Mittwoch, 29. April 2015

Wort und Gebärde.

aus Die Presse, Wien, 29.04.2015

Gebärden sagen sehr viel mehr als Worte
Gebärdensprachen haben Feinheiten, die gesprochenen fehlen, aber von deren Sprechern verstanden werden.

„Wenn wir keine Stimme oder Zunge hätten und uns gegenüber anderen ausdrücken wollten, würden wir dann nicht versuchen, durch Bewegung unserer Hände, und des Rests des Körpers Zeichen zu machen, so wie die Stummen es tun?“ Das lässt im fünften Jahrhundert v.Chr. Plato Sokrates sagen (im „Kratylos“), es ist eine der ersten Erwähnungen der Gebärdensprachen. Sie sind alt, vielleicht sehr alt, manche sehen in ihnen den Ursprung der Sprache überhaupt, und sie entstehen immer wieder, seit zwei Generationen wird etwa im Nahen Osten und in Nicaragua eine ganz neue entwickelt, dort waren unter Diktator Somoza stumme Kinder kaserniert und sich selbst überlassen, sie ergriffen die Gelegenheit.

Solche Sprachen sind nicht einfache Übersetzungen der gesprochenen – die Gebärdensprache der USA ist enger mit der französischen verwandt als mit gesprochenem US-Englisch –, aber sie sind zumindest ebenso komplex. Manche halten sie gar für viel feiner, Philippe Schlenker (Institut Jean-Nicod, Paris) etwa erklärt wieder und wieder, dass „in mancher Hinsicht die Logik der gesprochenen Sprache eine heruntergekomme- ne (= vereinfachte) Version der Logik der Gebärdensprache“ ist. Er hat das etwa damit begründet, dass Gebärdensprachen oft ikonisch sind, mit Bewegungen arbeiten, die etwas am Bezeichneten nachzeichnen: In der deutschen Gebärdensprache etwa wird die Katze mit der Form ihrer Schnurrhaare beschrieben, in der tansanischen mit der ihrer Ohren.

Telische vs. atelische Verben

Nun hat Schlenker mit einem anderen Aspekt experimentiert: Aristoteles hat Verben in telische und atelische eingeteilt. Erstere meinen Handlungen mit einem Abschluss („entscheiden“), bei Letzteren gibt es den nicht („denken“). Gesprochene Sprachen drücken die Differenz nicht aus,  Gebärdensprachen tun es, bei telischen Verben wird etwa mit einer Hand ein Schlussstrich gezogen, bei atelischen kreist die Hand. Dann hat Schlenker Sprecher ganz verschiedener Gebärdensprachen um ihre Zeichen für „entscheiden“ und „denken“ gebeten und per Video aufgezeichnet. Die hat er Testpersonen gezeigt, die englisch sprechen, aber keinerlei Gebärdensprache. Sie verstanden doch, was telisch war und was nicht (Pnas, 27.4.). Schlenker vermutet, dass Gebärdensprachen das haben, was der Linguist Noam Chomsky in den 1950er-Jahren gesprochenen Sprachen zuschrieb, wovon er mangels Beleg aber abrückte: eine universelle Grammatik. (jl)


Nota. - Bemerkenswert ist vor allem, dass Gebärdensprache zugleich analog und digital ist. Das ist eine ganz eigene Dimension.
JE


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