auf die früheste Ebene unseres Sehsinns projiziert wird", sagt Neurowissenschafter Andreas Bartels. Die aktuelle Studie leiste einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung der allgemeinen Frage, wie sich Vorwissen in der Wahrnehmung auf neuronaler Ebene niederschlagen kann.

Möglicher Zusammenhang mit Halluzinationen

Die Forscher gehen davon aus, dass die Projektion von Vorwissen auf die früheste Verarbeitungsebene des Gehirns es unserem visuellen System erleichtern könnte, Objekte auch bei widrigen Sichtverhältnissen zu erkennen. Dabei könnte das Vorwissen über Farben zum Beispiel bei Nebel, bei unterschiedlichem Sonnenstand, bei Bewölkung oder wechselnder Raumbeleuchtung eine Rolle spielen. Ein exzessiver Einfluss solchen Vorwissens oder von Erwartungshaltungen auf frühe Verarbeitungsebenen im Gehirn könnte aber auch krankhaften Illusionen und Halluzinationen zugrunde liegen, glauben die Neurowissenschafter. (red.


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