Wie der Computer mit den „Digital Humanities“ Einzug in die Geisteswissenschaften hält
Ulrike Jaspers Marketing und Kommunikation
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Immer mehr Texte, Töne und Bilder liegen in Bits und Bytes vor. Die Methoden der „Digital Humanities“, der computergestützten Geisteswissenschaften, ermöglichen bislang kaum bearbeitbare Fragestellungen. Auch an der Goethe-Uni scheint die damit verbundene „empirische Wende“ unaufhaltsam zu sein. Vier Jahre arbeiteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einem LOEWE-Verbundprojekt an diesem Thema. Seit Beginn dieses Monats ist nun das „Frankfurter eHumanities-Zentrum“ unter Federführung der Goethe-Universität erste Anlaufstelle für Geistes- und Sozialwissenschaftler, die sich diesem Trend nicht verschließen wollen.
Was hat es eigentlich mit diesem Forschungsgebiet auf sich? Darauf gibt der Beitrag „Der tut nix, der will nur rechnen“ in der aktuelle Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „Forschung Frankfurt“ Antworten. Was mit den Methoden der „Digital Humanities“ möglich ist und woran in Frankfurt gearbeitet wird, wird im Wissenschaftsmagazin an einigen Beispielen gezeigt: So lässt sich die Entstehung von Goethes ‚Faust’ nachvollziehen und die zahlreichen Illustrationen zum Drama können mit den jeweiligen Szenen in Verbindung gesetzt werden; auch Stammbäume alter Handschriften können die Wissenschaftler erstellen oder dem Bedeutungswandel politischer Begriffe durch die Jahrhunderte nachspüren.
In dem Verbundprojekt „Digital Humanities – Integrierte Aufbereitung und Auswertung textbasierter Corpora“, das in den vergangenen vier Jahren von der hessischen „Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz“ (LOEWE) finanziert wurde, forschten Wissenschaftler der Goethe-Universität, des Freien Deutschen Hochstifts/Frankfurter Goethe-Museum und der Technische Universität Darmstadt. Das neue „Frankfurter eHumanities-Zentrum“, an dem neben der Goethe-Universität auch wieder die TU Darmstadt und außerdem das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) beteiligt sind, hat nun eine etwas andere Ausrichtung. Dazu Jost Gippert, Professor für Vergleichende Sprachwissenschaft an der Goethe-Universität, der seit dem Start des Schwerpunkts dessen Koordinator ist und nun auch das neue Zentrum leitet: „Hier bieten wir Wissenschaftlern aus den Geistes- und Sozialwissenschaft im gesamten Rhein-Main-Gebiet die Infrastruktur und das Know-how an, um eigene Projekt realisieren zu können.“ Rund 40 Anträge für ein solches eHumanities-Zentrum gingen beim Bundeswissenschaftsministerium ein, der Frankfurter war einer von drei erfolgreichen. Das Frankfurter Zentrum wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung über drei Jahren mit 2,1 Mio. Euro gefördert.
Mit dem LOEWE-Schwerpunkt hatten die Frankfurter gute Vorarbeiten geleistet. „Wir haben eine Spitzenposition in der sich schnell entwickelnden Landschaft der Digital Humanities in Deutschland errungen“, sagt Jost Gippert, der das Forschungsgebiet „in einer stürmischen Entwicklung begriffen“ sieht. Vor rund zwei Jahren wurde der Verband „Digital Humanities im deutschsprachigen Raum“ gegründet. Mittlerweile gibt es an rund einem Dutzend deutscher Universitäten entsprechend ausgerichtete Studiengänge. Auch in Frankfurt wird ein Curriculum vorbereitet.
„Die neuen Möglichkeiten sind die Erfüllung eines Traums. Es eröffnen sich ganz neue Felder“, sagt Anne Bohnenkamp-Renken. Die Germanistin ist Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts und Professorin für Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität. Gemeinsam mit Alexander Mehler, Professor für Texttechnologie/Computational Humanities an der Goethe-Universität, engagiert sie sich auch im neuen Zentrum mit dem Pilotprojekt „Academic Trails in Multimedial Spaces“. Dabei geht um die Verarbeitung von komplex verknüpften Bild- und Textdaten. Ziel ist ein Informationssystem, das es Wissenschaftlern erlaubt, hochstrukturierte Teilkorpora aus großen Archiven von Bild-Text-Medien für ihre Forschungsaufgaben halbautomatisch zu extrahieren und rezipierbar zu machen.
Neben seiner Kooperation im nun ausgelaufenen LOEWE-Schwerpunkt arbeitet das Hochstift an einer digitalen Edition des ‚Faust‘. Es handelt sich um ein DFG-Projekt in Kooperation mit der Klassik Stiftung Weimar und dem Lehrstuhl für Computerphilologie an der Universität Würzburg. Unter dem LOEWE-Dach arbeitete das Hochstift an dem Projekt „Illustrationen im Umfeld von Goethes ‚Faust’“. Rund 2500 grafische Blätter und Buchseiten wurden auf einer Online-Plattform frei zugänglich gemacht. Eine spezielle Software macht es möglich, Verknüpfungen zwischen den Bildinhalten und den korrespondierenden Textstellen herzustellen.
Zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die Digital Humanities zu etablieren scheinen, werden auch kritische Stimmen laut. In der geisteswissenschaftlichen Community gibt es eine lebhafte Diskussion über eine „feindliche Übernahme“ durch die Informatik. Prof. Alexander Mehler plädiert für einen „interdisziplinären Dialog zwischen den Wissenschaftskulturen“, der von „beiden Seiten selbstbewusst“ geführt wird. Manche der neuen Vorgehensweisen und Fragestellungen, so der Informatiker, erhielten ihre Prägung erst an der Nahtstelle zwischen Geisteswissenschaften und Informatik. Das zeige sich etwa bei intertextuellen Strukturen, die allein an Textmengen beobachtbar sind, deren Größe nur computerbasiert zu bewältigen ist.
Es ist einem Menschen nicht möglich, Millionen Wortpaare miteinander zu vergleichen, wie es beispielsweise für die Erstellung von Stammbäumen zum Verwandtschaftsgrad bei Textüberlieferungen nötig ist. Ähnliches gilt für Suchabfragen, die es der Historischen Semantik erlauben, Phänomene des Sprachwandels zu erforschen. „Ein Computer versteht nichts von geisteswissenschaftlichen Deutungstraditionen, er zählt einfach“, sagt Bernhard Jussen, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Goethe-Universität. Auf diese Weise könnten tradierte, aber bislang empirisch noch nicht überprüfte Annahmen korrigiert werden.
Ob Goethes ‚Faust’ nach dem Studium der Digital Humanities gewusst hätte, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, bleibt eine offene Frage.
Informationen: Prof. Jost Gippert, Institut für Empirische Sprachwissenschaft an der Goethe-Universität, Tel. (069) 798-25054, gippert@em.uni-frankfurt.de, http://www.digital-humanities-hessen.de/, http://www.dhhe.de/
Die aktuelle Ausgabe von „Forschung Frankfurt“ kann kostenlos bestellt werden: ott@pvw.uni-frankfurt.de. Im Internet steht sie unter: www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de.
Weitere Informationen:
http://www.digital-humanities-hessen.de/
http://www.dhhe.de/
http://www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de
http://www.dhhe.de/
http://www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de
aus Die Presse, Wien, 6. 12. 2014
Big Data für die Geisteswissenschaften
Digital. Die Geisteswissenschaften tauchen stärker in die virtuelle Welt ein. Erkenntnisse lassen sich so besser vergleichen und es kann eine Datenbasis für weitere Forschungen geschaffen werden.
Zwischen 7000 und 3000 vor Christus wurden die Menschen in der Ägäis und in Anatolien sesshaft. Damit änderte sich nicht nur ihre Lebensweise, sondern auch die Art, wie sie die Natur gestalteten und beeinflussten, massiv. Bislang wurden einzelne Regionen jedoch separat erforscht. Die Daten waren kaum vergleichbar, die Forscher nutzten unterschiedliche Terminologien oder bezogen sich auf einen anderen Zeitraum. Das erschwerte die wissenschaftliche Erschließung des gesamten Bereichs.
Das Projekt zur Digitalisierung der Erforschung früher Ackerbaukulturen von Edeltraud Aspöck vom Institut für Orientalische und Europäische Archäologie (Orea) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ist eines der Forschungsprojekte, die das künftig ändern sollen. Vorgestellt wurde es bei den ersten „Österreichischen Tagen der digitalen Geisteswissenschaften“, die diese Woche von ÖAW und Wissenschaftsministerium veranstaltet wurden.
Im festlichen Rahmen des alten Theatersaals wurden zwölf neue Projekte präsentiert, in denen die Geisteswissenschaften weiter in die virtuelle Welt geführt werden sollen. Denn auch im 21. Jahrhundert gibt es hier noch großen Handlungsbedarf. „Einzelne Disziplinen hinken hinterher“, sagt Karlheinz Mörth, Leiter des Zentrums für Digitale Geisteswissenschaften der ÖAW. Dabei bedeute Digitalisierung Unterschiedliches für unterschiedliche Disziplinen: Ein Germanist hat andere Anforderungen als ein Kunsthistoriker, digitale Medien werden unterschiedlich stark genutzt.
Wörterbücher zur „Fackel“
Mörth selbst begann seine Forschungsarbeit mit digitalen Methoden bereits in den 1990er-Jahren: Er wirkte bei der digitalen Edition von zwei Wörterbüchern zur „Fackel“ von Karl Kraus mit: dem „Redensarten-Wörterbuch“ und dem „Schimpf- und Schmäh-Wörterbuch“. „Bei der Digitalisierung geht es nicht nur darum, gedruckten Text digital darzustellen“, sagt er. Es brauche zusätzliche Informationen zu den Daten. Diese können auch optisch sein, etwa in Form eines Icons, das zeigt, wie umfangreich ein Werk ist. Jedenfalls brauche es klare, nachvollziehbare Standards, wie ein Wörterbuch zu erstellen sei. So entstand auch eines der Pionierwerke in Österreich, an dem Mörth ebenfalls mitarbeitete: das „Austrian Media Corpus“. Mit acht Milliarden Wortformen erfasst das Textkorpus die gesamte österreichische Medienlandschaft der letzten zwei Jahre digital. „Das ist Big Data für die Geisteswissenschaften“, sagt Mörth.
Doch wer wertet diese Daten aus? Wie eignet sich etwa ein Germanist Statistikwissen an? Ein wunder Punkt, denn derzeit gibt es in Wien keine Ausbildung. An der Uni Graz gäbe es das Zentrum für Informationsmodellierung, in Deutschland ein etwas größeres Angebot, so Mörth. Vorreiter sei aber Großbritannien, wo die „Digital Humanities“ schon eine längere Tradition haben, sagt der Arabist und Sinologe. Vieles passiere daher autodidakt, Mörth selbst hat für seine Dissertation programmieren gelernt. Das war dann wohl auch die Eintrittskarte in die ÖAW, wo seine Programmierkenntnisse für die Digitalisierung der Wörterbücher sehr gefragt waren.
Werkzeuge für alle
Als Leiter einer Stelle, die allen Disziplinen offensteht, genießt er die fächerübergreifende Arbeit: Auch wenn es teilweise noch bewusstseinsbildende Arbeit brauche, mache es Spaß, mit Ethnologen, Historikern oder Soziologen zu arbeiten. Denn die digitalen Werkzeuge brauchten sie alle. Für Edeltraud Aspöcks Projekt bedeutet das, dass alle vorhandenen analogen Daten digitalisiert werden müssen. Zusätzlich werden bestehende Keramikdatenbanken genauso integriert wie Datensammlungen zu Fundstellen. Dazu braucht es Standards, wie mit den Daten umgegangen wird: Wie werden sie strukturiert? Wie wird die digitale Oberfläche nutzerfreundlich gestaltet? Eine Herausforderung für das Projekt sei es, hier eine gemeinsame Sprache zu finden, sagt Aspöck. Und zu guter Letzt sollen die Daten für weitere Forschungen frei zugänglich sein: Eine Open-Access-Plattform ist Grundlage für eine Förderung.
An der ÖAW will man die Digitalisierung jedenfalls weiter stärken: Das Zentrum für Digitale Geisteswissenschaften soll 2015 ein eigenes Institut werden.
Nota. - Naturwissenschaften= (aus Ursachen) erklären; Geisteswissenschaften= (aus Motiven) verstehen.
Nun unterscheiden Geisteswissenschaftler mit erweitertem Horizont und methodologischer Gewissen- haftigkeit nicht zwischen 'Geist' und 'Natur', sondern zwischen nomothetischen Wissenschaften, denen es darum geht, im Mannigfaltigen Gesetzmäßigkeit zu entdecken, und idiographischen Disziplinen, die ein gegebenes Einzelnes in möglichst all alle seinen phänomenalen Besonderheiten darstellen (und in den Besonderheiten womöglich Ähnlichkeiten erkennen). Die eine lässt das beiseite, was am Gegenstand nicht gesetzmäßig und allgemein -, die andere das, was an den Gegenständig nicht einzig und unverwechselbar ist.
Prima facie erscheint eine Maschine, die eigentlich bloß zählen kann, für nomothetische Forschung allein geeignet. Doch den idiographischen Fächern kann sie überraschend kritische Dienste leisten: nämlich wo sie unbemerkt und daher ungeprüft selber Gesetzmäßigkeiten unterstellen, die schon einem simplen Nachzählen nicht standhalten. - So subtil die Fragestellungen im einzelnen sein mögen: Unterm Strich wird der Nutzen von BigData für die "Geisteswissenschaften" immer darauf hinauslaufen. Oder übersehe ich da was? JE
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