Freitag, 24. Juni 2016

Die Welträtsel und die Grundlagenphysik.

aus Der Standard, Wien, 22.6.2016

Physiker Gross: "Wir stehen vor der Frage, wie alles begonnen hat" 
Nobelpreisträger interessiert sich für die großen Fragen: Was sind die Grundkräfte der Materie? 

Interview Tanja Traxler

Wien – 1972 war David Gross gerade einmal Anfang 30 und frisch an die Princeton-Universität berufen, als sein erster Dissertant bei ihm anheuerte – ein gewisser Frank Wilczek. Gross, der es prinzipiell bevorzugt, im Team zu forschen statt allein, weihte seinen Studenten sofort in die Probleme ein, die ihn beschäftigten – und die betrafen die Essenz der Physik: Was hält die Materie zusammen? 

Konkret, welche Kräfte wirken zwischen den sogenannten Quarks, aus denen Protonen und Neutronen bestehen? Am Ende langer Rechnungen kamen sie zu einem überraschenden Ergebnis, das unter dem Namen "Asymptotische Freiheit" in die Physikgeschichte einging: Je näher einander die Quarks kommen, desto schwächer wird ihre gegenseitige Anziehung. Wenn sie einander also unendlich nahe kämen, würden sie sich wie völlig freie Quarks verhalten. 

Dieses Prinzip lieferte einen wichtigen Beitrag zur Erklärung der sogenannten Starken Wechselwirkung zwischen den Bestandteilen von Atomkernen. Außerdem führte es zur Entwicklung der Quantenchromodynamik. Gemeinsam mit David Politzer erhielten Gross und Wilczek dafür 2004 den Physiknobelpreis. Nun spricht Gross in Wien über seine preisgekrönte Entdeckung – und Probleme, die ihn heute beschäftigen. 

STANDARD: Sie halten am Mittwoch einen Vortrag zum Thema "Frontiers of Fundamental Physics" – was sind diese fundamentalen Grenzen? 

Gross: Das sind sehr viele. Aber da ich heute nur eine Stunde Zeit habe, werde ich mich auf Hochenergiephysik, Stringtheorie oder andere Theorien konzentrieren, die versuchen, die Bestandteile der Materie und die fundamentalen Naturgesetze zu erklären. Allerdings gibt es viele Grenzen der Physik, die ich nicht besprechen werde – der Titel ist also ein wenig übertrieben. 

STANDARD: Seit über 100 Jahren wird eine "Theory of Everything" gesucht – warum ist es so schwierig, Quantenmechanik und Relativitätstheorie zu vereinheitlichen? 

Gross: Nach der allgemeinen Relativitätstheorie sind Raum und Zeit dynamisch und werden durch die Gravitation bestimmt. Die Quantenmechanik hat ein breiteres Spektrum: Wir glauben, dass sie für alle physikalischen Parameter gültig ist. Wenn man versucht, diese beiden Theorien zusammenzuführen, stößt man auf Probleme – vor allem in Extrembereichen, die experimentell schwer erforschbar sind. 

STANDARD: Sie halten die Stringtheorie, die besagt, dass Materie aus schwingenden Saiten besteht, für einen aussichtsreichen Kandidaten, Quantenmechanik und Relativitätstheorie zusammenzuführen – warum? 

Gross: Wenn man die Quantenmechanik nicht mit punktartigen Objekten entwickelt, sondern von ausgedehnten stringartigen Objekten ausgeht, erscheint die Gravitation viel enger mit den anderen Grundkräften verbunden. Die Stringtheorie könnte außerdem wichtige Beiträge zum Verständnis des Ursprungs des Universums liefern. Wir haben jetzt eine ziemlich gute Vorstellung von der Geschichte des Universums. Das heißt auch, wir sind nun mit der Frage konfrontiert, wie alles begonnen hat. 

STANDARD: Die Relativitätstheorie hat unsere Vorstellung von Raum und Zeit fundamental verändert – welches Raumverständnis liefert die Stringtheorie? 

Gross: Es ist in den vergangenen Jahren immer klarer geworden – zumindest meiner Meinung nach, aber ich denke, dass viele dieser Ansicht sind -, dass Raum und Zeit als emergentes Konzept gedacht werden sollten: Raum und Zeit sind nicht etwas, dass wir direkt erfahren können. Es sind eher Konzepte, die Menschen erfunden haben. Jeder von uns hat in seinem ersten Lebensjahr, in dem sich unser Gehirn entwickelt, ein Modell der physikalischen Realität gebildet. Das ist eine gewaltige Leistung. 

Ich weiß nicht, ob wir sonst irgendetwas so Fundamentales erreichen wie die Entwicklung eines Verständnisses von Raum und Zeit. So haben wir ein Ordnungssystem für Ereignisse, auch wie sie sich verändern. Es könnte sein, dass wir dieses Verständnis in manchen Situationen modifizieren müssen. Bei Extremereignissen wie dem Beginn des Universums müssen wir zu einer Beschreibung ohne Raum übergehen, wo der Raum erst aus dem Quantensystem hervorgeht. Das könnte uns helfen, einige der Paradoxa zu eliminieren, denen wir beim Versuch begegnen, Relativitätstheorie und Quantenmechanik zusammenzuführen. 

STANDARD: Welche Paradoxa sind das? 

Gross: Eines der anhaltenden Paradoxa hat mit Schwarzen Löchern zu tun. In der klassischen Vorstellung sind Schwarze Löcher Regionen im Raum, aus denen kein Licht entkommen kann. Das verletzt allerdings physikalische Prinzipien. Und Schwarze Löcher sind immer noch ein einfaches Problem, wenn man es damit vergleicht, was passiert, wenn wir zurück zum Anfang der Zeit gehen. 

STANDARD: Sie bekamen den Nobelpreis für die Entdeckung eines Prinzips, das "Asymptotische Freiheit" genannt wird – was versteht man darunter, und wie kam es dazu? 

Gross: Das ist eine lange Geschichte. Die Teilchenphysik und der Versuch, das Atom zu verstehen, sind etwa 100 Jahre alt. Man fand heraus, dass Protonen und Neutronen (die Bestandteile des Atomkerns, Anm.) aus gebundenen Quarks bestehen. Wir versuchten also, eine Theorie zu finden, um die merkwürdigen Eigenschaften von Quarks zu verstehen. 

STANDARD: Was ist so merkwürdig an den Quarks? 

Gross: Quarks verhalten sich unterschiedlich von Elektronen: Die Kraft zwischen Quarks nimmt nicht ab, wenn man sie voneinander entfernt. Das ist ein Aspekt der "Asymptotischen Freiheit". Andererseits wird die Kraft schwächer, wenn man sie zusammenführt – auch das ist merkwürdig. Bemerkenswert daran ist, dass dennoch das Gesetz der Kraft zwischen Quarks sehr ähnlich ist wie jenes der Kraft zwischen Elektronen. 

STANDARD: Warum verhalten sich Quarks und Elektronen dann so unterschiedlich? 

Gross: Einer der Gründe dafür ist, dass Elektronen nur eine Ladung haben, Quarks dagegen mehrere, die wir als Farben bezeichnet haben. 

STANDARD: Doch Quarks sind ja nicht tatsächlich rot, blau oder gelb – warum spricht man dennoch von Farben? 

Gross: Zum Spaß! Die drei Farben sind einfach das Label für unterschiedliche Ladungen.  


David Gross (geboren 1941 in Washington, D. C.) erhielt 2004 den Physiknobelpreis. Nachdem er Mathematik und Physik an der Hebräischen Universität von Jerusalem studiert hatte, promovierte er 1966 an der University of California, Berkeley im Bereich der Elementarteilchenphysik. Er war dann an der Harvard University, am Kernforschungszentrum Cern und an der Princeton University tätig. Ab 1996 war er Direktor des Kavli Institute for Theoretical Physics an der University of California, Santa Barbara, wo er bis heute arbeitet. David Gross eröffnet am Mittwoch eine neue Vortragsreihe der Akademie der Wissenschaften und des IST Austria. ÖAW-Festsaal, Dr.-Ignaz-Seipel-Platz 2, 1010 Wien, 18.30 Uhr. Anmeldung unter oeaw.ac.at - derstandard.at/2000039507013-628/Physiker-Gross-Wir-stehen-vor-der-Frage-wie-alles-begonnen

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen