Sonntag, 17. Mai 2015

Pascal, die Unruhe, die Zerstreuung, das bedürftige Selbst und das setzende Ich.

Wer Zerstreuung sucht, kann in den Sog der Zeit geraten; in ihm sind Zielpunkte optische Täuschungen, die vorbeirasen. aus nzz.ch, 26.4.2015, 05:30 Uhr

Die Neuzeit und die Kultur der Unruhe
Das Gesumm der menschlichen Dinge
Wer Zerstreuung sucht, kann in den Sog der Zeit geraten; in ihm sind Zielpunkte optische Täuschungen, die vorbeirasen.

von Ralf Konersmann

Mit dem jahrtausendealten Ideal der Ruhe hat nicht erst die allerjüngste Moderne gebrochen. Es war die Neuzeit, die die Ruhe als Lethargie unter Verdacht stellte und die Unruhe zum Prinzip erkor. Der Philosoph Blaise Pascal war der illusionslose Beobachter jener Zeitenwende.

Seit rund sechzig Jahren klagen die Menschen über Stress, seit der Jahrtausendwende über Burnout. Die Diagnosen seien unscharf, heisst es von fachmedizinischer Seite, und so werden die Beschreibungen der Krankheitsbilder fortlaufend nachjustiert. Dennoch erfüllt gerade die Vagheit ihren Zweck. Nicht nur gibt sie der diffusen Unzufriedenheit vieler Einzelner einen Namen, sie verleiht auch dem Zeitalter ein Gesicht, in dem das Empfinden der Unruhe zur Massenerscheinung geworden ist. Burnout und Stress gelten, wie vor hundert Jahren die Nervosität, als Zeichen der Zeit.

Aberwitz der Situation

Es ist interessant zu sehen, wie viel Aufmerksamkeit die Symptomatologie der Aufmerksamkeitsstörungen in diesen Jahren erfahren hat. Seit der Popularisierung des Stresses rollen die schnellfertigen, schon im Blick auf ihre Medientauglichkeit gestellten Diagnosen in Wellen über das Publikum hin, um von dort auf die Wissenschaften zurückzuwirken und die Aktivitäten der Forschung anzuheizen. Ganze Burnout- und Wellness-Industrien sind entstanden und schlachten das Thema weidlich aus. Dabei ist der Aberwitz der Situation mit Händen zu greifen: Die Erscheinungsformen des Stresses und die Betriebsamkeit der Stressbekämpfung sind einander im Lauf der Jahre immer ähnlicher geworden.

Die auf rasches Handeln eingestellte Diagnostik und damit verbunden die Erwartung, die Missstände zügig in den Griff zu bekommen, halten die Beteiligten dazu an, die Unruhe auf handliches Format zu bringen. Der methodische Zugriff trübt den Blick für die Selbstbetroffenheit derer, die mit routinierter Entschlossenheit auf die Unruhe reagieren. Und doch vermittelt gerade diese Betroffenheit der Akteure einen Eindruck davon, wie weitläufig die Phänomenwelt der Unruhe tatsächlich ist. Die Unruhe ist nicht lediglich ein Krankheitsbild unter vielen, sondern, weit darüber hinaus, die Schauseite unserer kulturellen Normalität.

Gewiss, der Westen hat viele Gesichter und pocht auf ausweisbare «Werte». Doch zu diesen Werten gehört neben den Proklamationen und feierlichen Erklärungen auch das, was in den Kellerregionen des halb Gewussten und halb Gefühlten zu Hause ist: der Untergrund des gemeinsam Geteilten. In diesen Regionen der Fraglosigkeit und des nur allzu Selbstverständlichen siedelt die Unruhe. Mit dem Schritt in die Neuzeit begann die westliche Kultur, sich die Unruhe in den Sehnsuchtsbildern des Fortschritts und des Neumachens auszumalen, und diesen Bildern ist sie bis heute treu geblieben. Nichts ist dafür bezeichnender als die blinde Wertschätzung des Dynamischen, des Modernen, des Mobilen und Flexiblen. Diese Kultur, die niemanden in Ruhe und nichts auf sich beruhen lassen kann, ist im umfassendsten Sinn dieses Wortes die Change-Kultur.

Das Neue der Neuzeit war die Bejahung der Unruhe, nicht jedoch das Empfinden der Unruhe selbst. Am Anfang dieser weit zurückreichenden Geschichte stand eine klare und unmissverständliche Hierarchie, die sich in der Wortgestalt der «Un-Ruhe» bis heute erhalten hat. Die Unruhe beginnt ihre Karriere als Ausdruck der Vorenthaltung, als Zeichen der Vertreibung aus der Ruhe des Paradieses. Im Deutungsgefüge des religiösen Mythos verweist die Unruhe auf ein ontologisches Gefälle, das für die Lage des Menschen überhaupt bezeichnend ist. Die christlichen Autoren und allen voran Augustinus ergründen das «unruhige Herz» des Menschen und legen ihm nahe, den Lebensweg durch die Strapazen der Unruhe als einen Prozess der Läuterung anzulegen. Die Unruhe erscheint als der Inbegriff jener Zustände, die der Gläubige überwinden muss.

Pascals Analytik der Zerstreuung

Die Neuzeit hält an der Vorstellung des ontologischen Gefälles fest, denn auch für sie ist die Welt so, wie sie ist, nicht hinnehmbar. Anders jedoch als die klassischen Tugendethiken richtet sie die Veränderungseuphorie, statt auf die Seelen der Menschen, auf die Welt selbst. Die jahrtausendealte Orientierung am Ruhe-Ideal entfällt. Die ganze Rhetorik der Neuzeit ist darauf aus, die Ruhe als Lethargie, als Langeweile und Stillstand unter Verdacht zu stellen. Im Gegenzug gibt sie die Unruhe frei: als «Geschichte» und «Entwicklung» der Menschheit, als «Prozess» der Zivilisation.

Genau an diesem Wendepunkt der Unruhe-Semantik hat sich vor rund dreihundertfünfzig Jahren der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal zu Wort gemeldet. Pascal sieht die Neuzeit auf dem offenen Meer der Zufälle und der Zusammenhanglosigkeit dahintreiben: im Zustand der Zerstreuung. Mit der Ruhe, schreibt er, hat die Welt ihr Mass verloren. Pascal konstatiert nicht nur die Zeichen eines tiefen und beispiellosen Wandels; hinzu kommt, dass die Neuzeit ausserstande scheint, sich der Herausforderung der Stunde zu stellen, ja sie auch nur wahrzunehmen.

Während die Aufklärer überzeugt waren (voller Empörung wird Voltaire diesen Gedanken in seiner Abrechnung mit Pascal noch einmal bekräftigen), dass der mit der Schwächung des Glaubens aufgetane Freiraum der Vernunft zugutekommen werde, sieht Pascal die Menschen vor den Anforderungen des selbstbestimmten Lebens in die Zerstreuung fliehen: in Ablenkung und Amüsement. Die Analytik der Zerstreuung hat den Blueprint geliefert für das Jahrhunderte später gesprochene Urteil über den Traumkitsch der «Kulturindustrie».

Die Logik der Zerstreuung macht aus der Unruhe ein Versprechen. Es ist die Zerstreuung, die die Menschen vor jener Panik bewahrt, die sie befällt, wenn sie, mit dem berühmten Bild aus Pascals «Pensées», ruhig in einem Zimmer bleiben sollen. Die äussere Unruhe der Zerstreuung macht es uns leicht, die innere Unruhe der Langeweile zu vergessen. Um diese Ausweichbewegungen zu illustrieren, verweist Pascal auf die Lockungen des Schauspiels und des Spielens überhaupt, auf das Geschwätz und das pausenlose Gerede, auf den Tanz und die Jagd.

Der ganze Aufwand des bunten Treibens dient der Manipulation der Zwecke sowie dem Bestreben, die Kunstgriffe des Nichtwahrhabenwollens verborgen zu halten. Und ist nicht gerade das Jagen verräterisch? Nichts erschiene den Teilnehmern einer Jagdgesellschaft abwegiger als der noch so gutgemeinte Versuch, ihnen den Aufwand des Beutemachens zu ersparen und einfach ein gekauftes Stück Fleisch zu überreichen. Mit diesem Gedankenexperiment legt Pascal die Struktur der Zerstreuung frei. Exemplarisch tritt im Jagen die Bedürfnislage eines Wesens zutage, das, so Pascal, «das Getümmel und die Aufregung lieben gelernt hat».

Die Zerstreuung ist weder Wahrheit noch Irrtum, sondern ein Gift. Auf den ersten Blick mögen derlei Enthüllungen sauertöpfisch erscheinen, als ausgesuchte Form der Spielverderberei. Die «Pensées» sind jedoch frei vom Ton des Moralismus und der Bigotterie. Ihr zentraler Gegenstand ist jene soziale, tief in das kulturelle Gefüge eingesenkte Struktur der Übereilungen, die eben dabei ist, sich dieser ganzen Kultur zu bemächtigen und sie zu korrumpieren: einer Kultur, in der es ganz wesentlich darauf ankommt, unablässig beschäftigt, dauernd unterwegs und in Gedanken immer schon beim nächsten Thema zu sein.

Kein Traditionalismus

Als Erster überhaupt hat Pascal die Physiognomie einer Kultur beschrieben, die sich der Unruhe ergeben hat – einer Kultur also, die die Unruhe nicht als Problem wahrnimmt, sondern als die Lösung ihrer Probleme. Anders jedoch als die Kritiker der Kulturindustrie weigert sich Pascal, die Verfallenheit an die Unruhe pauschal zu verwerfen. Das Versäumnis der Menschen bestehe nicht darin, argumentiert er, dass sie den Tumult liebten; das wahre «Übel besteht darin, dass sie ihn aufsuchen, als sollte der Besitz der Dinge, um die sie sich bemühen, sie wirklich glücklich machen». Das Spiel mit der Ablenkung ist eine Sache, ihr zu erliegen und sich die Einsicht in die Situation selbst zu verstellen, eine andere. Im Stadium der Verblendung rundet sich das Weltbild und vermittelt den Eindruck einer rastlosen, vor der Wahrnehmung ihrer selbst davoneilenden Wirklichkeit.

Pascal ist kein Traditionalist gewesen, der dem Gesumm der menschlichen Dinge mit angemasster Überlegenheit begegnet wäre. Er war ein illusionsloser Beobachter, der den epochalen Charakter der neuen Zeit, ihren eigenen Anspruch der Beispiellosigkeit, ernster genommen hat als sie selbst. Weit davon entfernt, die Neuzeit zu verurteilen, hat dieser Zeitbeobachter allerdings darauf bestanden, dass die Neuzeit sich der Neuheit, die sie für sich in Anspruch nimmt, auch gewachsen zeigt. Dass sie die Herausforderung der Selbständigkeit und überhaupt der «Weltlichkeit» annimmt und sich die Ausflucht in die Zerstreuung versagt. Dass sie sich selbst als ihr eigenes Projekt erkennt und dass sie begreift, was es heisst, die Ruhe aufgegeben und die Unruhe gewählt zu haben.

Für den Ethnologen der westlichen Kultur hält Pascals Analytik der Zerstreuung noch immer wertvolle Anregungen bereit. Wir machen uns etwas vor, wenn wir, um uns von ihrer Beherrschbarkeit zu überzeugen, die Unruhe auf Formeln wie «Stress» oder «Burnout» herunterdimmen. Solche Begriffe sind rein kosmetisch. In seine frühe Studie über Nietzsche hat Michel Foucault den Satz aufgenommen: «Der Europäer weiss nicht, wer er ist.» Ein Satz wie ein Weckruf, vorgetragen im Ton und im Geist Pascals.

Prof. Dr. Ralf Konersmann lehrt Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Im Mai erscheint bei S. Fischer sein Buch «Die Unruhe der Welt».


Nota. - Gibt es in Kiel keine grünalternativen Biotope? Prof. Konersmann sind sie jedenfalls nicht als irgend typisch für diese unseren Tage vorgekommen. In sich ruhend, ums Wesentliche zentriert, ganz spontan und ganz bewusst und ganz selbstbestimmt lebend, mit den Ressourcen ganz sparsam umgehend, ganz jing und ganz jang und im Lotussitz ganz entspannt in sich hineinhorchend - die sind das Pendant des rastlos stets etwas erledigenden Busybody und genau repräsentativ wie er. Und vor allem: Der Ton, den sie angeben, ist der inzwischen herrschende, die Geschäftigkeit tritt als Hintergrundrauschen zurück. 

So hat Pascal das nicht gemeint? Nein, aber die sind es, deren Applaus Ralf Konersmann erwarten muss, ohne sich beschweren zu dürfen. 

Die Zerstreuten, die Pascal meinte, waren die, die allezeit ein Bedürfnis zu stillen hatten, um nicht selber etwas wollen zu müssen. 

Das ist der springende Punkt, der auch Konersmann entgangen ist: Das autonome bürgerliche Subjekt ist aus der vormaligen metaphysischen Überbehaustheit hinausgetreten, aber im Freien hätte es sich auf den Weg machen und sich selber die Richtung geben müssen. Iche statt bloß Selbste, wie ein Unternehmer, wenn ich so sagen darf, aber Unternehmer wurden die wenigsten, die meisten wurde wegen mangelnder Mittel unternommen, und schließlich wurden auch die paar Unternehmer zu bloßen Geldkratzern; und zu Couponschneidern am Ende, an ihre Stellen im Betrieb trat - der Manager, der Busybody, und unter deren Ägide wucherte die Angestelltenzivilisation; mit Burnout auf der einen, Jing und Jang auf der andern Seite. Schön wär's ja, wenn sie Anlass zu philosophischem Tiefsinn böten. Sie bieten aber nur Anlass, die passenden Angebote auf den Markt zu bringen. Ich meine auch gedankliche Angebote, Herr Konersmann.
JE

Montag, 4. Mai 2015

Das Gehirn ist ein Schwamm.

aus derStandard.at 4. Mai 2015, 08:15

Neuropsychologin: 
Mitgefühl ist trainierbar wie ein Muskel
Max-Planck-Forscherin Tania Singer: Unser Verhalten basiert nicht nur auf Kosten-Nutzen-Rechnungen

Leipzig - Mentales Training kann das Gehirn selbst verändern: Diesen Schluss zieht die Neuropsychologin Tania Singer vom Max Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig aus den Ergebnissen des groß angelegten "ReSource"-Projekts. 160 Menschen wurden von ihr Monate lang täglich in Stressreduktion, Achtsamkeit und Mitgefühl "trainiert".

"Das Gehirn wird oft missverstanden - als biologisch und genetisch festgelegt", sagt Singer. "In Wahrheit ist es wie ein Schwamm, ein Abbild unserer Lernprozesse." Die neuronalen Netzwerke, die man als zuständig für soziales Erleben und Verhalten identifiziert hat, können durch gezielte Übungen gestärkt werden, ähnlich wie ein Muskel.

Das Projekt

Nicht zuletzt ein hoch dotierter EU-Forschungspreis (ERC-Starting Grant) machte es möglich, diesen Trainingseffekt umfassend zu untersuchen: Mehr als 100 Mitarbeiter, darunter 20 Forscher und 20 Lehrer wirkten in den vergangenen zwei Jahren daran mit, die Probanden zu schulen, zu befragen und zu testen. Tägliches mentales Training in drei Modulen zu je drei Monaten absolvierten die Teilnehmer - von der "säkularen Meditation" über "empathisches Zuhören" bis zur "kontemplativen Dyade" - und in ihren körperlichen und geistigen Entwicklungen beurteilt.

"Unser Ansatz ist multi-methodisch, für jedes Konstrukt haben wir verschiedene Maße", so die Direktorin des Max Planck-Instituts. "Subjektiv und objektiv, bewusst und unbewusst", Fragebögen und Beobachtungen, implizite Computerspiele und ökonomische Gruppenspiele, nach jedem Modul eine Kernspintomografie, die sowohl strukturelle wie funktionelle Parameter des Gehirns darstellt. "Wir beobachten dabei das ganze Gehirn", sagte Singer. Die emotionalen und die kognitiven Komponenten des "sozialen Gehirns" - also Empathie und Mitfühlen auf der einen und die Perspektivübernahme auf der anderen Seite - sind dabei klar voneinander zu trennen und werden auch mit unterschiedlichen Übungen trainiert.

"Für jedes einzelne dieser neuronalen Netze konnten wir die Veränderungen beobachten." Abschluss und Publikation der Ergebnisse stehen noch aus, doch klar ist für die Forscherin schon jetzt: "Es hat super geklappt." Das soziale Gehirn erweise sich als höchst plastisch, das Training schlage an. Parallel zu den neuronalen Änderungen spielen sie sich aber auch auf anderen Ebenen ab, die bei "ReSource" gleichberechtigt erfasst werden, darunter das subjektive Empfinden, der Hormonhaushalt, das Immunsystem und natürlich das Verhalten.

Nicht immer stimmen die Maße überein, so schätzen sich manche in Fragebögen als besonders prosozial ein, ohne dass dies in objektiven Maßen zu beobachten wäre, berichtet Singer. Subjektiv lässt sich durch das Training auch die Stressreduktion schon früher wahrnehmen, als dies auf der hormonellen Achse zu bestätigen ist. Doch insgesamt bewegen sich Körper, Geist und Verhalten gemeinsam hin zum "besseren" Menschen: der mitfühlt, sich hineindenkt, kooperativ, achtsam und präsent ist - und glücklicher.

Biologische Grundlagen

Stellt sich die Frage: Sind wir diese guten Menschen - oder müssen wir uns dazu machen? Ihre nächstes großes Projekt will Singer Kindern widmen, um herauszufinden, wann und wie diese prosozialen Eigenschaften sich entwickeln. "Grundsätzlich hat jeder ein 'care' und 'affiliation system', sogar Ratten." Das Sich-kümmern und Sich-verbunden-fühlen ist evolutionär notwendig und wird etwa in der Forschung zum Bindungshormon Oxytocin auch im Tierreich beobachtet. "Das ist nichts Esoterisches", betont Singer. "Diese grundsätzlichen biologischen Motivationssysteme gibt es, darauf bauen wir auf."

Dass bei einer Mutter, die ein Foto ihres Neugeborenen sieht, neuronale Muster von Fürsorge aktiviert werden, ist biologisch angelegt. Doch Singer will mehr und spricht von "globalem Mitgefühl". Mitgefühl also mit Menschen, die man nicht kennt, die man vielleicht sogar ablehnt, weil sie nicht zur eigenen Religion oder Ethnie gehören. "Um dieses Ingroup-Outgroup-Verhalten zu überwinden braucht man wahrscheinlich neokortikale Strukturen ", so Singer, also solche, die Verhaltenskontrolle ermöglichen. Und man braucht, davon ist die Forscherin überzeugt, ein anderes Menschenbild, auch und gerade im Wirtschaftsleben.

Ökonomische Sicht "völlig veraltet"

"Das Rückgrat der Makroökonomie - das Modell des Homo Economicus - ist völlig veraltet", betont Singer. Die Annahme, dass der Mensch vor allem nach seiner eigenen Kosten-Nutzen-Rechnung funktioniert und sich am Befriedigen seiner Bedürfnisse orientiert, lasse "zahlreiche Motivsysteme außer Acht" und bedeute eine "extrem einseitige Sicht der menschlichen Natur". Status- und Machtmotivation, Aggression und Angst, aber eben auch Fürsorge und Zugehörigkeit können mindestens genauso starke Motive für Handlungen sein - "gleichzeitig können Sie bei jeder Person zu jeder Tageszeit wechseln".

Welche dieser Potenziale von einer Gesellschaft verwirklicht werden, sieht Singer als Resultat eines gemeinsamen Verstärkungsprozesses, in den man durchaus eingreifen könnte. "Wir könnten uns von einer individualistischen Gesellschaft zu einer kooperativen bewegen." Gemeinsam mit dem Mathematiker Dennis Snower hat Singer deshalb "Caring Economics" ins Leben gerufen. Neue Modelle menschlichen Entscheidungsverhaltens werden dabei entwickelt, aber auch konkrete Vorschläge dafür, wie die Institutionen einer solchen "fürsorglichen Wirtschaft" aussehen müssten. (APA/red) 

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Samstag, 2. Mai 2015

Textur.

aus nzz.ch, 28.4.2015, 05:30 Uhr

Stichwort
«Text»

von Klaus Bartels

«Zwar ist's mit der Gedankenfabrik / wie mit einem Weber-Meisterstück, / wo ein Tritt tausend Fäden regt, / die Schifflein herüber hinüber schiessen, / die Fäden ungesehen fliessen, / ein Schlag tausend Verbindungen schlägt . . .» So empfiehlt Mephistopheles «in Fausts langem Kleide» dem schüchternen Erstsemester zunächst einmal das klassische Collegium Logicum mit seinem festen Gefüge von «vorausgeschickten» Prämissen und daraus «erschlossenen» Konklusionen. Wer heute diese Verse aus Johann Wolfgang von Goethes poetischem Studienführer vor Augen bekommt, könnte leicht meinen, sie deuteten auf ein allerjüngstes Collegium Neurophysiologicum mit seinem unentwirrbaren Gewebe von verzweigten Neuronen und «verbindenden» Synapsen.

Drei Kettfäden

Unsere «Gedankenfabrik» – eine klappernde, ratternde Weberwerkstatt, ein Text wie dieses «Stichwort» hier –, ein buntes Gewebe aus Kette und Schuss: Das handwerkliche Bild ist in der Spätantike aufgekommen und seither unter dem bildhaften Wort «Text» so selbstverständlich geworden, dass wir das Bild im Wort gar nicht mehr wahrnehmen, dass wir unter einem «Text» nichts weiter als eine Folge alphanumerischer Zeichen verstehen. So viele tausend Fäden ein Tritt da auch regt, so viele Verbindungen ein Schlag da auch schlägt: Zwischen den «Texten», die der Werbetexter für die neue Sommerkollektion textet, und ebendiesen «Textilien» schiesst in unserem Sprachzentrum kein flinkes Gedankenschifflein mehr hin und her.

Die drei reissfesten Kettfäden, die hier aus dem alten Latein über zwei, drei Jahrtausende bis in die neuen Sprachen durchlaufen, sind zunächst das Verb texere, «weben, flechten», mit dem Partizip Perfekt Passiv textus, «gewoben, geflochten», sodann das Substantiv textus mit dem lang auslautenden Genitiv textus, «Gewebe, Geflecht», das in unserem Euro-Wortschatz einzig noch in der vom Stofflichen aufs Sprachliche übertragenen Bedeutung fortlebt, und schliesslich das Adjektiv textilis, «gewoben, geflochten», dessen Neutrum Plural textilia zu unseren «Textilien» und in der Fachsprache der Branche zu einer Vielzahl von «Textil»-Komposita geführt hat.

Cicero und andere

Soweit wir sehen, hat im ersten vorchristlichen Jahrhundert der grosse Webermeister Marcus Tullius Cicero als Erster zunächst das Verb texere vereinzelt aufs Schreiben übertragen. Anders als eine gerichtliche oder politische Rede, bemerkt er in einem Freundesbrief, «pflegen wir Briefe mit alltäglichen Worten, in alltäglicher Sprache zu weben». Ein Jahrhundert später hat der Star-Rhetor Quintilian dann auch das Substantiv textus einmal auf den fortlaufenden «Text» eines Satzgefüges im Gegensatz zu seinem kunstvoll rhythmisierten Abschluss bezogen. Mehrfach und schon ganz geläufig erscheint die Übertragung in der spätantiken Zeitgeschichte des Ammianus Marcellinus. Einmal geht es da um eine niederträchtige Fälschung: Da wird der unverfängliche Wortlaut eines Empfehlungsschreibens bis auf die Unterschrift mit einem feuchten Schwämmchen ausgewischt und stattdessen ein hochverräterischer textus eingesetzt. Die wiederholte Wendung «Hier müssen wir wieder zum textus zurückkehren», mit der Ammianus Marcellinus sich von einer Abschweifung zum Hauptstrang der Darstellung zurückruft, wirft ein Licht auf den Vergleichspunkt: Es ist der fortlaufende, festgefügte Zusammenhang der Gedanken und Bezüge, der den Text zum «Text» gemacht hat.

Weber und Spinner

In den anderthalb Jahrtausenden seither ist alles Geschriebene zum «Text» geworden, und wie im Allgemeinen von der elektronischen Datenverarbeitung, so sprechen wir heute im Besonderen von einer elektronischen Textverarbeitung. Wer will, mag sich jetzt von der klappernden Tastatur nostalgisch an den klappernden, ratternden Webstuhl, von der unermüdlich hin und her laufenden Maus an jene «herüber hinüber» schiessenden Weberschifflein von Goethes Mephisto erinnern lassen. Aber jedenfalls können wir textenden Texter uns freuen, dass die Sprache mit ihrer so ungleichen, ungerechten Einschätzung des Spinners und seiner Spinnerei auf der einen und des Webers und seiner Weberei auf der anderen Seite uns doch den besseren Teil zugehalten hat.


Freitag, 1. Mai 2015

"Das Bewusstsein hat seinen Ort einzig im subjektiven Erleben des Menschen."

<Aufnahme eines Gehirns.
aus Tagesspiegel.de, 27.11.2014 09:07 Uhr                               Sitzt da die Seele?

"Wie das Gehirn die Seele macht"
Im Wirbel der Neuronen
Bestimmt das Denken unser Fühlen oder ist es umgekehrt? Die Hirnforscher Gerhardt Roth und Nicole Strüber über das Ich-Gefühl und die Autonomie des Geistes.

Herr Roth, vor sieben Tagen habe ich aufgehört zu rauchen und vorgestern wieder angefangen. Würden Sie in einer MRT-Röhre sofort sehen, dass ich nicht lange durchhalten werde?

Gerhard Roth: Zumindest hätte ich auf dem MRT-Bild gesehen, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass Sie wieder anfangen. Wenn Sie tagelang nicht geraucht haben und ich Ihnen eine Schachtel Zigaretten zeige, wird Ihr Nucleus accumbens regelrecht überflutet. Das ist das Suchtzentrum im Gehirn. Auch Alkohol-, Drogen- oder Spielsucht werden hier sichtbar. Komplexes wie eine bipolare Depression kann man im Kernspin hingegen nicht so ohne Weiteres diagnostizieren.

Und wie sieht auf dem Hirnscan die Seele aus, die – dem Titel Ihres neuen Buches „Wie das Gehirn die Seele macht“ zufolge – vom Gehirn gemacht wird?

Roth: „Die Seele“ sehen wir nicht. Aber man kann durch EEG-Messungen feststellen, ob wir eine bewusste Wahrnehmung haben oder nicht. Daneben lassen sich neurochemische und elektrophysiologische Prozesse nachweisen, deren Zusammenspiel das bedingt, was unter „Seele“, „Psyche“, „Geist“ verstanden wird.

Frau Strüber, wenn die Hirnchemie unsere Seele bedingt, was bedingt dann unsere Hirnchemie?

Nicole Strüber: Wir werden durch Gene und Umwelteinflüsse geprägt. In den 70er Jahren hielt man die Umwelt für den entscheidenden Faktor, später hieß es, alles liegt in den Genen. Jetzt wissen wir, dass Umwelteinflüsse sich auf Gene auswirken. Bei diesen epigenetischen Veränderungen werden nicht die Gene selbst modifiziert, sondern nur der sogenannte Expressions-Apparat. Dadurch können DNA-Sequenzen stillgelegt werden.

Wie können sich diese epigenetischen Veränderungen konkret auswirken?

Strüber: Ein Mensch, der eigentlich beste Erbvoraussetzungen für eine ausgeglichene Persönlichkeit mitbringt, wird durch Gewaltverbrechen oder Naturkatastrophen schwer traumatisiert. Der Schaden am Expressionsapparat der Gene kann an die nächste Generation vererbt werden. Eine Frau, die 9/11 miterlebt, wird unter Umständen ein Kind mit einer angeborenen Neigung zu psychischen Problemen zur Welt bringen.

Heißt das, dass sich bereits vor der Geburt entscheidet, ob und wie sehr ein Mensch zu psychischen Erkrankungen neigt?

Roth: Keinesfalls. Ungünstige Erbanlagen können durch Fürsorge und Zuwendung in den ersten Lebensjahren wieder wettgemacht werden. Ob genetische Vorbelastung zum Problem wird, hängt von der frühkindlichen Bindungserfahrung ab.

Strüber: Das beste Beispiel für diese Erkenntnis ist einer unserer Kollegen – ein Neurowissenschaftler, der sich mit Gehirnen psychopathischer Krimineller beschäftigt hat. Er hatte einen Hirnscan auf dem Schreibtisch, bei dem er dachte: das ist das Musterbild eines Psychopathen-Gehirns. Dann stellte er fest, dass es sich um sein eigenes Gehirn handelte.

Eine ziemlich unerfreuliche Feststellung.

Strüber: Sein Stammbaum, den er daraufhin erforschte, gibt auch keinen Anlass zur Heiterkeit. Unter seinen Vorfahren waren mehrere, teils sehr grausame Mörder. Auf Nachfrage haben ihm Mitarbeiter bestätigt, dass er tatsächlich über Charaktereigenschaften verfügt, die für Psychopathen typisch sind: er besitzt kaum Einfühlungsvermögen, ist relativ rücksichtslos und scheint Angst nicht zu kennen. Aber er ist nie straffällig geworden. Trotz der Erbanlagen hat er sich nicht zum pathologischen Psychopathen entwickelt, sondern „nur“ zu einem emotionsarmen, erfolgreichen Wissenschaftler.

Und das liegt daran, dass er als Kleinkind ausreichend Zuwendung erfahren hat?

Strüber: Im Wesentlichen ja.

Was können wir später noch ausrichten, wenn diese Gen-Umwelt-Prägung besonders unglücklich ausgefallen ist?

Roth: Schwierig. Unser Denken, Fühlen und Handeln wird dadurch bestimmt.

Klingt nach einer klassisch reduktionistischen Position.

Roth: Ist es aber nicht. Denn wir „reduzieren“ den Geist nicht auf Vorgänge im Gehirn. Wer das behauptet, hat von Möglichkeiten und Grenzen der Neurobiologie keine Ahnung. Das Bewusstsein hat seinen Ort einzig im subjektiven Erleben des Menschen, so sehr es an das Geschehen zwischen Neuronen und Rezeptoren gekoppelt ist. Aber für das Mentale gelten, abgesehen von den Naturgesetzen, gewisse Eigengesetzlichkeiten. Deshalb sagen wir, dass dem Geist eine „Teilautonomie“ zugesprochen werden muss.



Wie äußert sich diese Teilautonomie?

Roth: Das Gehirn produziert eine psychische Welt. Darin gibt es Zustände wie das Ich-Gefühl oder die gezielte Aufmerksamkeit. Diese teilautonomen Zustände wiederum wirken auf die naturgesetzlich bestimmten Abläufe im Gehirn zurück. Wenn wir uns stark konzentrieren oder meditieren, verändert sich auch etwas in unserem neuronalen Netzwerk. Das kann man ebenfalls zuverlässig mit wissenschaftlichen Methoden nachweisen.

Angenommen, man könnte nach meinem Tod das Gehirn in allen Details rekonstruieren – würde mein Ich wieder auftauchen?

Roth: Theoretisch wäre das möglich. Aber selbst wenn alle Bioelemente und die avancierteste Technik zur Verfügung stünden – es würde 3000 Jahre dauern, bis man Ihr Gehirn nachgebaut hätte.

Hört sich trotz der langen Wartezeit nach einer echten Zukunftsperspektive an.

Strüber: Bedenken Sie aber: Jedes Ich verändert sich im Sekundentakt, weil im Gehirn ständig unfassbar viel passiert. Man steigt nie zweimal in denselben Fluss. Die Frage wäre: An welchem Moment Ihres Lebens tauchen Sie als Person wieder auf?

Roth: Strenggenommen wären es auch nicht Sie, die wieder auftaucht. Es wäre zwar ein Individuum mit Ihren Erfahrungen, Erinnerungen und Prägungen. Jemand, der behauptet Sie zu sein. Aber Ihre 3000 Jahre jüngere Doppelgängerin wäre nicht identisch mit Ihnen.

Das Thema Wiederauferstehung bleibt vorerst offenbar Glaubenssache. Wo lassen sich neurowissenschaftliche Erkenntnisse mit greifbarerem Nutzen anwenden?

Roth: Etwa vor Gericht. Selbstverständlich sollte ein Hirnscan niemals den alleinigen Ausschlag für eine Verurteilung geben. Man hat inzwischen aber gesehen, was für dramatische Folgen ein fehlerhaftes psychologisches Gutachten haben kann. Der Fall Gustl Mollath hätte womöglich durch zusätzliche neurologische Überprüfung vermieden werden können.

Strüber: Im Buch konzentrieren wir uns auf psychische Krankheiten außerhalb des Gerichtssaals. Therapeutische Hauptströmungen etwa werden noch immer vom Dogma beherrscht, das Denken bestimme das Fühlen. Folgt man neurobiologischen Erkenntnissen, ist das Gegenteil der Fall. Trotzdem baut Kognitive Verhaltenstherapie noch immer darauf, Patienten durch (Selbst-)Erkenntnis zu heilen.

Ist es dann nicht erstaunlich, dass so viele Menschen überzeugt sind, dass die Kognitive Verhaltenstherapie bei ihnen zur Besserung geführt hat?

Roth: Das ist es ganz und gar nicht. Es wird häufig von der offiziellen Lehrmeinung abgewichen. Und je weniger kognitiv der Ansatz, umso effizienter die Behandlung.

Strüber: Ein entscheidender Faktor für den Erfolg der Behandlung ist die „Therapeutische Allianz“. Im besten Fall passiert hier zwischen Therapeut und Patient etwas Ähnliches wie während der ersten Bindungserfahrung zwischen Mutter und Kind. Das Hormon Oxytocin wird ausgeschüttet. Es hemmt das Stresssystem und fördert die Fähigkeit zur Selbstberuhigung. Wenn die Neurochemie zwischen beiden stimmt, ist die Methode fast schon zweitrangig.

Das Gespräch führte Marianna Lieder.

Gerhard Roth/Nicole Strüber: Wie das Gehirn die Seele macht. Klett-Cotta, Stuttgart 2014. 426 Seiten, 22, 99 €.


Nota. - Bingo, Herr Professor Roth: "Das Gehirn produziert eine psychische Welt"! Und die nennt man Ich und Bewusstsein. Der springende Punkt ist aber der: Nur in unserm Bewusstsein - auch dem des Naturfor- schers - gibt es ein Wissen davon, "wie die Welt wirklich ist". Es ist wie seinerzeit im Philosophischen Quartett bei Safranski und Sloterdijk: Mit einem souveränen Teilrückzieher auf einem, wie es schien, Nebenkriegsschauplatz haben Sie unversehens das ganze Feld geräumt.
JE