Dienstag, 26. August 2014

Die Lehre vom Rückzug Gottes als dem Anfang der Welt.

aus nzz.ch, 23.8.2014, 05:30 Uhr                         Die Kontraktion von En Sof


Die kabbalistische Lehre vom «Zimzum»
Schöpfung durch Rückzug


Das hier anzuzeigende umfangreiche Buch handelt von Dingen, denen nachzugehen der Philosoph Immanuel Kant in seiner «Kritik der reinen Vernunft» untersagen wollte: nämlich vom Anfang der Welt, mehr noch: von dem, was war, bevor die Welt entstand. In «Zimzum. Gott und Weltursprung» setzt sich der an der Universität Potsdam wirkende Judaist und Philosoph Christoph Schulte mit einer gemeinhin als «jüdische Mystik» geltenden Metaphysik auseinander, nach der die Welt nicht durch einen Befehl Gottes aus dem Nichts entstanden ist, sondern dadurch, dass Gott sich in sich selbst zusammengezogen hat, um so Raum für die Welt zu schaffen: Der entstandene Raum wies Gefässe göttlichen Lichts auf, die schliesslich zerbrachen, so dass die Welt gleichsam eine Schutthalde darstellt, unter deren Trümmern sich verborgene Funken göttlichen Lichts finden.

Isaak Luria

Diese bis in die moderne Kunst fortwirkende Metaphysik entstand in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in einer Provinz des Osmanischen Reiches: in der galiläischen Stadt Safed, auf dem Territorium des heutigen Staates Israel. Dort sammelte der früh verstorbene aschkenasische Rabbiner Isaak Luria eine Reihe von Schülern um sich, um ihnen mündlich – und nur mündlich – die von ihm erdachte Theorie der Zusammenziehung Gottes, des «Zimzum» – so der hebräische Ausdruck –, zu präsentieren. Seine Schüler, unter ihnen vor allem Rabbi Chaim Vital, schrieben diese Lehre mit erheblichen Variationen auf; Variationen, die schliesslich bis in den modernen jüdischen Chassidismus reichen sollten.

Die Lehre von der Entstehung der Welt durch die Zusammenziehung Gottes kennt daher keine Ur-, sondern nur Nachschriften, die durch zwei radikal unterschiedliche Interpretationen auffallen. Die eine Lesart hält den «Zimzum» für eine Metapher, die andere für ein reales, kosmologisches oder ontotheologisches Geschehen. Die metaphorologische Lesart hält somit strikt an dem fest, was als biblisch begründetes Bilderverbot gilt: Was und wie Gott selbst ist, lässt sich seiner radikalen «Andersheit» wegen nicht ausdrücken – erkennbar sind allenfalls Gottes Wirkungen und Weisungen. Die kosmologische Lesart glaubt das Wesen Gottes erkennen zu können – was Schulte im Detail nachzeichnet.

Philosophiehistorisch sind mit dieser Lesart zwei Entwicklungen bedeutsam geworden: Erstens der Einfluss dieser Deutung auf Spinozas monistische Metaphysik. Diese Vermutung ist freilich umstritten. Zweitens die Überlagerung der Lehre vom «Zimzum» mit neuplatonischen Konzepten zur Emanation – obwohl beide Lehren einander entgegengesetzt sind: Es ist ein Unterschied, ob die Welt aus dem «Überfliessen» eines göttlich Guten entstand («emanierte») oder aus dem Rückzug Gottes in sich selbst. Jedenfalls diente die Übernahme der Idee des «Zimzum» in der frühen Neuzeit als Argument gegen den in der jüdischen und christlichen Religionsphilosophie verbreiteten aristotelischen Rationalismus, der Gott vor allem als «unbewegten Beweger» sah.

So kann Christoph Schulte anschaulich nachzeichnen, wie sehr diese Mystik in ihrer kosmologischen Lesart die Philosophie der Moderne, namentlich den Deutschen Idealismus und besonders das Denken Schellings, geprägt hat. War es doch Schelling, der in seinen «Stuttgarter Privatvorlesungen» sowie in seinen «Weltalter»-Fragmenten aus den Jahren 1813 bis 1815 diese Gedankenfigur bemühte, um Vorwürfen Hegels, seine – Schellings – Theorie des Ursprungs gleiche jener Nacht, in der alle Katzen grau seien, etwas entgegenzusetzen. «Contraktion», so Schelling, sei «der Anfang aller Realität». Tatsächlich lässt sich zeigen, dass Schelling und auch Hegel durch Vermittlung einiger ihrer Lehrer und Bekannten Kenntnisse der Kabbala hatten.
 
Inspiration und Trivialisierung

Es war der Pietist Friedrich Christoph Oetinger (1702 bis 1782), der protestantischen Theologen diese jüdische Tradition erschloss und vermittelte. Schulte sieht (mit dem frühen Jürgen Habermas) die kabbalistischen Motive vor allem in Schellings Werk. Aber auch Hegel kannte, wie aus seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion ersichtlich, diese kabbalistische Tradition. Daher wäre zu erwägen, ob nicht beispielsweise der Anfang von Hegels «Logik» («Sein, reines Sein, – ohne alle weitere Bestimmung . . .») eine Anverwandlung des «Zimzum»-Gedankens darstellt.

Doch belässt es Schultes panoramatisch detaillierte, stets flüssig zu lesende Darstellung nicht bei der Nachzeichnung philosophiegeschichtlicher Traditionslinien. Gezeigt wird auch – und das gehört zu den aufregendsten Abschnitten des Buches –, auf welchem Weg die Lehre vom «Zimzum» Eingang in die Kunst und die Literatur des 20. Jahrhunderts gefunden hat: sei es in Isaac Bashevis Singers Schriften, sei es in den abstrakten Expressionismus Barnett Newmans, sei es in das künstlerische Werk Anselm Kiefers, das zu einem grossen Teil der Auseinandersetzung mit der Kabbala gewidmet ist.

Indes sind auch erhabene Ideen nicht vor Trivialisierung geschützt. So glaubten auch Psychotherapeuten, ja sogar Betriebswirte, wie Christoph Schulte vorführt, die Lehre vom «Zimzum» anthropologisieren zu sollen, d. h. jede Form von Zurückhaltung oder indirekter Steuerung zu einem «Zimzum» zu erklären. Auch Schulte selbst ist nicht völlig gegen diese Versuchung gefeit, wenn er unter Rückgriff auf die Sozialontologie seines philosophischen Lehrers Michael Theunissen das «Geltenlassen des Anderen» in diesem Begriffsrahmen ansiedelt.

Unerachtet dessen jedoch liegt mit Christoph Schultes monumentalem Buch ein Werk vor, das in den besten Traditionen der Wissenschaft des Judentums steht. Es schöpft ganze Bibliotheken zur Kabbala aus und wird mit seinem stofflichen Reichtum und seiner Luzidität im deutschen Sprachraum auf Jahre hinaus das Standardwerk nicht nur zum «Zimzum», sondern zur Kabbala überhaupt sein.

Christoph Schulte: Zimzum. Gott und Weltursprung. Jüdischer Verlag im Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014. 501 S., Fr. 39.90.

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