System-Logik: Der Fall Professor Birbaumers
Von Stephan Schleim
Jetzt ist es also amtlich: “Untersuchungskommission stellt wissenschaftliches Fehlverhalten durch Tübinger Hirnforscher fest” titelt die Pressemitteilung der Universität Tübingen vom 6. Juni. Namen werden darin keine genannt. Bloß vom “Fall zweier Hirnforscher” ist die Rede.
Die Presse war nicht so zurückhaltend. Bereits am 8. April erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel über “Massive Zweifel an Studie zum Gedankenlesen.” Science berichtete schon einen Tag später. Dass die Rede vom “Gedankenlesen” hier fehlplatziert ist, lassen wir einmal beiseite.
Es geht schlicht darum, dass (zum Beispiel gelähmte) Versuchspersonen auf Kommando bestimmte Denkprozesse vornehmen, etwa sich die Bewegung mit einem Körperteil vorstellen, die mit bestimmten Gehirnprozessen einhergehen. Diese können unter Umständen über eine Gehirn-Computer-Schnittstelle als Ja-nein-Reaktion interpretiert werden.
Niels Birbaumer, laut SZ “einer der prominentesten Wissenschaftler Deutschlands”, leistete jahrzehntelang Pionierarbeit auf diesem Gebiet. Und diese Forschung ist in der Tat nicht nur wissenschaftlich interessant, indem sie uns mehr über die Arbeitsweise des Gehirns verrät, sondern auch für bestimmte Patientengruppen essenziell: eben diejenigen, die aufgrund fortschreitender Lähmungen nicht mehr mit der Außenwelt kommunizieren können oder eigene Körperfunktionen nicht mehr unter Kontrolle haben. Eine Art Gehirn-Schreibmaschine oder eine gedanklich gesteuerte Neuroprothese kann dann die letzte Hoffnung sein.
Vier Verstöße gegen gute wissenschaftliche Praxis
Keine zwei Monate später liegt nun schon das Untersuchungsergebnis einer Kommission im Auftrag der Universität Tübingen vor. Und diese kommt nun zum Ergebnis, dass der Hirnforscher und ein Kollege auf vier Weisen gegen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis verstoßen haben:
Erstens seien bei der Erhebung Daten selektiv ausgewählt worden: So seien auf nicht nachvollziehbare Weise Datensätze bei der Auswertung nicht berücksichtigt worden. Nach Auffassung der Kommission ist das eine “Verfälschung von Daten durch Zurückweisen unerwünschter Ergebnisse ohne Offenlegung.”
Zweitens seien Daten und Skripte nicht offengelegt worden. Somit konnten die in der strittigen Publikation in der Zeitschrift PLoS Biology aus dem Jahr 2017 veröffentlichten Ergebnisse nicht nachvollzogen werden. Die Kommission nennt das “Verfälschung von Daten durch Unterdrücken von relevanten Belegen.”
Drittens würden Daten schlicht fehlen. Für die Studie wurden von mehreren Patienten tagelang Gehirnströme gemessen, zwischen sechs und 17 Tagen pro Patient. Für mehrere Tage seien aber keine Daten vorhanden. “Nach den Ermittlungen der Kommission stimmt die Anzahl der Tage, zu denen Daten vorliegen, mit der Anzahl der Tage, für die im Artikel Auswertungen dargestellt werden, in keinem Fall überein.”
Viertens und letztens gebe es eine mögliche Datenverfälschung durch eine fehlerhafte Analyse. Die statistischen Berechnungen ließen sich, wie gesagt, ohnehin nicht nachvollziehen. Die Kommission fand aber zusätzlich heraus, “dass ein ehemaliger Mitarbeiter des Seniorprofessors diesen bereits im November 2015 darauf hingewiesen hatte, dass sich aus den Daten in statistisch korrekter Auswertung keine signifikanten Ergebnisse belegen lassen.” Das lässt den Verdacht aufkommen, dass hier bewusst falsche Resultate veröffentlicht wurden.
Solch ein Vorgehen wäre schon bei Grundlagenforschung hochproblematisch. In angewandter Forschung mit Patienten, die, wie hier, im Endstadium völlig gelähmt und somit ausgeliefert (“completely locked-in”) sind und deren Angehörige in der Gehirn-Computer-Schnittstelle die einzige Chance zur Kommunikation sehen, fehlt schlicht ein angemessenes Wort. Das Rektorat der Universität Tübingen kündigte dann auch schon Konsequenzen an, darunter eine Anlaufstelle für die Betroffenen.
Birbaumer wehrt sich
Ich will hier nicht viel über den Einzelfall schreiben, sondern auf ein paar Aspekte der System-Logik der heutigen Wissenschaft hinweisen. Dass Birbaumer die Vorwürfe schon im April als “Blödsinn” bezeichnet und gemeint haben soll, die Untersuchung der Kommission interessiere ihn überhaupt nicht, klingt jedenfalls nicht sehr professoral.
Der SWR berichtet nun von einem Brief des Hirnforschers an die Medien, in dem er behaupte, die Universität sei womöglich einem Informanten aufgesessen, der ihn verleumden wolle. Das überzeugt allerdings wenig, wenn man weiß, dass der Untersuchung und den Medienberichten bereits ein langer Streit innerhalb der Wissenschaft vorangegangen war. Und die Kommission sowohl Birbaumer als auch einen anderen Autor der strittigen Veröffentlichung stundenlang befragte.
Wenn die Vorwürfe haltlos wären, dann hätten sie sich doch in dieser Zeit überzeugend zurückweisen lassen können. Und wenn sich, wie oben genannt, fehlende Daten und Skripte spätestens während der über Monate dauernden offiziellen Untersuchung nicht auftreiben ließen, wie sollte sich daran auf einmal etwas ändern?
PLoS Biology ist auch nicht irgendein Journal, sondern genießt einen guten Ruf. Die Redakteure der nun seit 15 Jahren bestehenden Zeitschrift wollten es gerade besser machen als die herkömmlichen Publikationsorgane des Mainstreams: Open Access und so viel wie möglich Open Data als Garant für Offenheit und höchste wissenschaftliche Standards.
Die Dachorganisation PLoS (für Public Library of Science) gibt inzwischen zehn Journals heraus und operiert nicht auf Profitbasis. PLoS Biology ist die älteste davon und gilt laut dem Web of Science als die am dritthäufigsten zitierte Zeitschrift von 85 in der Kategorie Biologie und ist auf Platz 18 von 293 in der Kategorie Biochemie/molekulare Biologie.
Schlüsse auf die System-Logik
Das erste allgemeine Problem, das hier ans Tageslicht kommt, betrifft das Gutachtersystem: Fachkollegen sollen unabhängig und anonym die Methodik und Ergebnisse so einer Studie überprüfen. Das nennen wir Peer Review.
In so einer Forschungsarbeit wie der hier vorliegenden steckt wahrscheinlich monatelange Arbeit, nicht nur für die Datenerhebung, sondern auch die Auswertung und Interpretation. Von Gutachtern wird nun erwartet, diese Arbeit neben den schon zwingend vorhandenen Forschungs-, Lehr- und Verwaltungstätigkeiten durchzuführen – und das alles gratis, aus purem Idealismus.
Dass man als Gutachter überhaupt Originaldaten mitgeschickt bekommt und nicht nur die Ergebnisse, ist eher schon die Ausnahme. Aber wer hat selbst dann Zeit und Muße, alle Auswertungsschritte nachzuvollziehen? Dass selbst die Untersuchungskommission nicht alle Daten oder wenigstens die Skripte, mit denen sie ausgewertet wurden, vorgelegt bekam, stärken meine Vermutung, dass die Peer Reviewer hier nur eine Plausibilitätskontrolle vornehmen konnten. Für mehr reicht die Zeit meist auch gar nicht.
Für eine allumfassende Kontrolle müsste man schlicht Vollzeitpersonal einstellen, das nichts anderes macht, als die Berechnungen und Schlussfolgerungen anderer nachzuvollziehen. Woher sollte aber das Geld hierfür kommen, wo ohnehin viele Forschungszweige und -Institute schon unter Kürzungen leiden? Ab einem gewissen Grad muss man im heutigen System den Forscherkollegen schlicht vertrauen.
Dabei ist noch gar nicht berücksichtigt, dass die Gutachter in so einem hochspezialisierten Gebiet wahrscheinlich alte Bekannte sind, die dem Autorenteam nicht völlig neutral gegenüberstehen (Warum die Wissenschaft nicht frei ist). Das kann sich übrigens sowohl positiv als auch negativ auswirken. Die Letztentscheidung über die Publikation obliegt den Redakteuren, die in erster Linie ihren Unternehmen gegenüber verantwortlich sind und nicht der Wissenschaft.
Karriere nach dem Konkurrenzprinzip
Nun sind die Publikationsplätze in den angesehensten Zeitschriften künstlich beschränkt. Dort, wo die meisten Wissenschaftler publizieren wollen oder müssen, werden die meisten Manuskripte ohne jegliche Begutachtung gleich von der Redaktion abgelehnt. Nature, Science oder auch PNAS gehören dabei zu den begehrtesten Zeitschriften.
Dabei darf man nicht vergessen, dass die Publikationsorgane selbst im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Zitationen stehen, die sich in Einfluss und finanziellem Gewinn ausdrücken. Nature bekommt inzwischen übrigens jährlich mehr als 10.000 Manuskripte zugeschickt, von denen weniger als 8% veröffentlicht werden. In den 90ern waren es noch um die 8.000, von denen schließlich über 10% akzeptiert wurden.
Ein Kollege aus der Psychologie berichtete mir einmal von seiner jahrelangen Durststrecke, in der er auf Bewerbungen um Professuren nur Absagen erhalten habe. Auf Nachfrage habe ihm ein Bekannter gesagt: “Du hast zwar einen guten Lebenslauf. Dir fehlt aber noch die eine Nature-Publikation.” Dieser Bekannte hat ausgeharrt und inzwischen seinen Lehrstuhl (und für ihn noch wichtiger: endlich ein Kind), auch ohne Nature. Doch nicht jeder hat so viel Geduld.
Wir haben jetzt also schon die Zutaten Wettbewerb, mitunter wird gar vom Hyperwettbewerb gesprochen, dazu kommen begrenzte Ressourcen, Konkurrenz – um Stellen und Forschungsmittel – und begrenzte Kontrolle. Letztere bezieht sich sowohl auf das, was die Gutachter tun können, als auch auf die Anonymität ihres Handelns und auf die Entscheidung der Redakteure.
Nun hatten wir im Sport (Doping), in der Wirtschaft (Korruption) und in der Politik (Vetternwirtschaft) in den letzten Jahren schon so viele Skandale. Sollten wir einfach so glauben, dass Wissenschaftler über alle menschlichen Motive und Bedürfnisse erhaben sind? Im Hyperwettbewerb? Damit ist nicht gesagt, dass es zwangsweise schiefgehen muss. Allerdings sind in der System-Logik bestimmte Stellschrauben darauf ausgelegt.
Das Schweigen der Fachwelt
Bemerkenswert ist auch, dass sich bei der umfangreichen Untersuchung durch die Süddeutsche Zeitung kein einziger Fachkollege namentlich zum Fall Birbaumers äußern wollte. Dazu hieß es in der immerhin zwölfseitigen Reportage im SZ-Magazin:
Namentlich will niemand genannt werden. Das sei gefährlich, sagen sogar jene, die längst nicht mehr angewiesen wären auf das Wohlwollen des berühmten Pioniers ihres Fachs. “Wir kennen uns alle sehr gut”, erklärt ein Professor, “jeder ist Gutachter von jedem.” Birbaumer habe einen “Riesenruf” und viel Einfluss. (SZ Magazin 15/2019, S. 14)Die einzigen Ausnahmen waren der junge Informatiker Martin Spüler, der mit seinen Auswertungen und seiner Beharrlichkeit den Stein überhaupt erst ins Rollen brachte. Sein Vertrag wurde von der Universität Tübingen übrigens nicht verlängert. Und eine extern eingeschaltete Statistikerin, die die Datenauswertung der strittigen Studie laut SZ als “praktisch wertlos” bezeichnet.
Das hört sich jedenfalls nicht nach einer freien Kommunikationskultur an. Und gerade das Gutachterwesen ist hier ein Knackpunkt: Der Kollege, den man heute kritisiert, kriegt morgen vielleicht schon die Publikation oder den Forschungsantrag zur Beurteilung, an dem die zukünftige Karriere hängt. In einem kleinen Fachgebiet ist das sogar recht wahrscheinlich.
Kein Raum für Zweifel und Kritik
Aus System-Logik ist es so, dass man sich mit Kritik vor allem Feinde schafft. Belohnt wird das keinesfalls. Warum sollte man also diesen Preis bezahlen, wenn man in der Wissenschaft Karriere machen will? Ähnlich wurde auch Karl Poppers Falsifikationismus in die Schranken verwiesen: Wissenschaftler würden ihre Hypothesen oder Theorien in der Praxis gar nicht widerlegen, sondern vor allem bestätigen wollen.
Laut Popper kommt die Wissenschaft als ganze aber gerade durch die Falsifikation starker Theorien voran. Für einen Wissenschaftler kann die Einsicht, dass der jahrelang verfolgte Ansatz nicht funktioniert, mitunter ein ganzes Lebenswerk in Frage stellen. Da bedarf es schon besonderer Charakterstärke, sich dem zu stellen.
Dazu ein denkwürdiges Zitat aus der Denkschrift zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG):
Forschung als Tätigkeit ist Suche nach neuen Erkenntnissen. Diese entstehen aus einer stets durch Irrtum und Selbsttäuschung gefährdeten Verbindung von Systematik und Eingebung. Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und gegenüber anderen ist eine Grundbedingung dafür, dass neue Erkenntnisse – als vorläufig gesicherte Ausgangsbasis für weitere Fragen – überhaupt zustande kommen können. “Ein Naturwissenschaftler wird durch seine Arbeit dazu erzogen, an allem, was er tut und herausbringt, zu zweifeln, … besonders an dem, was seinem Herzen nahe liegt.” (DFG Denkschrift, 2013, S. 40)Die fast schon rührende Sache mit dem Herzen ist ein Zitat des Physikers Heinz Maier-Leibnitz (1911-2000), der früher selbst Präsident der DFG war. Der Satz steht in seinem Aufsatz “Über das Forschen” aus dem Jahre 1981. Er wirkt auf mich aber wie ein Anachronismus.
Nach meiner Erfahrung haben Forscher heute gar keine Zeit zum Zweifeln. Jedes Experiment, das man nicht veröffentlicht, ist ein möglicher Wettbewerbsnachteil im Konkurrenzkampf. Nach Thomas Kuhns Paradigmenmodell kann allenfalls in der vorwissenschaftlichen Phase gezweifelt und gestritten werden. Kommt ein Paradigma aber erst einmal ins Rollen, dann geht es schlicht um Produktivität. “Stillstand ist der Tod”, könnte man mit Herbert Grönemeyer singen.
Von mutigen jungen Leuten
Bleiben wir noch einen Moment bei der Tatsache, dass der beharrliche Kritiker, der für Birbaumer und seinen Mitarbeiter zum Problem wurde, ein junger Informatiker ist, namentlich Martin Spüler.
Beim Aufdecken des umfangreichen Forschungsbetrugs des Sozialpsychologen Diderik Stapel von der Universität Tilburg in den Niederlanden vor ein paar Jahren war es auch ein junger Wissenschaftler, der sich gegen den Widerstand des Establishments durchsetzen musste. Und dem Harvard-Primatologen Marc Hauser wurden die eigenen studentischen Hilfskräfte zum Verhängnis, die unmoralische Praktiken des Moralforschers ans Tageslicht brachten (Unmoralischer Moralforscher?).
Wie gesagt, es gibt überhaupt keinen Anreiz, im Gegenteil sogar viele Gründe dagegen, einem Forscher öffentlich Fehlverhalten nachzuweisen. Das gilt umso mehr für Koryphäen wie Birbaumer, Hauser oder Stapel. Die Mehrheit übt sich dann lieber in Schweigen und es sind nur ein paar unverbesserliche und unangepasste Idealisten, die sich die Unbequemlichkeit des Zweifels zumuten und dafür sogar ihren Kopf hinhalten.
Stephan Schleim
Aus eigener Erfahrung
An dieser Stelle kann ich eine eigene Erfahrung hinzufügen: Ich hatte nicht viel mit Birbaumer zu tun, der übrigens meine am häufigsten zitierte Arbeit begutachtete, jedoch einmal mit einem jungen Wissenschaftler aus seinem Institut.
Wir hatten ein gemeinsames Forschungsprojekt, an dem noch einige andere beteiligt waren. Auf eine gemeinsame Tagung lud dieser Kollege seinen Chef als Sprecher ein, also Birbaumer. Der Rest von uns hatte jeweils externe Fachleute eingeladen, die neue Perspektiven in die Diskussion einbrachten.
Mit diesem Forscher hatte ich ein gemeinsames Experiment geplant: Ein Versuch mit dem Kernspintomographen (fMRT) aus meiner Forschung sollte mit einer Interventionsstudie mit transcranieller Gleichstromstimulation (TDCS) aus seiner Forschung kombiniert werden. Gesagt, getan.
Der Kollege schien mir dann aber recht schnell die Daten bestimmter Versuchspersonen auszuschließen, die nicht zur Hypothese passten, siehe “selektive Datenauswahl” oben. Mein Verdacht, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht, interessierte aber niemanden. Stattdessen entstand eine Meinungsverschiedenheit darüber, wer nun Erst- und Letztautor sein würde, die wichtigsten Stellen auf der Autorenliste.
Letztlich lief es darauf hinaus, dass ich, der den Großteil der experimentellen Arbeit und 100% der Schreibarbeit für das erste Manuskript geleistet hatte, die erste Stelle aufgeben sollte. Da ließ ich es bleiben. Mein Dateisystem verrät mir, dass dieses Manuskript seit dem 30. März 2009 unangetastet blieb. Gemäß der System-Logik gab es aber jeden Anreiz, es doch zu veröffentlichen.
Der Forscherkollege, der sich, wie ich später herausfand, auch schon lange Doktor genannt hatte, bevor er promoviert war (siehe übrigens §132a StGB), rief mich noch Jahre später in Groningen an, ob ich die Arbeit nicht doch noch veröffentlichen wolle. Das habe ich jeweils diplomatisch abgelehnt.
Dabei half mir aber auch, dass das Psychologische Institut der Universität Groningen meine Arbeit inhaltlich beurteilte und wertschätzte, und nicht nur auf die Anzahl und die Zeitschriften meiner Publikationen schielte. Das ist eine alternative System-Logik, die meiner Erfahrung nach heute leider eher die Ausnahme als die Regel ist.
Den Ruf wahren
In der Reportage über den Fall Birbaumers im SZ-Magazin wird noch ein anderer interessanter Aspekt genannt, der die Sache weiter verkompliziert: Da äußern sich die – aus besagten Gründen lieber anonym bleibenden – Forscherkollegen dahingehend, dass hier der Ruf eines ganzen Forschungsgebiets auf dem Spiel stehe, eben das der Gehirn-Computer-Schnittstellen. Wenn nun einer Koryphäe aus diesem Gebiet wissenschaftliches Fehlverhalten nachgewiesen wird, dann beschädige das möglicherweise das ganze Feld.
Das ist nun ein hervorragendes Beispiel strategischen Denkens, das einerseits menschlich nachvollziehbar ist, die Sache andererseits aber nur schlimmer macht. Denn für das Forschungsgebiet wäre es natürlich besser gewesen, wenn die Fachkollegen die Probleme selbst aufgedeckt hätten und das nicht einem idealistischen Informatiker überlassen hätten, der dem Anschein nach dafür jetzt auch noch von seinem Arbeitgeber geschasst wurde. So viel zum Mythos, die Wissenschaft korrigiere sich auf lange Sicht selbst.
Dieser Arbeitgeber könnte selbst einen Interessenkonflikt in der Sache haben. So wird in der SZ-Reportage darauf verwiesen, dass die Universität Tübingen ihren Ruf als Exzellenzuniversität zu verlieren hat. Es könnte durchaus sein, dass Birbaumers Name in der milliardenschweren Bewerbungsrunde großes Gewicht hatte.
So verrät mir das Web of Science, dass er 811 Veröffentlichungen hat, von denen neun mehr als 500-mal zitiert wurden. Die Nature-Journals tauchen dabei zehnmal auf, Science einmal, PNAS viermal. Mitveröffentlichte Daten gebe es übrigens nur für sieben, also nicht einmal ein Prozent.
So hat auch die Exzellenzuniversität Tübingen durch eine Aufklärung nichts zu gewinnen und möglicherweise viel zu verlieren. Das folgt aus der System-Logik. Was jetzt geschieht, wo sich die Probleme nicht länger leugnen lassen, dürfte vor allem Schadensbegrenzung sein.
Im Falle Hausers hatte sich die Harvard-Universität übrigens sehr bedeckt gehalten und auch die Frage des Vorsatzes offengelassen. In dieser Hinsicht war die Universität Tübingen bisher immerhin transparenter.
Die Göttinger Sieben
An dieser Stelle will ich einen kurzen historischen Exkurs einschieben: Bewegen wir uns 450km nördlich von der Eberhard-Karls-Universität Tübingen (laut Selbstdarstellung “ein Ort der Spitzenforschung und der exzellenten Lehre”), dann gelangen wir zur Georg-August-Universität Göttingen (“zum Wohle aller”). Dort ereignete sich 1837 eine Revolte sieben widerspenstiger Professoren, eben der Göttinger Sieben, die sich gegen den Staatsstreich des neuen Königs Ernst August I. stellten.
Dieser erklärte das unter der Herrschaft seines Bruders Wilhelm IV. verabschiedete liberale Staatsgrundgesetz des Königtums Hannover, auf das die Professoren vereidigt worden waren, für nichtig. Denn es war ja ohne seine Mitwirkung zustande gekommen. Zu den dagegen protestierenden Sieben zählten auch die Germanisten und Rechtswissenschaftler Jacob und Wilhelm, besser bekannt als Gebrüder Grimm.
Amts- und Würdenträger der Universität fielen den Göttinger Sieben schnell in den Rücken und dienten sich lieber beim neuen König an. Gut für die Karriere wird es wohl gewesen sein. Schlecht jedoch für das Ansehen der Uni, an die in den Folgejahren weniger Studierende und hochkarätige Professoren kamen.
Von den sieben Widerspenstigen, die ihrer Ämter enthoben wurden, verbannte der König sogar drei des Landes, darunter Jacob Grimm. Dieser Workaholic begann schon im Folgejahr zusammen mit seinem eher müßiggängerischen Bruder Wilhelm die Arbeit am Deutschen Wörterbuch. Dieses wurde, übrigens auch von der DFG gefördert, erst 1961 fertig, also 123 Jahre später, und umfasst 17 Bände, die heute jeder auf den Seiten der Universität Trier (“eine junge Universität in Deutschlands ältester Stadt”) gratis im Internet durchstöbern kann.
Die Grimms fanden schon bald ein neues Zuhause, nämlich in Berlin beim preußischen Friedrich Wilhelm IV., der damals für seine liberale Haltung und Wissenschaftsfreundlichkeit bekannt war. In der Zwischenzeit hatten Bürger die Sieben mit Spendenaktionen unterstützt.
Das sei noch dem Informatiker mit auf den Weg gegeben, dessen Vertrag von der Universität Tübingen nicht verlängert wurde. Er findet bestimmt bald etwas Besseres. Und Günter Grass hat auch dargelegt, dass man vom durchschnittlichen Professor nicht zu viel Rückgrat erwarten sollte. (Lesetipp: Grimms Wörter.)
Das deutsche Doktoranden(un)wesen
Zum Schluss noch ein paar Gedanken zu einer Spezialität des deutschen Wissenschaftsbetriebs, nämlich der Doktorandenausbildung. Da kommt es nämlich regelmäßig vor, dass der Doktorvater auch der Gutachter der Dissertation ist. Hier in den Niederlanden und, nach allem was ich weiß, in Großbritannien, ist das dagegen ausgeschlossen.
Der Doktorvater schlägt hier zwar jemanden zur Promotion vor – das Urteil muss aber eine davon unabhängige Kommission fällen. Wobei “unabhängig” wieder so eine Sache ist. Formal stellt der Dekan, der Chef einer Fakultät, die Promotionskommission zusammen.
Der wird sich aber wahrscheinlich für Vorschläge bedanken, die ihm Zeit und Mühe sparen. Und der Dekan beziehungsweise die Fakultät hat wiederum auch ein Interesse daran, dass eine Doktorarbeit erfolgreich abgeschlossen wird. Bei uns gibt es dafür sogar einen dicken finanziellen Bonus.
Das ist aber unabhängiger als das deutsche Modell, in dem der Betreuer gleichzeitig auch der Chef (im Falle einer Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter) und der Gutachter ist. Ein Schelm, wer denkt, dass so eine mehrfache Abhängigkeit zu Ausbeutung der in Deutschland in der Regel ohnehin unterbezahlten Doktoranden führen kann.
So ist es natürlich auch mir niemals passiert, dass mir unbezahlte Lehre erst schmackhaft gemacht wurde (“gut für deinen Lebenslauf”) oder später Druck ausgeübt wurde (“die anderen stellen sich auch nicht so an”). Und der Geldgeber, eine große Stiftung in Deutschland, hat natürlich Jahre später, als ich dieses Problem nicht ansprach, die Verantwortung nicht auf die Forschungsinstitution abgewälzt: “Wir vertrauen darauf, dass dort die Richtlinien des Arbeitsvertrags eingehalten werden.”
Die Forschungsinstitution hat aber doch ein Interesse daran, Mittel für das Lehrpersonal zu kürzen und lieber in die Anschaffung teurer Apparate oder einen dicken Bonus zum Einwerben einer Koryphäe zu investieren, die dem Prestige nutzen. Das ist wieder System-Logik und hilft vielleicht sogar bei im Exzellenzwettbewerb.
Wer wäre für die Ausbeutung geeigneter als die Knechte der Wissenschaft, eben die Doktoranden in ihrer mehrfachen Abhängigkeit? Medizindoktoranden (in Deutschland) machen das für ihren “Titel” mitunter sogar völlig gratis. Dementsprechend ist ihr akademischer Grad dann auch nicht so viel wert.
Das Schwert des Strafrechts
Man könnte einmal erwägen, ob in den notorischen Fällen solchen Missbrauchs nicht der Tatbestand der Untreue (§266 StGB) erfüllt sein könnte. Immerhin werden dann dezidierte Forschungsmittel zur Füllung von Löchern in der Lehre zweckentfremdet. Auf Untreue stehen neben Geldstrafe übrigens bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe.
Vielleicht liegt in dem einen oder anderen Fall auch eine Nötigung (§240 StGB) vor. Einem widerspenstigen Doktoranden könnte man doch Schwierigkeiten bei der Begutachtung der Dissertation in Aussicht stellen, etwa indem man ein Gutachten so lange verschiebt, bis der Termin der Verteidigung platzt. (Nicht, dass dem Autor dieses Texts so etwas passiert wäre.)
Da könnte doch das ein oder andere Rückgrat brechen, zumal eine nicht abgeschlossene Promotion Schwierigkeiten bei Folgebewerbungen oder gar das Ende der wissenschaftlichen Laufbahn bedeuten kann. Natürlich bleibt man auch auf Empfehlungsschreiben der Professoren angewiesen.
Auf Nötigungen stehen neben Geldstrafe übrigens bis zu drei Jahre Freiheitsstrafe. Mit Ausnahme von schweren Fällen (§240 StGB, Absatz 4), etwa bei Amtsträgern, dann sind es fünf Jahre. Und was war noch einmal ein Professor? Vielleicht ein Landesbeamter?
Verbesserungsvorschläge
Enden wir aber nicht so trist. Und ich will auch keine guten Leute davon abhalten, in die Wissenschaft zu gehen. Wer aber freie, unabhängige und ehrliche Forschung möchte, der sollte die System-Logik auch demnach ausrichten. Förderlich wären dafür meiner Meinung nach:
- Offenlegung der Daten zusammen mit der Publikation (Open Data);
- Offenlegung der Gutachten mit, nach Möglichkeit, Namen der Gutachter;
- Offenlegung der Entscheidung der Redaktion, eine Arbeit zu akzeptieren beziehungsweise abzulehnen;
- eine unabhängige Schiedsstelle, an der solche Entscheidungen begründet angefochten werden können;
- die vorherigen drei Punkte könnte man auch für die Vergabe von Forschungsmitteln und die Besetzung von Lehrstühlen erwägen, wo es um öffentliche Mittel und öffentliche Einrichtungen geht;
- kontinuierliche Kontrolle und Diskussion durch die wissenschaftliche und Internetgemeinschaft, die durch Open Access und Open Data möglich werden;
- sinnvolle Beurteilungskriterien in der Wissenschaft auf allen Ebenen, die vor allem inhaltlich ausgerichtet sind und nicht bloß quantitativ;
- ehrliche Bezahlung für das Personal auf allen Ebenen;
- Vermeidung mehrfacher Abhängigkeiten, insbesondere bei den Doktoranden;
- Raum für Zweifel und Kritik in der Wissenschaft, nicht nur für Pragmatiker und Opportunisten; und
- Einbeziehung von Personen von außerhalb der Wissenschaft, ähnlich der Laienrichter in bestimmten Gerichtsverfahren.
Die Vorgänge haben neben der System-Logik aber auch noch eine individualpsychologische Ebene: Warum geht jemand überhaupt so weit, seine Daten zu manipulieren? Um eine Publikation in einem bestimmten Medium zu erzielen, die wiederum ein Türöffner für Forschungsmittel, Stellen, Macht, Einfluss und Geld ist? Es muss erst ein persönlicher Bewertungs- und Identifikationsprozess stattgefunden haben, der diesem Ziel, der Professur oder der Institutsleitung, so einen hohen Wert beimisst.
Es ist ja nicht so, dass jemand, der keine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen kann, darum gleich verhungern müsste. Es geht also nicht ums pure Überleben, sondern um die Ausrichtung des Selbstwerts an einem bestimmten äußeren Maßstab. Und woher kommt der? Dafür kann es in der individuellen Autobiographie Gründe geben. Die starke Ausrichtung auf die “Exzellenz” trägt aber das Ihre dazu bei.
Dann leben wir eben in einer Welt, in der wir so tun, als ob die obersten zehn Prozent alles wären, und wir den ganzen Rest als zweitklassig abstempeln. Auch hierin äußert sich die System-Logik des Konkurrenzprinzips, wie sie nicht zuletzt die Bologna-Erklärung von 1999, die in Kürze ihr zwanzigjähriges Jubiläum haben wird, in die Wissenschaft zementiert hat (Fünfzehn Jahre Bologna-Erklärung – eine Polemik).
Dem möchte ich hier noch einmal die für mich echte Bologna-Erklärung entgegenstellen, nämlich die Magna Charta Universitatum von 1988, die inzwischen von immerhin 388 Rektoren von Universitäten weltweit unterzeichnet wurde, und in der es unter anderem heißt,
dass die Zukunft der Menschheit … in hohem Maße von der kulturellen, wissenschaftlichen und technischen Entwicklung abhängt, die an Universitäten als den wahren Zentren der Kultur, Wissenschaft und Forschung stattfindet; dass die Aufgabe der Universitäten, der jungen Generation Wissen zu vermitteln, die ganze Gesellschaft betrifft, deren kulturelle, soziale und wirtschaftliche Zukunft besondere Bemühungen um ständige Weiterbildung erfordert; dass die Universität eine Bildung und Ausbildung sicherstellen muss, welche es künftigen Generationen ermöglicht, zum Erhalt des umfassenden Gleichgewichts der natürlichen Umgebung und des Lebens beizutragen. (Magna Charta Universitatum)Und um diese Ziele zu erreichen heißt es unter anderem in den Grundsätzen der Charta, dass die Universitäten “gegenüber allen politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Mächten unabhängig sein” und an ihnen zur “Wahrung der Freiheit von Forschung und Lehre … allen Mitgliedern der Universitätsgemeinschaft die zu ihrer Verwirklichung erforderlichen Instrumentarien zur Verfügung stehen” müssen.
Hinweis: Dieser Beitrag erscheint parallel auf Telepolis – Magazin für Netzkultur.
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