Sonntag, 17. Mai 2015

Pascal, die Unruhe, die Zerstreuung, das bedürftige Selbst und das setzende Ich.

Wer Zerstreuung sucht, kann in den Sog der Zeit geraten; in ihm sind Zielpunkte optische Täuschungen, die vorbeirasen. aus nzz.ch, 26.4.2015, 05:30 Uhr

Die Neuzeit und die Kultur der Unruhe
Das Gesumm der menschlichen Dinge
Wer Zerstreuung sucht, kann in den Sog der Zeit geraten; in ihm sind Zielpunkte optische Täuschungen, die vorbeirasen.

von Ralf Konersmann

Mit dem jahrtausendealten Ideal der Ruhe hat nicht erst die allerjüngste Moderne gebrochen. Es war die Neuzeit, die die Ruhe als Lethargie unter Verdacht stellte und die Unruhe zum Prinzip erkor. Der Philosoph Blaise Pascal war der illusionslose Beobachter jener Zeitenwende.

Seit rund sechzig Jahren klagen die Menschen über Stress, seit der Jahrtausendwende über Burnout. Die Diagnosen seien unscharf, heisst es von fachmedizinischer Seite, und so werden die Beschreibungen der Krankheitsbilder fortlaufend nachjustiert. Dennoch erfüllt gerade die Vagheit ihren Zweck. Nicht nur gibt sie der diffusen Unzufriedenheit vieler Einzelner einen Namen, sie verleiht auch dem Zeitalter ein Gesicht, in dem das Empfinden der Unruhe zur Massenerscheinung geworden ist. Burnout und Stress gelten, wie vor hundert Jahren die Nervosität, als Zeichen der Zeit.

Aberwitz der Situation

Es ist interessant zu sehen, wie viel Aufmerksamkeit die Symptomatologie der Aufmerksamkeitsstörungen in diesen Jahren erfahren hat. Seit der Popularisierung des Stresses rollen die schnellfertigen, schon im Blick auf ihre Medientauglichkeit gestellten Diagnosen in Wellen über das Publikum hin, um von dort auf die Wissenschaften zurückzuwirken und die Aktivitäten der Forschung anzuheizen. Ganze Burnout- und Wellness-Industrien sind entstanden und schlachten das Thema weidlich aus. Dabei ist der Aberwitz der Situation mit Händen zu greifen: Die Erscheinungsformen des Stresses und die Betriebsamkeit der Stressbekämpfung sind einander im Lauf der Jahre immer ähnlicher geworden.

Die auf rasches Handeln eingestellte Diagnostik und damit verbunden die Erwartung, die Missstände zügig in den Griff zu bekommen, halten die Beteiligten dazu an, die Unruhe auf handliches Format zu bringen. Der methodische Zugriff trübt den Blick für die Selbstbetroffenheit derer, die mit routinierter Entschlossenheit auf die Unruhe reagieren. Und doch vermittelt gerade diese Betroffenheit der Akteure einen Eindruck davon, wie weitläufig die Phänomenwelt der Unruhe tatsächlich ist. Die Unruhe ist nicht lediglich ein Krankheitsbild unter vielen, sondern, weit darüber hinaus, die Schauseite unserer kulturellen Normalität.

Gewiss, der Westen hat viele Gesichter und pocht auf ausweisbare «Werte». Doch zu diesen Werten gehört neben den Proklamationen und feierlichen Erklärungen auch das, was in den Kellerregionen des halb Gewussten und halb Gefühlten zu Hause ist: der Untergrund des gemeinsam Geteilten. In diesen Regionen der Fraglosigkeit und des nur allzu Selbstverständlichen siedelt die Unruhe. Mit dem Schritt in die Neuzeit begann die westliche Kultur, sich die Unruhe in den Sehnsuchtsbildern des Fortschritts und des Neumachens auszumalen, und diesen Bildern ist sie bis heute treu geblieben. Nichts ist dafür bezeichnender als die blinde Wertschätzung des Dynamischen, des Modernen, des Mobilen und Flexiblen. Diese Kultur, die niemanden in Ruhe und nichts auf sich beruhen lassen kann, ist im umfassendsten Sinn dieses Wortes die Change-Kultur.

Das Neue der Neuzeit war die Bejahung der Unruhe, nicht jedoch das Empfinden der Unruhe selbst. Am Anfang dieser weit zurückreichenden Geschichte stand eine klare und unmissverständliche Hierarchie, die sich in der Wortgestalt der «Un-Ruhe» bis heute erhalten hat. Die Unruhe beginnt ihre Karriere als Ausdruck der Vorenthaltung, als Zeichen der Vertreibung aus der Ruhe des Paradieses. Im Deutungsgefüge des religiösen Mythos verweist die Unruhe auf ein ontologisches Gefälle, das für die Lage des Menschen überhaupt bezeichnend ist. Die christlichen Autoren und allen voran Augustinus ergründen das «unruhige Herz» des Menschen und legen ihm nahe, den Lebensweg durch die Strapazen der Unruhe als einen Prozess der Läuterung anzulegen. Die Unruhe erscheint als der Inbegriff jener Zustände, die der Gläubige überwinden muss.

Pascals Analytik der Zerstreuung

Die Neuzeit hält an der Vorstellung des ontologischen Gefälles fest, denn auch für sie ist die Welt so, wie sie ist, nicht hinnehmbar. Anders jedoch als die klassischen Tugendethiken richtet sie die Veränderungseuphorie, statt auf die Seelen der Menschen, auf die Welt selbst. Die jahrtausendealte Orientierung am Ruhe-Ideal entfällt. Die ganze Rhetorik der Neuzeit ist darauf aus, die Ruhe als Lethargie, als Langeweile und Stillstand unter Verdacht zu stellen. Im Gegenzug gibt sie die Unruhe frei: als «Geschichte» und «Entwicklung» der Menschheit, als «Prozess» der Zivilisation.

Genau an diesem Wendepunkt der Unruhe-Semantik hat sich vor rund dreihundertfünfzig Jahren der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal zu Wort gemeldet. Pascal sieht die Neuzeit auf dem offenen Meer der Zufälle und der Zusammenhanglosigkeit dahintreiben: im Zustand der Zerstreuung. Mit der Ruhe, schreibt er, hat die Welt ihr Mass verloren. Pascal konstatiert nicht nur die Zeichen eines tiefen und beispiellosen Wandels; hinzu kommt, dass die Neuzeit ausserstande scheint, sich der Herausforderung der Stunde zu stellen, ja sie auch nur wahrzunehmen.

Während die Aufklärer überzeugt waren (voller Empörung wird Voltaire diesen Gedanken in seiner Abrechnung mit Pascal noch einmal bekräftigen), dass der mit der Schwächung des Glaubens aufgetane Freiraum der Vernunft zugutekommen werde, sieht Pascal die Menschen vor den Anforderungen des selbstbestimmten Lebens in die Zerstreuung fliehen: in Ablenkung und Amüsement. Die Analytik der Zerstreuung hat den Blueprint geliefert für das Jahrhunderte später gesprochene Urteil über den Traumkitsch der «Kulturindustrie».

Die Logik der Zerstreuung macht aus der Unruhe ein Versprechen. Es ist die Zerstreuung, die die Menschen vor jener Panik bewahrt, die sie befällt, wenn sie, mit dem berühmten Bild aus Pascals «Pensées», ruhig in einem Zimmer bleiben sollen. Die äussere Unruhe der Zerstreuung macht es uns leicht, die innere Unruhe der Langeweile zu vergessen. Um diese Ausweichbewegungen zu illustrieren, verweist Pascal auf die Lockungen des Schauspiels und des Spielens überhaupt, auf das Geschwätz und das pausenlose Gerede, auf den Tanz und die Jagd.

Der ganze Aufwand des bunten Treibens dient der Manipulation der Zwecke sowie dem Bestreben, die Kunstgriffe des Nichtwahrhabenwollens verborgen zu halten. Und ist nicht gerade das Jagen verräterisch? Nichts erschiene den Teilnehmern einer Jagdgesellschaft abwegiger als der noch so gutgemeinte Versuch, ihnen den Aufwand des Beutemachens zu ersparen und einfach ein gekauftes Stück Fleisch zu überreichen. Mit diesem Gedankenexperiment legt Pascal die Struktur der Zerstreuung frei. Exemplarisch tritt im Jagen die Bedürfnislage eines Wesens zutage, das, so Pascal, «das Getümmel und die Aufregung lieben gelernt hat».

Die Zerstreuung ist weder Wahrheit noch Irrtum, sondern ein Gift. Auf den ersten Blick mögen derlei Enthüllungen sauertöpfisch erscheinen, als ausgesuchte Form der Spielverderberei. Die «Pensées» sind jedoch frei vom Ton des Moralismus und der Bigotterie. Ihr zentraler Gegenstand ist jene soziale, tief in das kulturelle Gefüge eingesenkte Struktur der Übereilungen, die eben dabei ist, sich dieser ganzen Kultur zu bemächtigen und sie zu korrumpieren: einer Kultur, in der es ganz wesentlich darauf ankommt, unablässig beschäftigt, dauernd unterwegs und in Gedanken immer schon beim nächsten Thema zu sein.

Kein Traditionalismus

Als Erster überhaupt hat Pascal die Physiognomie einer Kultur beschrieben, die sich der Unruhe ergeben hat – einer Kultur also, die die Unruhe nicht als Problem wahrnimmt, sondern als die Lösung ihrer Probleme. Anders jedoch als die Kritiker der Kulturindustrie weigert sich Pascal, die Verfallenheit an die Unruhe pauschal zu verwerfen. Das Versäumnis der Menschen bestehe nicht darin, argumentiert er, dass sie den Tumult liebten; das wahre «Übel besteht darin, dass sie ihn aufsuchen, als sollte der Besitz der Dinge, um die sie sich bemühen, sie wirklich glücklich machen». Das Spiel mit der Ablenkung ist eine Sache, ihr zu erliegen und sich die Einsicht in die Situation selbst zu verstellen, eine andere. Im Stadium der Verblendung rundet sich das Weltbild und vermittelt den Eindruck einer rastlosen, vor der Wahrnehmung ihrer selbst davoneilenden Wirklichkeit.

Pascal ist kein Traditionalist gewesen, der dem Gesumm der menschlichen Dinge mit angemasster Überlegenheit begegnet wäre. Er war ein illusionsloser Beobachter, der den epochalen Charakter der neuen Zeit, ihren eigenen Anspruch der Beispiellosigkeit, ernster genommen hat als sie selbst. Weit davon entfernt, die Neuzeit zu verurteilen, hat dieser Zeitbeobachter allerdings darauf bestanden, dass die Neuzeit sich der Neuheit, die sie für sich in Anspruch nimmt, auch gewachsen zeigt. Dass sie die Herausforderung der Selbständigkeit und überhaupt der «Weltlichkeit» annimmt und sich die Ausflucht in die Zerstreuung versagt. Dass sie sich selbst als ihr eigenes Projekt erkennt und dass sie begreift, was es heisst, die Ruhe aufgegeben und die Unruhe gewählt zu haben.

Für den Ethnologen der westlichen Kultur hält Pascals Analytik der Zerstreuung noch immer wertvolle Anregungen bereit. Wir machen uns etwas vor, wenn wir, um uns von ihrer Beherrschbarkeit zu überzeugen, die Unruhe auf Formeln wie «Stress» oder «Burnout» herunterdimmen. Solche Begriffe sind rein kosmetisch. In seine frühe Studie über Nietzsche hat Michel Foucault den Satz aufgenommen: «Der Europäer weiss nicht, wer er ist.» Ein Satz wie ein Weckruf, vorgetragen im Ton und im Geist Pascals.

Prof. Dr. Ralf Konersmann lehrt Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Im Mai erscheint bei S. Fischer sein Buch «Die Unruhe der Welt».


Nota. - Gibt es in Kiel keine grünalternativen Biotope? Prof. Konersmann sind sie jedenfalls nicht als irgend typisch für diese unseren Tage vorgekommen. In sich ruhend, ums Wesentliche zentriert, ganz spontan und ganz bewusst und ganz selbstbestimmt lebend, mit den Ressourcen ganz sparsam umgehend, ganz jing und ganz jang und im Lotussitz ganz entspannt in sich hineinhorchend - die sind das Pendant des rastlos stets etwas erledigenden Busybody und genau repräsentativ wie er. Und vor allem: Der Ton, den sie angeben, ist der inzwischen herrschende, die Geschäftigkeit tritt als Hintergrundrauschen zurück. 

So hat Pascal das nicht gemeint? Nein, aber die sind es, deren Applaus Ralf Konersmann erwarten muss, ohne sich beschweren zu dürfen. 

Die Zerstreuten, die Pascal meinte, waren die, die allezeit ein Bedürfnis zu stillen hatten, um nicht selber etwas wollen zu müssen. 

Das ist der springende Punkt, der auch Konersmann entgangen ist: Das autonome bürgerliche Subjekt ist aus der vormaligen metaphysischen Überbehaustheit hinausgetreten, aber im Freien hätte es sich auf den Weg machen und sich selber die Richtung geben müssen. Iche statt bloß Selbste, wie ein Unternehmer, wenn ich so sagen darf, aber Unternehmer wurden die wenigsten, die meisten wurde wegen mangelnder Mittel unternommen, und schließlich wurden auch die paar Unternehmer zu bloßen Geldkratzern; und zu Couponschneidern am Ende, an ihre Stellen im Betrieb trat - der Manager, der Busybody, und unter deren Ägide wucherte die Angestelltenzivilisation; mit Burnout auf der einen, Jing und Jang auf der andern Seite. Schön wär's ja, wenn sie Anlass zu philosophischem Tiefsinn böten. Sie bieten aber nur Anlass, die passenden Angebote auf den Markt zu bringen. Ich meine auch gedankliche Angebote, Herr Konersmann.
JE

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