Donnerstag, 30. Juni 2016

Kakadus denken techno-ökonomisch.

aus nzz.ch, 23.6.2016                               Der Goffinkakadu Cacatua goffiniana lebt auf der indonesischen Inselgruppe Tanimbar 
  
Intelligente Tiere
Kakadus denken techno-ökonomisch
Blitzschnell können Kakadus berechnen, wie sehr sich ein bestimmtes Verhalten für sie lohnt, auch wenn sie gleichzeitig ein technisches Problem lösen müssen.

(apa) Kakadus können gleichzeitig ein technisches Problem lösen und ihren eigenen Vorteil berücksichtigen. Sie können also offenbar komplexe Situationen erfassen und dabei ihren eigenen Nutzen abwägen, dies zeigt eine Studie von österreichischen Wissenschaftern mit indonesischen Goffinkakadus. Dabei hatten die Vögel die Wahl zwischen Cashewnüsse, ihrem Lieblingsfutter, und Pecannüsse, die sie auch gerne fressen, aber schmähen, wenn sie Aussicht auf eine Cashewnuss haben.


Arbeiten oder gleich zuschlagen

Eine der beiden Nüsse lag jeweils auf dem Tisch und war leicht zugänglich. Für die andere mussten die Vögel arbeiten: Sie mussten sie entweder mit einem Stöckchen aus einer Apparatur fischen, oder - bei einer anderen Apparatur - einen Ball einwerfen, damit diese die Nuss freigab. Lag die Cashewnuss auf dem Tisch und war die Pecannuss nur mit Werkzeug (Ball oder Stöckchen) zu bekommen, war die Sache für die Kakadus klar: Sie griffen zu dem bevorzugten und einfach zu bekommenden Futter und ignorierten die bereitliegenden Werkzeuge.

War die Cashewnuss jedoch eingeschlossen und die Pecannuss lag frei auf dem Tisch, wurde die Entscheidung komplizierter. Wenn die Kakadus das passende Werkzeug vor sich hatten, benutzten sie es und holten sich ihre Cashewnüsse meist heraus, ohne sich um die herumliegenden Pecannüsse zu scheren. Hatten ihnen die Forscher aber das falsche Werkzeug hingelegt, gaben sie sich mit den weniger bevorzugten Nüssen zufrieden.

«Die Vögel mussten dabei ihre Entscheidungen flexibel treffen und in Beziehung setzen, was sie mit den Apparaturen in der jeweiligen Situation anfangen können, welches Futter darin ist, und welches sie am Tisch vor sich haben», erklärte Alice Auersperg von der Vetmeduni Wien. Das heisst, die Kakadus mussten technische und ökonomische Faktoren zur gleichen Zeit bedenken und abwägen. Dabei konnten sie offensichtlich auch ihren Impuls kontrollieren, einen sofort verfügbaren Happen zu  naschen, um nach getaner Arbeit und einer unvermeidbaren Zeitverzögerung eine hochwertige Belohnung zu bekommen.

Mit der Weisheit am Ende

Standen aber beide Apparaturen mit jeweils einer anderen Nuss darin am Tisch, und lagen dort auch noch sowohl Ball und Stöckchen herum, waren die Kakadus mit ihrer Weisheit am Ende und konnten das Problem nicht mehr effizient lösen, berichten die Forscher. «Wir vermuten, dass die Tiere durch die Menge der Komponenten, die bei dieser Entscheidung involviert sind, an die Grenzen des 'Arbeitsspeichers' in ihrem Gedächtnis stiessen», so Isabelle Laumer von der Uni Wien in einer Mitteilung der Hochschule.



Geschickt gelöst: Ein Goffin-Kakadu angelt mittels Stöckchen nach der begehrten Nuss.
aus scinexx                                                                                 Ein Goffin-Kakadu angelt mittels Stöckchen nach der begehrten Nuss.

Kakadus denken ökonomisch
Kluge Vögel nutzen Werkzeuge nur dann, wenn es sich lohnt und das Werkzeug passt

Schlau ausbaldowert: Kakadus erkennen sehr genau, ob sich ein Arbeitsaufwand lohnt. Bekommen sie ihre Lieblingsnuss nur, indem sie ein Werkzeug nutzen, lassen sie dafür ein unbeliebtes, aber frei zugängliches Futter links liegen. Ist das angebotene Werkzeug aber das falsche, sparen sie sich die Mühe und begnügen sich mit dem unbeliebteren Futter. Das belegt, wie flexibel und effizient die Vögel ihr Verhalten abwägen, sagen die Forscher im Fachmagazin "Scientific Reports".

Die in Indonesien heimischen Goffin-Kakadus gehören zu den "Schlaumeiern" unter den Vögeln: Immer wieder beweisen sie in Experimenten, dass sie sehr lernfähig, neugierig und überraschend intelligent sind. Geschickt basteln sie sich Werkzeuge, sie beherrschen das Hütchenspiel und knacken problemlos ein fünfteiliges Tresorschloss.

Gute Nuss und schlechte Nuss

Jetzt haben Isabelle Laumer und ihre Kollegen von der Universität Wien eine weitere Fähigkeit der klugen Kakadus aufgedeckt: Sie wägen sehr genau ab, ob sich der Werkzeugeinsatz lohnt und wann es vielleicht sinnvoller ist, sich mit einem weniger leckeren Futterstück zufrieden zu geben.

Im Experiment bekamen die Kakadus jeweils zwei verschiedene Futterstückchen zur Auswahl – eine zum Lieblingsfutter gehörende Cashew-Nuss und eine unbeliebtere Pistazie oder Pecannuss. Der Clou daran: Die unbeliebteren Nüsse waren meist frei zugänglich, die leckere Cashew-Nuss mussten sich die Vögel aber erst durch Einsatz von Werkzeug erarbeiten. Dies funktioniert entweder durch Stochern mit einem Stöckchen oder aber durch eine Murmel, die in eine Röhre geworfen werden musste.


Im Experiment entscheiden sich die Goffin-Kakadus immer für die effizienteste Lösung.

Arbeit nur dann, wenn es sich lohnt 
Wie sich zeigte, hatten die Kakadus klare Präferenzen – und waren dafür durchaus bereit, Arbeit zu investieren. Mussten sie für die Cashew-Nuss das angebotene Werkzeug nutzen, verschmähten sie die unbeliebtere Pistazie auf dem Tisch und werkelten so lange, bis sie die Nuss erhielten. Lag dagegen eine Cashew-Nuss frei zugänglich da, nahmen sie diese und sparten sich die Arbeit.

Die Kakadus passen demnach ihre Entscheidungen flexibel an die Situation an und sind dabei durchaus imstande, auf eine Belohnung etwas länger zu warten, wenn sie sich lohnt. "Die Kakadus können ihre Impulse zugunsten zukünftiger Gewinne unterdrücken, auch wenn Arbeitsaufwand im Form von Werkzeuggebrauch involviert ist", erklären Laumer und ihre Kollegen. "Diese Fähigkeit ist demnach nicht auf Primaten beschränkt."

Durch Einwurf einer Murmel lässt sich das Futter befreien - der Kakadu erkennt sofort, ob sein Werkzeug passt.Durch Einwurf einer Murmel lässt sich das Futter befreien - der Kakadu erkennt sofort, ob sein Werkzeug passt.

Werkzeug nur, wenn es passt 

Aber nicht nur das: Die Kakadus achteten auch sehr genau darauf, ob das auf dem Tisch liegende Werkzeug überhaupt für den "Tresor" geeignet war. War es beispielsweise ein Stöckchen statt der benötigten Murmel und daher nicht zur Befreiung der begehrten Nuss geeignet, ließen die Vögel es links liegen. Stattdessen entschieden sie sich für die unbeliebtere Pistazie, wie die Forscher berichten.

Die klugen Vögel wägen demnach nicht nur ab, wieviel Aufwand ein Futter wert ist. Sie erkennen auch auf Anhieb, ob ein Werkzeug in einer bestimmten Situation überhaupt für den Futtererwerb geeignet ist. Goffin-Kakadus können demnach nicht nur lernen, Werkzeuge zu benutzten und herzustellen, sie setzen sie auch intelligent und flexibel ein.

Das ist umso erstaunlicher, als dass diese Vögel in der Natur gar keine Werkzeuge nutzen. "Ihre Fähigkeiten in diesen Experimenten beruhen daher wahrscheinlich aus einer Kombination von hoher Flexibilität des Verhaltens und einer guten Kontrolle ihrer Impulse und Bewegungen." (Scientific Reports, 2016; doi: 10.1038/srep28380)
(Universität Wien , 24.06.2016 - NPO)


Nota. - Die 'erste historische Tat' sei die Erfindung eines 'neuen Bedürfnisses' gewesen, schrieben Marx und Engels in der Deutschen Ideologie. Die erste historische Tat war die, durch die der Mensch aus dem blinden Naturgesetz heraus- und in seine eigene Geschichte eingetreten ist; un durch die er sich zum Menschen gemacht hat. Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen hieß dann das seinerzeit populärste Pamphlet von Friedrich Engels. Indes, begonnen wird wohl die 'Menschwerdung des Affen' vor der ersten historischen Tat haben, sie hat jene ja erst möglich gemacht. 

Also doch: das Denken. 

'Intelligenz' ist noch ein zu vager Begriff, sie muss ja inzwischen auch vielen Tieren zugeschrieben werden. Doch das Überlegen im Besonderen, das regelmäßige planende Vergleichen der Zwecke mit den Möglich-keiten, das macht ja wohl das Besondere menschlicher Wachheit; es ermöglicht Arbeitsteilung und macht ipso facto elaborierte Kommunikation notwendig; komplexe Sozialstrukturen, regelmäßigen Perspektiven-wechsel, Reflexion. Mit andern Worten, Verstand. Zugrunde liegt immer der Gedanke: Der Mensch muss arbeiten, um zu leben; und so kommen wir zurück zu Engels.

Das stellt der Goffinkakadu nun in Frage. Er tut, was wohl im Besondern menschlichen Verstand auszeich-net: er kalkuliert. 'Wenn ich dies tue, kostet es mich das und ich gewinne jenes; wenn ich jenes tue... usw.' - und er berechnet den größten Nutzen bei geringstem Aufwand. Aber arbeiten tut er nicht.

'Irgendwas tun' muss wohl auch der Kakadu, wenn er sich ernähren will. Und zwar mal dies, mal das, und meistens irgendwie dasselbe, was die Natur ihm angeerbt hat: Er liest auf, was er findet. Wenn wir auch das Arbeit nennen wollten, verlöre das Wort jeden Sinn, denn dann 'arbeiten' alle Lebewesen. Das Spezifische unserer Arbeit ist aber, dass die Menschen die Bedingungen, unter denen es etwas zu findet gibt, selber herstellen müssen. Bedingungen selber herstellen... - so etwas tun die Kakadus hier im Labor auch. Aber nicht, weil sie sich ernähren müssen - das besorgt das Laborpersonal -, sondern weil sie Muße haben, sich um Bonbons zu bemühen. So ist es in der freien Natur nicht, und da benutzen sie auch keine Werkzeuge: Es geht auch ohne.

Die Menschen haben sich aus freien Stücken eine Lebensweise zugelegt, in der sie die Bedingungen ihrer Ernährung selber schaffen müssen. Dass sie kalkulieren können und das Geschick zum Werkzeuggebrauch haben, kann schwerlich die hinreichende Voraussetzung dafür sein, denn all das können die Kakadus auch. Mit andern Worten, das bloße Kalkül und technisch-ökonomischer Verstand sind es nicht, die 'den Affen zum Menschen werden' ließen. Die gehören wohl zu den notwendigen Bedingungen. Aber es muss noch etwas hinzugekommen sein.
JE



Dienstag, 28. Juni 2016

Die Kunst des Gesprächs ist älter als die Regeln der Grammatik.

J. Huber, Les philosophes
aus nzz.ch, 20.6.2016, 12:10 Uhr

Sprachforschung
Warum wir beim Reden so viele Fehler machen
Auch einfache Gespräche folgen ganz bestimmten Regeln, die unser Gehirn zu Multitasking zwingen. Deshalb machen wir beim Sprechen so viele Fehler.

von Katrin Blawat 

Im Aufzug beschwert man sich kollektiv über das schlechte Wetter. Beim Kaffee fragt der Kollege nach den Ferienplänen, und am Abend bespricht man mit dem Partner die Einkaufsliste. Kurze, banale Unterhaltungen machen einen Grossteil unseres sozialen Lebens aus. Und obwohl man es den unvollständigen oder grammatikalisch oft falschen Sätzen nicht anhört, unterliegt dieses Geplauder komplexen Regeln.

Die optimale Pause vor der Antwort

Eine der Knacknüsse dabei ist das sogenannte «Turn-Taking»: Einer spricht, der andere hört zu, bis er mit Reden an der Reihe ist. Es ist eine einfache Benimmregel aus dem Kindergarten, doch für das Gehirn bedeutet es eine enorme Herausforderung.

Normalerweise herrscht bei einem Dialog immer zwischen 150 und 300 Millisekunden lang Stille, bevor der andere das Wort ergreift. «Bei so einer Pause klingt die Unterhaltung flüssig», sagt die Psychologin Antje Meyer vom Max-Planck-Institut (MPI) für Psycholinguistik im niederländischen Nimwegen, wo dieser Aspekt der Psycholinguistik besonders intensiv untersucht wird. Dauere die Pause eine Sekunde oder länger, nehme der andere an, dass sie eine Bedeutung habe oder etwas nicht stimme. Die Zeitspanne von bis zu 300 Millisekunden gilt nicht nur in westlichen Sprachen, sondern auch in anderen Kulturen als optimal.

Multitasking ist gefragt

Allerdings ist diese Zeitspanne für das Gehirn viel zu kurz, um ein Wort, geschweige denn einen ganzen Satz vorzubereiten. Selbst so einfache Aussagen wie «Der Knabe spielt Ball» brauchen schon etwa anderthalb Sekunden, ein einzelnes Wort immerhin noch 750 Millisekunden. Die üblichen Pausen von gerade einmal 300 Millisekunden vor einem Sprecherwechsel reichen also bei weitem nicht aus, um seine eigenen Vorstellungen vom Abendessen zu formulieren.

Lösen lässt sich das Dilemma nur, wenn der Zuhörer seine Antwort gedanklich vorbereitet, während der andere noch spricht. Jeder beiläufige Wortwechsel erfordert also Multitasking vom Gehirn. Dies kostet viel Mühe und ist fehleranfällig. Deshalb machen wir beim Sprechen wohl so viele Fehler, wie Gerard Kempen vom Nimweger MPI und Karin Harbusch von der Universität Koblenz-Landau kürzlich demonstrierten. Die Forscher untersuchten, warum selbst Muttersprachler immer wieder grammatikalisch falsche Kausalsätze bilden, etwa «Ich kann nicht kommen, weil dann arbeite ich».

Dazu analysierten Kempen und Harbusch in einer Datenbank gespeicherte Dialoge, in denen sich zwei Freunde telefonisch verabreden. Dabei achteten die Wissenschafter vor allem auf Kausalsätze, beginnend mit «weil», «denn» und «da». Die meisten Menschen dürften wissen, dass das Verb am Satzende stehen müsste, wenn der Kausalnebensatz mit «weil» eingeleitet wird. Doch wie die Auswertung der Gespräche zeigte, ordneten viele Sprecher die Wörter wie in einem Hauptsatz an – vor allem dann, wenn ihnen nicht genügend Zeit blieb, die vergleichsweise komplexe Kombination aus Haupt- und Nebensatz zu planen. Vermutlich plane das Gehirn den weiteren Verlauf der Antwort noch, nachdem man bereits zu reden begonnen habe, folgern die Forscher.

Immerhin scheinen die Gesprächspartner die Dauer der geteilten Aufmerksamkeit möglichst gering zu halten. Mit der Vorbereitung ihrer Antwort beginnen sie so früh wie nötig, um ein flüssiges Gespräch zu ermöglichen – und so spät wie möglich, um lange zuzuhören. Dies zumindest folgern Antje Meyer und Matthias Sjerps, ebenfalls vom MPI für Psycholinguistik, aus Messungen von Augenbewegungen. Den Blick lenkt ein Mensch meist in die gleiche Richtung wie seine Aufmerksamkeit. In Sjerps' Studie folgten die Probanden den gezeichneten Objekten, die ein Helfer laut benannte, so lange wie möglich, ehe sie ihre Aufmerksamkeit im letztmöglichen Moment auf jene Bilder richteten, die sie selbst benennen sollten. So findet das Gehirn einen Kompromiss in einer Situation, die laut Meyer «schwieriger ist, als man es sich normalerweise vorstellt».

Raten statt zuhören

Je detaillierter die Erkenntnisse der Psycholinguisten werden, als umso grösseres Wunder erscheint jeder Wortwechsel. Warum funktionieren diese Gespräche trotzdem, obwohl sie derart viel Aufwand erfordern? «Wir üben das jeden Tag, deshalb klappt es meistens», sagt Meyer. Hinzu komme eine Art Abkürzung, die das Gehirn nehme, vermutet Stephen Levinson vom Nimweger MPI. Demnach ist es in vielen Situationen gar nicht nötig, den gesamten Satz zu hören, um passend antworten zu können. 

Das gilt sogar für Sprachen wie das Deutsche, in denen das Verb oft erst am Satzende steht. Denn wichtiger als die Wortwahl des Sprechers ist oft der Zusammenhang. Sitzt man beispielsweise im Restaurant und der Kellner nähert sich mit der Weinflasche, spielt es keine Rolle, ob er fragen wird «Darf ich Ihnen noch Wein nachschenken?» oder «Möchten Sie noch etwas Wein?». Schon bei den ersten Worten erkennt der Gast, worum es geht, und kann sich seine Antwort überlegen.

Den Faden verloren

Doch können solche Tricks auch in die Irre führen. Verliert man deshalb den Faden im Redefluss des anderen, braucht es ein SOS-Signal: «Stopp, ich verstehe überhaupt nichts mehr. Bitte alles noch einmal und ganz langsam.» Tatsächlich kennen vermutlich alle Kulturen so einen Hilferuf, um Konversationen zu retten. Im Deutschen ist es die unmissverständliche Frage «Hä?». Das klingt zwar nicht schön, ist aber so kurz und einfach, dass es sich auch in grösster Verwirrung noch artikulieren lässt.


Nota. - Es reicht ein einfaches Gedankenexperiment, um zu erkennen, dass die Sprachen, nämlich ihr Vokabular und ihre Grammatik, aus der Gesprächsführung entstanden sein müssen, und nicht umgekehrt. Nicht erstens, dann zweitens, sondern das andere während und aus dem einen: Die Sprachen werden Jahrhunderttausende gebraucht haben, um einen Grad von Perfektion zu erreichen, der es heutigen Forschern erlaubt, in ihnen Gesetzmäßigkeiten aufzufinden. Das Verständigen war aber schon ganz am Anfang nötig - und sei's mit Händen und Füßen.
JE





Montag, 27. Juni 2016

Symposium "Der Wiener Kreis" in Karlsruhe.



institution logoSymposium »Der Wiener Kreis – Aktualität in Wissenschaft und Kunst« (01.-02.07.2016)

Regina Hock
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe

Aus Anlass der Ausstellung »Der Wiener Kreis. Digitale Logik und wissenschaftliche Philosophie« am ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe veranstalten das Institut Wiener Kreis der Universität Wien, das Institut für Philosophie und das Institut für Technikfolgenabschätzung (ITAS) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) sowie das ZKM vom 1. bis 2. Juli 2016 gemeinsam ein zweitägiges Symposium zur Wirkungskraft und Wirkungsgeschichte des Kreises von der kurzen Epoche seines Bestehens bis hin zur Gegenwart.

Die Impulse des Wiener Kreises (1924–1936) sind bis heute nicht nur in den modernen exakten Wissenschaften wie Physik, Mathematik, der Informatik sowie den Ingenieurwissenschaften allgegenwärtig, sondern haben weit darüberhinaus Disziplinen wie die Ökonomie, die Architektur, die Psychologie oder die Literatur bestimmt. Der Einfluss des Wiener Kreises reicht über die sozialen Fortschrittsbewegungen bis in die moderne Kunst.

Das Symposium behandelt folgende Themenschwerpunkte:

»Der Wiener Kreis – Retrospektive & Gegenwartsrelevanz«
»Der Einfluss des Wiener Kreises auf die modernen Natur- & Technikwissenschaften«
»Politische Philosophie, Ökonomie und Mathematik als Gegenstand des Wiener Kreises«
»Der Wiener Kreis als Inspiration für Kunst, Architektur, Medien und Ästhetik«

Arbeit und Wirken des Wiener Kreises

Der Wiener Kreis spielt in der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts eine maßgebliche Rolle: Die Entwicklungen der Philosophie orientierten sich vielfach am Geschehen in Wien, Prag sowie Berlin und fanden von hier aus ihre Verbreitung. Die Themen des Wiener Kreises wurden rasch von führenden Köpfen und Intellektuellen in Europa und den USA aufgegriffen. Öffentlich zu wirken begann der Wiener Kreis 1924. Die Treffen fanden stets an Donnerstagen im Mathematischen Seminar der Universität Wien in der Wiener Boltzmanngasse statt. Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Land verbreiteten sich auch an der Universität Wien rasch: Durch antisemitische und rassistische Strömungen wurde es für den Wiener Kreis zunehmend schwieriger, öffentlich aufzutreten und zu arbeiten. 1934 starb der Mitbegründer Hans Hahn, im gleichen Jahr ging Otto Neurath ins Exil.

Endgültig endeten die Treffen mit der Ermordung des Gründers Moritz Schlick 1936. Der Philosoph wurde von einem seiner ehemaligen Studenten aus persönlicher und weltanschaulicher Gegnerschaft auf der Philosophenstiege der Universität Wien erschossen. Eine Erinnerungsplakette an der Stelle des Attentats erinnert heute an Schlick. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte der Wiener Kreis an seiner Entstehungsstätte für lange Zeit nicht wieder auf. Seine Ideen fanden jedoch weiter international Anklang. Somit wirkte der Wiener Kreis auch nach dem Krieg fort und prägte die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Weitere Informationen:
http://zkm.de/pressemappe/2016/globale-symposium-der-wiener-kreis-aktualitaet-in...

Samstag, 25. Juni 2016

Ist die Geschichte der Wissenschaft die wahre Geschichte der Menschheit?

aus nzz.ch, 25.6.2016, 05:30 Uhr

Ist die Naturwissenschaft das «Organ der Kultur»?
Menschheitsgeschichte – Wissenschaftsgeschichte
Der Physiologe Emil Heinrich Du Bois-Reymond hat im 19. Jahrhundert die Geschichte der Naturwissenschaft als «die eigentliche Geschichte der Menschheit» apostrophiert. Glauben wir das heute noch?

von Uwe Justus Wenzel 

Wissenschaftlich-technische Zivilisation: Von den in Umlauf befindlichen Epochenbezeichnungen für das, was als «unser Zeitalter» empfunden wird, hat diese – sie ist älteren Datums – noch immer nicht ausgedient. Sie beweist im Gegenteil und dank ihrer sachlichen Spannweite auch neben jüngeren Begriffsschöpfungen wie «Computerzeitalter», «Informationszeitalter» oder «Wissensgesellschaft» ihre fortdauernde und sozusagen unaufgeregte Aktualität. Bereits 1886 ist, von dem Erfinder und Industriellen Werner von Siemens, das «naturwissenschaftliche Zeitalter» ausgerufen worden. Damals, so darf vermutet werden, schwang in der Selbstvergewisserung ein Stolz mit, der unterdessen eher gemischten Gefühlen gewichen ist.

Emil Du Bois-Reymond

Die prägende Kraft der Naturwissenschaften, ihre «Kulturbedeutsamkeit», akzentuierte auf seine Weise auch Emil Heinrich Du Bois-Reymond. Der deutsche Physiologe und Mediziner, der seine eigene Gegenwart als «technisch-induktives Zeitalter» etikettierte, wird zwar heute meist mit seiner berühmten «Ignorabimus»-Rede von 1872 zitiert, in der sich – in feierlichem Ton – eine Selbstbescheidung der Wissenschaft in Anbetracht des «unbegreiflichen» menschlichen Geistes artikuliert: «Ignoramus et ignorabimus – wir wissen es nicht und werden es nicht wissen.»

Doch Du Bois-Reymond hat fünf Jahre später, wiederum in einer populärwissenschaftlich angelegten Rede, die Naturwissenschaft «das absolute Organ der Kultur» genannt und «die Geschichte der Naturwissenschaft» als «die eigentliche Geschichte der Menschheit» apostrophiert. «Eigentlich» darum, weil Staatenbildung und Kriegführung, deren «unerspriesslich einförmigen Wellenschlag» die «bürgerliche Geschichte» spiegele, noch Vorbilder in der «wirbellosen Tierwelt» hätten – wohingegen die Kulturgeschichte (in heutigem gängigem Idiom formuliert) das Alleinstellungsmerkmal der Gattung Mensch sei. Und das Wesentliche der Kultur war für den selbstbewussten Naturwissenschafter eben die fortschreitende wissenschaftliche Erforschung der Natur, die er in jener Rede – seinerseits nun auch nicht ganz unmilitärisch – als «geistigen Eroberungszug» charakterisierte.



Gesetzt, die Geschichte der Naturwissenschaft wäre tatsächlich die «eigentliche» Geschichte, ist dann die Wissenschaftsgeschichte die «eigentliche» Geschichtsschreibung? – Diese Frage darf vielleicht auch deswegen unbeantwortet bleiben, weil nicht wenige Bestrebungen zumindest der neueren Wissenschaftsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsforschung darauf zielen, weitgehende, mithin «absolute» Ansprüche der Naturwissenschaften zu relativieren oder doch zumindest in ihren historischen Kontexten zu situieren. Unlängst stand im Potsdamer Einstein-Forum – apropos «geistige Eroberungszüge» – der «Imperialismus der Naturwissenschaften» zur Debatte. (Der Tagungstitel «Fetishizing Science» markierte recht eigentlich einen zweiten thematischen Fokus.)

Vor bald einem Vierteljahrhundert aus der Taufe gehoben, versteht sich die Einrichtung als dialogisches und interdisziplinäres «Laboratorium des Geistes»; von Anfang an sind die «hard sciences» im kulturwissenschaftlich kritischen Blick gewesen, bereits in den ersten Jahren widmete man sich etwa der «Krise der Objektivität in den Wissenschaften». Als Ausfluss eines «Imperialismus», so konnte der Problemexposition im Tagungsprogramm entnommen werden, erachten die Veranstalter nicht zuletzt auch die Selbstverständlichkeit, mit der seit dem frühen 20. Jahrhundert weithin den Naturwissenschaften – in puncto Wissenschaftlichkeit, Wahrheitssuche, mutmasslicher Ideologiefreiheit – der Vorzug vor den Geisteswissenschaften gegeben worden ist.

Ein «Narrativ»

Die «eigentliche Geschichte der Menschheit», die nach Du Bois-Reymond die Naturwissenschaften schreiben, muss freilich auch tatsächlich geschrieben, sie muss erzählt werden. Solche Erzählungen spielen bei dem kulturbildenden Eroberungszug der Naturwissenschaften eine kaum zu überschätzende Rolle. Dazu hat in Potsdam, ohne das Problem von Du Bois-Reymond her aufzuzäumen, Lorraine Daston interessante Überlegungen beigesteuert. Die Direktorin am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte warf einige Schlaglichter auf ein geläufiges «Narrativ» – auf eine Erzählung, die Naturwissenschaft und Modernität miteinander verknüpft.

Die beiden Hauptelemente der Story: Die Wissenschaft (gemeint ist stets die Naturwissenschaft) wurde im 17. Jahrhundert – Stichwort: scientific revolution – «modern»; die Modernisierung der Welt wurde sodann durch die revolutionierte Naturwissenschaft motorisiert, und zwar dergestalt, dass die Wissenschaft eine «moderne Mentalität» hervorbrachte, die Aufklärung und Fortschritt ermöglichte – und die, ein schöner Nebeneffekt, den Westen vorteilhaft vom Rest der Welt abhob. Als Geschichtenerzähler betätigten sich laut Daston weniger Naturwissenschafter als vielmehr Philosophen und Historiker: insbesondere Alexandre Koyré, Herbert Butterfield und Alfred North Whitehead, deren einschlägige Bücher seit etlichen Jahrzehnten in immer neuen Auflagen gedruckt werden.

Gegenerzählung

Für den Wahrheitsgehalt dieser Erzählung interessierte sich Daston nicht eigens, obgleich sie andernorts (in der gemeinsam mit Katharine Park verfassten Einleitung zum dritten Band der «Cambridge History of Science») die Rede von einer wissenschaftlichen Revolution, die im 17. und 18. Jahrhundert stattgefunden habe, rundweg als «Mythos» taxiert und auf das 19. Jahrhundert als wahre Geburtsstunde der institutionalisierten, der Wissenschaft im heutigen Sinne hingewiesen hat. Allerdings wird der mutmassliche Mythos von der wissenschaftlichen Revolution nicht nur als Erfolgsstory von Aufklärung und Fortschritt erzählt. Daston stellte in Potsdam der «triumphalistischen» Version der Geschichte – gewissermassen als deren nicht eineiige Zwillingsschwester – eine «tragische Version» zur Seite. Diese Version habe mit Max Weber, Georg Simmel, aber auch Henri Bergson ihre ersten prominenten philosophisch-soziologischen Erzähler gehabt und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ihre erste grosse Konjunktur erlebt.

Von kalter Rationalität, von einer Abstraktion, die «echte» Erfahrung verunmögliche, von der allgemeinen Entzauberung der Welt weiss diese «andere» Geschichte der wissenschaftlich-technischen Zivilisation zu berichten. Das – die Bilanzierung der Verluste des Zivilisationsprozesses – unterscheidet sie von ihrer Zwillingsschwester. Was sie mit ihrer Schwester indes verbindet, ist dies, dass sie eine Transformation der Welt durch Wissenschaft als gegeben und als irreversibel voraussetzt. Solche «Narrative», so liess Daston durchblicken, seien nicht falsifizierbar. Sie verlören ihre identitätsstiftende Kraft erst, wenn sie von einer anderen einnehmenden Erzählung ersetzt würden.

Einmal angenommen – ganz möchte man es zwar nicht glauben –, die Frage nach dem Wahrheitsgehalt solcher Menschheitsgeschichten sei tatsächlich zu vernachlässigen: Kommt die Wissenschaftsgeschichte als kulturprägende Erzählerin einer neuen Story in Betracht? Wer weiss. Sie dürfte dann aber wohl nicht nur Geschichten vom Geschichtenerzählen erzählen.


Nota. - Der Siegeszug der Wissenschaften im 17. Jahrhundert sei "das politische Ereignis par excellence" gewesen, schrieb ich andernorts, er hat im Reich der Parteienkämpfe ein - kontinuierlich wachsendes - Feld geschaffen, wo nicht länger der Stärkere entscheidet, sondern der geprüfte Grund

Wenn auch faktisch die Physik die treibende Kraft war, betraf diese 'Wissenschaftliche Revolution' nicht bloß die Naturwissenschaften im Besondern, sondern die Geisteshaltung einer ganzen Zivilisation: Als rational gilt seither nur noch solche Erkenntnis, die eine Erscheinung als Wirkung einer Ursache darstellen kann; und zwar ein geschichtliches Ereignis nicht minder als ein Laborexperiment. Auch politische Probleme sollten seither, so weit irgend möglich, durch Vernunft lösbar sein, ohne Waffen. (Der Aufstieg der Wissenschaften begann nach dem Ende des 30jährigen Kriegs und der englischen Revolution - in der Hoffnung auf ewigen Frieden, nachdem die Religion Ewige Zwietracht gesät hatte.) 

Allerdings beschränkte er sich auf den (seither stets wachsenden) engen Kreis der Gelehrten.

Dass es sich im Besondern um Naturgesetze handeln sollte, wurde erst im Lauf des 19. Jahrhunderts deutlich, als die Siege der Exakten Wissenschaften in Gestalt der technisch-industriellen Revolution auch den Durchschnittsmenschen anzugehen begannen. Dass es für alles einen hinreichend Grund geben müsse, scheidet seither den gesunden Menschenverstand von allen Arten des Irrsinns. (Und seither gewinnen die 'Geisteswissenschaften' ihr eigenes Profil, weil sich sich gegen die 'harten' Fächer legitimieren müssen.) 

Doch das Dogma der Kausalität ist inzwischen zu einem - pragmatisch vertretbaren - Aberglauben des Gesunden Menschenverstands herabgesunken; es begann mit den Revolutionen der Thermodynamik und hat mit der Quantenphysik einen einstweilen Höhe-, aber längst keinen Schlusspunkt gefunden. 

Dass die exakten alias 'Natur'-Wissenschaften an ihren Grundlagen zu zweifeln beginnen, ist löblich, aber auch das mindeste, was man erwarten darf. Nun wenden sie sich in neuer Bescheidenheit an die 'weiche' Philosophie zurück. Wobei sie viel Zeit sparen können, wenn sie sich erinnern, dass die Philosophie ihnen schon vor zweihundert Jahren in Bescheidenheit vorangegangen ist und sich mit Kants Kopernikanischer Wende selber die Schranken gezogen hat, die sie von den Realwissenschaften trennen - und die Realwissen-schaften von ihr! Erkenntnisfortschritt können beide nur erhoffen, wenn sie die Schranken klug beachten und nicht wieder alles miteinander verrühren. Wenn ihr Interesse eben der Andersheit des andern gilt und sie Konsens und Gemeinsamkeit den profanen Alltagsmenschen überlassen.
JE

Freitag, 24. Juni 2016

Die Welträtsel und die Grundlagenphysik.

aus Der Standard, Wien, 22.6.2016

Physiker Gross: "Wir stehen vor der Frage, wie alles begonnen hat" 
Nobelpreisträger interessiert sich für die großen Fragen: Was sind die Grundkräfte der Materie? 

Interview Tanja Traxler

Wien – 1972 war David Gross gerade einmal Anfang 30 und frisch an die Princeton-Universität berufen, als sein erster Dissertant bei ihm anheuerte – ein gewisser Frank Wilczek. Gross, der es prinzipiell bevorzugt, im Team zu forschen statt allein, weihte seinen Studenten sofort in die Probleme ein, die ihn beschäftigten – und die betrafen die Essenz der Physik: Was hält die Materie zusammen? 

Konkret, welche Kräfte wirken zwischen den sogenannten Quarks, aus denen Protonen und Neutronen bestehen? Am Ende langer Rechnungen kamen sie zu einem überraschenden Ergebnis, das unter dem Namen "Asymptotische Freiheit" in die Physikgeschichte einging: Je näher einander die Quarks kommen, desto schwächer wird ihre gegenseitige Anziehung. Wenn sie einander also unendlich nahe kämen, würden sie sich wie völlig freie Quarks verhalten. 

Dieses Prinzip lieferte einen wichtigen Beitrag zur Erklärung der sogenannten Starken Wechselwirkung zwischen den Bestandteilen von Atomkernen. Außerdem führte es zur Entwicklung der Quantenchromodynamik. Gemeinsam mit David Politzer erhielten Gross und Wilczek dafür 2004 den Physiknobelpreis. Nun spricht Gross in Wien über seine preisgekrönte Entdeckung – und Probleme, die ihn heute beschäftigen. 

STANDARD: Sie halten am Mittwoch einen Vortrag zum Thema "Frontiers of Fundamental Physics" – was sind diese fundamentalen Grenzen? 

Gross: Das sind sehr viele. Aber da ich heute nur eine Stunde Zeit habe, werde ich mich auf Hochenergiephysik, Stringtheorie oder andere Theorien konzentrieren, die versuchen, die Bestandteile der Materie und die fundamentalen Naturgesetze zu erklären. Allerdings gibt es viele Grenzen der Physik, die ich nicht besprechen werde – der Titel ist also ein wenig übertrieben. 

STANDARD: Seit über 100 Jahren wird eine "Theory of Everything" gesucht – warum ist es so schwierig, Quantenmechanik und Relativitätstheorie zu vereinheitlichen? 

Gross: Nach der allgemeinen Relativitätstheorie sind Raum und Zeit dynamisch und werden durch die Gravitation bestimmt. Die Quantenmechanik hat ein breiteres Spektrum: Wir glauben, dass sie für alle physikalischen Parameter gültig ist. Wenn man versucht, diese beiden Theorien zusammenzuführen, stößt man auf Probleme – vor allem in Extrembereichen, die experimentell schwer erforschbar sind. 

STANDARD: Sie halten die Stringtheorie, die besagt, dass Materie aus schwingenden Saiten besteht, für einen aussichtsreichen Kandidaten, Quantenmechanik und Relativitätstheorie zusammenzuführen – warum? 

Gross: Wenn man die Quantenmechanik nicht mit punktartigen Objekten entwickelt, sondern von ausgedehnten stringartigen Objekten ausgeht, erscheint die Gravitation viel enger mit den anderen Grundkräften verbunden. Die Stringtheorie könnte außerdem wichtige Beiträge zum Verständnis des Ursprungs des Universums liefern. Wir haben jetzt eine ziemlich gute Vorstellung von der Geschichte des Universums. Das heißt auch, wir sind nun mit der Frage konfrontiert, wie alles begonnen hat. 

STANDARD: Die Relativitätstheorie hat unsere Vorstellung von Raum und Zeit fundamental verändert – welches Raumverständnis liefert die Stringtheorie? 

Gross: Es ist in den vergangenen Jahren immer klarer geworden – zumindest meiner Meinung nach, aber ich denke, dass viele dieser Ansicht sind -, dass Raum und Zeit als emergentes Konzept gedacht werden sollten: Raum und Zeit sind nicht etwas, dass wir direkt erfahren können. Es sind eher Konzepte, die Menschen erfunden haben. Jeder von uns hat in seinem ersten Lebensjahr, in dem sich unser Gehirn entwickelt, ein Modell der physikalischen Realität gebildet. Das ist eine gewaltige Leistung. 

Ich weiß nicht, ob wir sonst irgendetwas so Fundamentales erreichen wie die Entwicklung eines Verständnisses von Raum und Zeit. So haben wir ein Ordnungssystem für Ereignisse, auch wie sie sich verändern. Es könnte sein, dass wir dieses Verständnis in manchen Situationen modifizieren müssen. Bei Extremereignissen wie dem Beginn des Universums müssen wir zu einer Beschreibung ohne Raum übergehen, wo der Raum erst aus dem Quantensystem hervorgeht. Das könnte uns helfen, einige der Paradoxa zu eliminieren, denen wir beim Versuch begegnen, Relativitätstheorie und Quantenmechanik zusammenzuführen. 

STANDARD: Welche Paradoxa sind das? 

Gross: Eines der anhaltenden Paradoxa hat mit Schwarzen Löchern zu tun. In der klassischen Vorstellung sind Schwarze Löcher Regionen im Raum, aus denen kein Licht entkommen kann. Das verletzt allerdings physikalische Prinzipien. Und Schwarze Löcher sind immer noch ein einfaches Problem, wenn man es damit vergleicht, was passiert, wenn wir zurück zum Anfang der Zeit gehen. 

STANDARD: Sie bekamen den Nobelpreis für die Entdeckung eines Prinzips, das "Asymptotische Freiheit" genannt wird – was versteht man darunter, und wie kam es dazu? 

Gross: Das ist eine lange Geschichte. Die Teilchenphysik und der Versuch, das Atom zu verstehen, sind etwa 100 Jahre alt. Man fand heraus, dass Protonen und Neutronen (die Bestandteile des Atomkerns, Anm.) aus gebundenen Quarks bestehen. Wir versuchten also, eine Theorie zu finden, um die merkwürdigen Eigenschaften von Quarks zu verstehen. 

STANDARD: Was ist so merkwürdig an den Quarks? 

Gross: Quarks verhalten sich unterschiedlich von Elektronen: Die Kraft zwischen Quarks nimmt nicht ab, wenn man sie voneinander entfernt. Das ist ein Aspekt der "Asymptotischen Freiheit". Andererseits wird die Kraft schwächer, wenn man sie zusammenführt – auch das ist merkwürdig. Bemerkenswert daran ist, dass dennoch das Gesetz der Kraft zwischen Quarks sehr ähnlich ist wie jenes der Kraft zwischen Elektronen. 

STANDARD: Warum verhalten sich Quarks und Elektronen dann so unterschiedlich? 

Gross: Einer der Gründe dafür ist, dass Elektronen nur eine Ladung haben, Quarks dagegen mehrere, die wir als Farben bezeichnet haben. 

STANDARD: Doch Quarks sind ja nicht tatsächlich rot, blau oder gelb – warum spricht man dennoch von Farben? 

Gross: Zum Spaß! Die drei Farben sind einfach das Label für unterschiedliche Ladungen.  


David Gross (geboren 1941 in Washington, D. C.) erhielt 2004 den Physiknobelpreis. Nachdem er Mathematik und Physik an der Hebräischen Universität von Jerusalem studiert hatte, promovierte er 1966 an der University of California, Berkeley im Bereich der Elementarteilchenphysik. Er war dann an der Harvard University, am Kernforschungszentrum Cern und an der Princeton University tätig. Ab 1996 war er Direktor des Kavli Institute for Theoretical Physics an der University of California, Santa Barbara, wo er bis heute arbeitet. David Gross eröffnet am Mittwoch eine neue Vortragsreihe der Akademie der Wissenschaften und des IST Austria. ÖAW-Festsaal, Dr.-Ignaz-Seipel-Platz 2, 1010 Wien, 18.30 Uhr. Anmeldung unter oeaw.ac.at - derstandard.at/2000039507013-628/Physiker-Gross-Wir-stehen-vor-der-Frage-wie-alles-begonnen

Donnerstag, 23. Juni 2016

Verfolgung und Ermordung des Moritz Schlick .

aus Der Standard, Wien, 22. Juni 2016 

Die Verfolgung und Ermordung des Moritz Schlick
Vor achtzig Jahren wurde Moritz Schlick, das Haupt des Wiener Kreises, erschossen. Die Tat galt bald als Menetekel für den aufkommenden Vernichtungsfeldzug gegen die Vernunft. 

von Karl Sigmund 

Wien – Der 22. Juni 1936 war ein strahlend schöner Tag. Professor Schlick wollte zu seiner Vorlesung – der letzten im Sommersemester. Auf der sogenannten Philosophenstiege im Hauptgebäude der Universität überholte ihn eine hagere Gestalt und streckte ihn mit mehreren Schüssen nieder. Drei davon waren tödlich. Dann wartete der Mörder, ein gewisser Dr. Nelböck, auf seine Festnahme. 

Dieser Johann Nelböck hatte mehr als fünf Jahre zuvor bei Schlick promoviert, mit einer Dissertation über Die Bedeutung der Logik in Empirismus und Positivismus. Das Leben hatte Nelböck nicht verwöhnt: ein Bauernbub aus ärmlichen Verhältnissen, der sich durch Schule und Universität gekämpft hatte. Irgendwann verliebte er sich in eine Studentin namens Silvia Borowitzka. Auch sie schrieb bei Schlick eine Dissertation. Der Titel: Über das Angenehme und das Schöne. Kaum hatte Nelböck promoviert, bezichtigte er Schlick einer Affäre mit der Studentin. Er lauerte ihm vor dem Hörsaal mit gezückter Pistole auf und kündigte an, ihn demnächst zu erschießen. Der Professor erstattete Anzeige. Nelböck wurde in die psychiatrische Klinik eingeliefert. Als "Psychopathen mit bizarren und überwertigen Ideen und homiziden und suizidalen Impulsen" hielt man ihn dort fest. Doch da er sich beruhigte, wurde er nach einigen Monaten entlassen. Er wollte sich aufs Lehramt vorbereiten. 

Personenschutz 

Sofort begann er wieder, Schlick aufzulauern und zu bedrohen. Es kam neuerlich zu Anzeige, Internierung und Freilassung. Schlick musste um Personenschutz ansuchen. Das Rektorat teilte die Sachlage dem Stadtschulrat mit. Damit war für Nelböck keine Anstellung an einer Schule möglich, was ihn in der Vorstellung bestärkte, Schlick wolle seine Existenz vernichten. Und so wurde der weltweit renommierte Professor Schlick, die Verkörperung von Toleranz und Vernunft, fünf Jahre lang von einem Wahnsinnigen bedroht und gestalkt. 

Nelböck schlug sich als mittelloser Privatgelehrter mit Nachhilfestunden durch. Als er schließlich erfuhr, dass er auch für die Abhaltung von Kursen am Volksheim Ottakring nicht mehr infrage kam, war er fälschlicherweise überzeugt, dass wieder Schlick dahinterstecken müsse. So beschloss er zu handeln. 

Nelböcks Tat und die folgende Gerichtsverhandlung lösten einen Sturm im Blätterwald aus. Dass ein Philosoph einen anderen erschießt, hört man nicht alle Tage. Dass Gegensätze philosophischer Natur zu Mordmotiven werden, sei die traurige Sensation des Falles. Nelböck wurde beschrieben als "ein Mann mit einer richtigen Philosophengestalt, kraftlos und ohne jede Haltung" und mit einem schmallippigen Gesicht, das nur durch die "Philosophenbrille" einen Ausdruck bekomme. 

Imageprobleme 

Philosophen haben offenbar Imageprobleme; andrerseits wird ihnen ein "Gesinnungsmord" leichter abgenommen. Das bot sich als Nelböcks Verteidigungslinie an. Gesinnungsmorde waren den Wienern nicht fremd. Zehn Jahre zuvor hatte ein gewisser Otto Rothstock den Schriftsteller Hugo Bettauer erschossen, zwanzig Jahre zuvor der sozialdemokratische Physiker Friedrich Adler den Ministerpräsidenten Graf Stürgkh. So grundverschieden diese Fälle auch waren, beide Täter waren zwei Jahre später wieder auf freiem Fuß. So machte Nelböck philosophische Gründe geltend. Er erklärte: "Im Verhalten Schlicks sah ich die ganze Gewissenlosigkeit seiner Weltanschauung ausgedrückt." 

Ganz kam er damit nicht durch. Das Gericht verurteilte ihn zu zehn Jahren Haft und fasste zusammen: In der Vorstellung des Angeklagten war Schlick der "Räuber seiner Liebe, seines Glaubens und seiner Existenz." Die persönlichen Motive waren in der Überzahl. Immerhin, mit dem "Glauben" war ein Gesinnungskonflikt angesprochen. Das reichte aus, wie sich herausstellen sollte: Auch Nelböck kam nach zwei Jahren frei. Der "Anschluss" machte es möglich. Fortan konnte sich Nelböck rühmen, "durch die Beseitigung Schlicks dem Nationalsozialismus einen Dienst erwiesen zu haben." 

Unkonventioneller Ethiker 

Schlick war vor allem als Leitfigur des logischen Empirismus bekannt. Er war der erste Philosoph, der die Bedeutung von Einsteins Arbeiten erkannt hatte, und hatte es als "Einsteins Hausphilosoph" und "Evangelist der Relativitätstheorie" zu höchstem Ansehen gebracht. Das war für seine Berufung nach Wien ausschlaggebend gewesen. 

Nun können Differenzen über den Empirismus kaum Anlass für einen Gesinnungsmord bieten. Aber Schlick war nicht nur Erkenntnistheoretiker, sondern auch Ethiker – mit Gedanken, die auch heute noch unkonventionell sind. Das erste Buch des jungen Berliners hieß "Lebensweisheit. Versuch einer Glückseligkeitslehre". Schlick war gerade fünfundzwanzig, als es erschien. Er kam auf die darin entwickelten Gedanken immer wieder zurück und propagierte zeitlebens einen aufgeklärten Epikureismus. So kam es, dass Schlick nicht nur Kants Vorstellungen von Raum und Zeit kritisierte, sondern auch dessen unerbittliche Ethik der Pflicht und Auffassung, dass "das moralische Gesetz ein Gefühl bewirken müsse, welches Schmerz genannt werden kann." 

Ohne Plage keine Tugend, meinte Kant. Schlick war vom Gegenteil überzeugt. Moralische Werte beruhen nicht auf dem kategorischen Imperativ, sondern auf sozialen Trieben, die uns genauso natürlich sind wie die leiblichen Bedürfnisse. "Die Werte stehen nicht über dem Menschen, sondern sind in ihm; gut zu sein ist für ihn natürlich." Das ist ein Gedanke, der in der Evolutionsbiologie wurzelt; und tatsächlich war Schlick ein Bewunderer von Konrad Lorenz und Karl von Frisch, drei Jahrzehnte bevor diese beiden den Nobelpreis bekamen. 

Glück als Grundrecht 

Moral auf Verhaltensforschung zu gründen scheint heute noch vielen bedenklich.* Mehr noch, Schlick war so vorwitzig, einen Aufsatz über "den Sinn des Lebens" zu verfassen. Der Sinn des Lebens liege nicht in einem höheren Zweck. Vielmehr sei er im Diesseits verankert. "Der Sinn des Lebens ist die Jugend." Das klingt paradox. Ist Jugend nicht ein Stadium der Unreife, eine Vorbereitung aufs Leben? Wie kann darin der Sinn des Lebens bestehen? Doch Jugend heißt für Schlick: Offenheit für das Glück. 

"Sei glücksbereit!", meinte er. Glück ist den meisten deutschen Philosophen suspekt. Im englischen Sprachraum ist das anders. Die Väter der amerikanischen Verfassung sahen nichts Frivoles im "pursuit of happiness", sondern ein Grundrecht. Aber in den Gedankengebäuden der idealistischen Philosophie hatte Glück keinen Platz. 

Auch innerhalb des Wiener Kreises musste Schlick sich rechtfertigen. Für seinen Freund Carnap galt es als ausgemacht, dass Werturteile sinnlos seien, da sie nicht verifiziert werden könnten. Wittgenstein sah es ähnlich. Aber für Schlick war die Ethik nicht Wertphilosophie, sondern Wissenschaft, die sich mit dem Verhalten von Menschen befasst. 

Intellektuelle Sprengkraft 

War es schon schwer genug, seine Kollegen zu überzeugen, so stand Schlick auf gänzlich verlorenem Posten gegenüber der "political correctness" des sogenannten Ständestaats. Nelböck warf Schlick vor, jedes Vorhandensein von Objektivem auf dem Gebiet der Moral und des Rechts zu verwerfen. Solch positivistische Gedanken galten in klerikal-autoritären Kreisen als anstößig. Zu allem Überfluss war Schlick der Obmann des Vereins Ernst Mach gewesen, der nach den Februarkämpfen 1934 vom Dollfuß-Regime polizeilich aufgelöst wurde. Dass dieselben Lehren, die als "volks- und kulturzerstörend" verboten waren, weiterhin an der Universität gelehrt werden durften, schien manchem unverständlich. "Beachtliche intellektuelle Sprengkraft", vermerkte ein amerikanischer Gasthörer. "Ich frage mich, wie lange solche Vorlesungen noch geduldet werden." Durch den Mord blieb die Frage unbeantwortet. 

Philipp Frank, ein Mitglied des Wiener Kreises, fasste in einem Brief an Albert Einstein zusammen: "Die Ermordung von Schlick hat keine politischen Gründe, obwohl viele es vermutet haben. Es war offenbar Verfolgungswahn. Hingegen ist die Ermordung Schlicks politisch ausgenutzt worden. Eine Zeitschrift behauptete: die Philosophie Schlicks sei so unchristlich, dass sie die Hörer zu Verbrechern erziehe, und Schlick sei selbst an seinem Tod schuld. Auch fügte die Zeitung hinzu: Das Ganze sei eine Mahnung, dass man dem jüdischen Einfluss in und um Wien ein Ende machen müsse. Dieser Schluss ist umso sonderbarer, als weder Schlick noch sein Mörder Juden waren. Aber die Katze fällt immer auf die Füße." () 

Karl Sigmund ist emeritierter Professor für Mathematik an der Universität Wien und Autor des Buches "Sie nannten sich Der Wiener Kreis" (Springer Spektrum 2015), das zum Wissenschaftsbuch des Jahres gewählt wurde.  


*) Mir zum Beispiel. JE




Ernst Machs Vermächtnis.

aus Der Standard, Wien,  23. Juni 2016

Das Vermächtnis des Ernst Mach
Im Februar jährte sich der Todestag des Physikers und Erkenntnistheoretikers zum 100. Mal. Diesem Anlass war nun eine Konferenz gewidmet

von Tanja Traxler

Wien – Wie kommt ein ordentlich begabter Naturforscher dazu, sich um Erkenntnistheorie zu kümmern – gibt es in seinem Fach nicht wertvollere Arbeit? Diese provokante Frage warf Albert Einstein in seinem Nachruf auf den Experimentalphysiker und Erkenntnistheoretiker Ernst Mach im März 1916 auf. "Nein", lautete Einsteins Antwort. Schon als Student war der um 40 Jahre jüngere Physiker beeindruckt von Machs umfassenden Analysen, in denen sich dieser vorbildlos über die Grenzen der Einzelwissenschaften hinwegsetzte – heute würde man sie interdisziplinär nennen. Aus Anlass des 100. Todestages von Mach und des 25-jährigen Bestehens des Instituts Wiener Kreis fand vergangene Woche an der Universität Wien und der Akademie der Wissenschaften die Konferenz "Ernst Mach – Life, Work, Influence" statt. 

Was Machs Vermächtnis betrifft, stand das Verhältnis zwischen ihm und Einstein in mehreren Vorträgen im Zentrum, wobei auch mit so manchem Mythos aufgeräumt wurde. Posthume Fälschung So präsentierte der deutsche Wissenschaftshistoriker Gereon Wolters seine Recherchen zur Entstehung von Machs Werk "Optik", das posthum 1921 erschienen ist. Da Mach im Vorwort darin "mit Entschiedenheit" ablehnt, "den Relativisten vorangestellt zu werden", hielt sich in der Fachwelt jahrzehntelang und teilweise bis heute die Meinung, Mach habe die Relativitätstheorie abgelehnt – auch Einstein selbst muss unter diesem Eindruck gestanden sein. 

Indem er neue Quellen aus Machs Nachlass an der Universität Konstanz analysierte, konnte Wolters zeigen, dass das Vorwort nicht von Mach stammt, sondern von dessen Sohn Ludwig gefälscht wurde. Dieser war, freundlich gesagt, ein wesentlich weniger begabter Physiker, wollte sich aber als Widerleger der Relativitätstheorie hervortun. Um sein Vorhaben voranzutreiben, schrieb er also 1921 das Einstein-kritische Vorwort im Namen seines Vaters und datierte es auf 1913 zurück. 

Anglophone Dominanz 

Wolters' Recherchen reichen zwar schon einige Jahre zurück, in der angloamerikanischen Wissenschaftsforschung sind sie aber dennoch noch nicht angekommen – werden sie wohl auch nicht, wenn sich nicht zufällig ein Wissenschaftshistoriker von einer amerikanischen Elite-Uni findet, der zufällig des Deutschen mächtig ist, um seine Recherchen zu bestätigen, merkte Wolters nicht ohne Ironie an. Ganz nebenbei übte er so auch Kritik an der anglophonen Dominanz im heutigen Wissenschaftsbetrieb. 

Auch Richard Staley von der Cambridge University beleuchtete in seinem Vortrag eine Facette der vielschichtigen Verflechtung von Mach und Einstein. Im Zentrum stand dabei das Gedankenexperiment, das Einstein seinen "glücklichsten Gedanken" nannte. An seinem Schreibtisch im Berner Patentamt sitzend, fragte er sich eines Tages: Würde ein Mensch, der sich im freien Fall befindet, sein eigenes Gewicht spüren? Schließlich sollte dieser Gedanke zur Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie führen, die Einstein 1916 vollendete. 

Körper im freien Fall 

Wie Staley zeigte, hatte Mach in seinem Buch "Die Mechanik in ihrer Entwicklung" von 1883 ebenfalls ein Gedankenexperiment mit freifallenden Körpern aufgestellt, das Einstein zu seinem "glücklichsten Gedanken" inspiriert haben dürfte. Mit ihrer interdisziplinären Ausrichtung wäre die Konferenz ganz im Sinne Machs gewesen, wie der Hauptorganisator Friedrich Stadler, Professor für Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie an der Universität Wien, betonte. 

 Nach Professuren in Graz und Prag wurde der renommierte Experimentalphysiker Mach schließlich auf einen für ihn geschaffenen Lehrstuhl für "Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften" an die Universität Wien berufen. Zwar bestritt Mach, Philosoph sein zu wollen, doch inspirierte er mit seinem philosophischen Interesse einen neuen Schlag von Physikern. 

Das kommt auch in Einsteins Antwort auf die eingangs gestellte Frage zum Ausdruck: "Tatsache ist, dass Mach durch seine historisch-kritischen Schriften (...) einen großen Einfluss auf unsere Generation von Naturforschern gehabt hat." Und weiters: "Von mir selbst weiß ich mindestens, dass ich insbesondere durch Hume und Mach direkt und indirekt sehr gefördert worden bin."

Link
mach16.univie.ac.at


Nota. - Welch herrliche Zeit für die Wissenschaften, als sich ein Experimentalphysiker mit Erkenntnis-theorie befasste!

Heute haben wir selbst Philosophieprofessoren, die sich nicht damit befassen. Ernst Machs Vermächtnis hätte es verdient, auch in Deutschland gepflegt zu werden.
JE