aus Die Presse, Wien, 27. 12. 2014
Neues Denken für die Probleme der Welt
Komplexitätsforschung. Big Data erlaubt erstmals in der Geschichte, komplexe Systeme zu verstehen und gezielt zu beeinflussen. Dafür braucht es hohe Mathematik. Die wird maßgeblich auch in Wien entwickelt.
von Verena Ahne
Der Mensch besteht aus komplexen Systemen. Gehirn, Immunsystem, Zusammenspiel von Genen – lauter komplexe Systeme. Der Mensch lebt in komplexen Systemen: in Städten, Ökosystemen, Wirtschafts- räumen. Er braucht, nutzt und verändert komplexe Systeme, wie Artenvielfalt, Finanzmärkte, Klima, Verkehr, Internet.
Komplex sind Systeme aus Einzelteilen – von Ameisen bis zu Bankkrediten –, die miteinander in Wechsel- wirkung stehen. Diese nicht linearen Verbindungen können als Netzwerke abgebildet werden. Bekannt wurden Netzwerke in Form bunter Bilder mit vielen Knoten und Armen, die aber nur Momentaufnahmen sind: Komplexe Systeme verändern sich ständig, wobei jede noch so kleine Veränderung an einem Punkt das ganze System beeinflusst. Ab einer gewissen Zahl von Teilen entwickeln sie zudem neue Eigen- schaften, die sich aus den Teilen selbst nicht ableiten lassen, wie Stabilität oder Schwarmverhalten: das berühmte „mehr als die Summe der Teile“.
„Die Einsicht, dass die Welt komplex ist, ist nicht neu“, sagt Jan Vasbinder, Leiter des Centre of Complexity Sciences der Nanyang Technological University in Singapur. Doch da es für Menschengehirne nicht möglich sei, alle Wechselwirkungen zu durchdenken, habe sich die Wissenschaft lang damit beholfen, die Systeme auf ihre Einzelteile herunterzubrechen und deren Eigenschaften zu analysieren. Die Hoffnung: Das große Ganze würde sich aus den Teilen erklären lassen. „Das hat gewaltige Fortschritte gebracht“, räumt Vasbinder bei den Technologiegesprächen in Alpbach, die 2014 im Zeichen der Komplexität standen, ein. Doch „300 Jahre vor allem technologischer Wissenschaft“ treiben inzwischen so manches System an den Rand seiner Belastbarkeit.
Das ist ein Problem: Denn komplexe Systeme sind zwar robust, doch wird ein bestimmter Punkt über- schritten, können sie sich sehr rasch verändern – umfassend und irreversibel. Beim Klima etwa liegt nach derzeitigen Erkenntnissen der Kipppunkt bei vier Grad Celsius Temperaturanstieg; danach sähe die Welt anders aus. „Unsere drängendsten Probleme lassen sich mit Reduktionismus nicht mehr lösen“, fordert Vasbinder einen Paradigmenwechsel. „Wir brauchen eine neue Wissenschaft, die mit komplexen Systemen umgehen kann.“
Speichern bricht neue Rekorde
Eine solche Wissenschaft wurde durch Computer möglich. Sie rechnen in kurzer Zeit, wofür tausende Menschenköpfe hunderte Jahre lang rauchen müssten. Und sie erlauben das Speichern von Datenmengen, die immer neue Rekorde brechen: „90 Prozent aller verfügbaren Daten wurden in den letzten zwei Jahren generiert“, so der oberste Verantwortliche für Forschung und Innovation in Brüssel, Robert-Jan Smits, der in Tirol über Science 2.0 sprach. „Wir werden viele gute Leute brauchen, die mit diesen Daten umgehen können.“
Womit nicht die simplen Big-Data-Interpretationen gemeint sind, die derzeit die Diskussion beherrschen und meist mit Marketing oder Überwachung zu tun haben. „Die arbeiten im Grunde mit Korrelationen“, sagt Stefan Thurner, Leiter des Instituts für Wissenschaft komplexer Systeme an der Med-Uni Wien: Eine junge Frau bekommt vom Drogeriemarkt Babywerbung aufs Handy geschickt, weil sie vor ein paar Wochen Vitaminpillen gekauft hat. „Korrelationen sind in Big Data leicht zu finden. Und begeistern die Leute. Sie glauben, Dinge hängen zusammen. Dabei treten sie meist nur zufällig gleichzeitig auf.“ Wenn Störche kommen, steigt die Geburtenrate, ist so eine typische Scheinkorrelation.
Finanzmarkt sicherer machen
Die Komplexitätsforschung der Zukunft, wie sie auch Thurner mit Kollegen in Wien und international betreibt, widmet sich Fragen höherer Ordnung. Etwa wie der Finanzmarkt sicherer gemacht werden kann. „Wir müssen die Systeme selbst verstehen. Systeme, die sich ständig ändern. Oder sogar Netzwerke von Netzwerken“, sagt Thurner. Denn die meisten komplexen Systeme sind offen, also mit anderen komplexen Systemen verbunden, mit denen sie ebenfalls in Wechselwirkung treten. „Solche Multiplexnetzwerke zu analysieren, ist sehr, sehr schwierig. Doch wenn es gelingt, erwachsen daraus völlig neue Einsichten.“
Thurners Physikerkollege Peter Klimek nennt als Beispiel Krankheiten, die von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Schon auf individueller Ebene greifen hier Netzwerke ineinander, Gene, Proteine, Immunsystem, Stoffwechsel, die wiederum beeinflusst werden durch Faktoren wie Lebensstil, Alter, soziale Netzwerke, Umwelteinflüsse. „Will die Medizin Netzwerke reparieren, muss sie ihr Ineinandergreifen verstehen“, so Klimek. Wozu die Komplexitätswissenschaft beitragen könne: effektive von nicht effektiven Behandlungen unterscheiden; bei der Entwicklung neuer Medikamente helfen; neue Einsichten in Krankheiten gewinnen.
Ein wenig Statistik reicht dafür allerdings nicht. „Hier braucht es eine ganz neue Mathematik“, so Thurner, „eine, die gerade erst entwickelt wird.“ Außerdem müssen am Anfang gute Theorien stehen: „Wer nicht weiß, was er wissen will oder kann, kommt nicht weit. Big Data ohne Big Theory ist Big Shit“, wird der Forscher plakativ.
Große Theorien entwickeln
Seine Gruppe hat bereits ein paar „große Theorien“ geliefert. So macht die im Frühjahr publizierte Systemic Risk Tax gerade auf EU-Ebene von sich reden – ein Verfahren, das erstmals erlaubt, das systemische Risiko jeder einzelnen Bank und Transaktion zu bestimmen und entsprechend zu besteuern. Dadurch verändere sich der Bankenmarkt, sodass das Risiko eines Crashs drastisch sinkt.
„Das erste Mal in der Geschichte können wir komplexe Systeme verstehen“, ist der Physiker überzeugt. Das sei die positive Seite an Big Data. „Denn wenn wir sie verstehen, können wir sie auf eine Weise beeinflussen, die der Gesellschaft nützt.“
Nota. - Big Theory erweist sich, wie so gern auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten, als der Verzicht auf Theo- rie. An deren Stelle tritt der Algorithmus, denken heißt rechnen, aber das tut keiner mehr selber, dafür hat er die Große Maschine, die zählt und sortiert und zählt und sortiert. Eine mathematische Formel erflei- ßigen - das verstehen sie unter Verstehen.
Denn natürlich wird der Untergang des Mythos vom Naturgesetz ("Kausalität" - das galt bislang als Kno- tenpunkt des Verstehens) nicht zu einer Verallgemeinerung und Habitualisierung des kritischen Denkens führen, sondern im Gegenteil zum offen proklamierten Abschied vom Sinn unterm Zauberwort "Komple- xität". Gehirn, Immunsystem, Zusammenspiel von Genen – lauter komplexe Systeme. Städte, Ökosysteme, Wirtschaftsräumen; Artenvielfalt, Finanzmärkte, Klima, Verkehr, Internet - alles eine Sauce, solange man sie nur händeln kann. Anything goes, sie haben es längst gewusst, und nun wird es zur Bedingung von Wissenschaft!
Aber kein Angst, Aschermittwoch ist alles wieder vorbei, sie werden nämlich gar nichts gehändelt haben, die Finanzmärkte noch am allerwenigstens
JE
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