Donnerstag, 19. Februar 2015

Die cyborganische Ära hat schon begonnen.

Bevor der Appetit befriedigt werden darf, will der Bildhunger des Smartphones gestillt sein – Martin Parr: «Art of Dining – Say Cheese!», 2014.Bevor der Appetit befriedigt werden darf, will der Bildhunger des Smartphones gestillt sein – Martin Parr: «Art of Dining – Say Cheese!»

aus nzz.ch, 19. 2. 2015

Die Verschmelzung von Mensch und Maschine
Unter die Haut 
Unsere Geräte zur Kommunikation werden immer kleiner: Nach dem Smartphone kommt die Apple iWatch, die ganz nah an unseren Körper heranrücken wird. Implantate unter der Haut sind der nächste Schritt. Was wird das für einen Einfluss auf unser Menschenbild haben?

von Tomasz Kurianowicz

Das Internet ist die einflussreichste Erfindung des 20. Jahrhunderts. Es hat nicht nur die Beziehung zu unseren Mitmenschen durch Facebook, Online-Dating, Twitter und andere soziale Netzwerke verändert. Nein, es hat auch die Beziehung zu unserem Körper revolutioniert: Durch Smartphones und intelligente Hardware rücken uns technische Geräte immer näher auf den Leib. Sie informieren uns, speichern unsere Daten und verfolgen uns. Im Gegenzug streicheln wir sie, sprechen mit ihnen und tragen sie wie Freunde durch die Welt. Dieser Trend wird sich fortsetzen: Sogenannte «wearables» wie die Apple iWatch werden dazu beitragen, dass wir noch stärker physisch mit unseren Geräten verschmelzen werden. Schleichend sind wir im Begriff, uns zu Cyborgs zu verwandeln.

Wie der Berliner Technikexperten Stefan Greiner glaubt, ist die Cyborg-Gesellschaft gar kein Zukunftsszenario mehr, sondern längst Realität. Denn jeder, so Greiner, der ein Smartphone besitze, verfüge über eine Art technische Handverlängerung, die im Alltag wie ein Stück des Körpers funktioniere. «Auch die Benutzung eines Smartphone impliziert Aspekte des Transhumanen.» Stefan Greiner muss es wissen. Er ist Gründer und Mitglied des Berliner Cyborg-Vereins, des ersten Vereins dieser Art in Deutschland. Hier treffen sich Technikbegeisterte, Hacker und selbsternannte Cyborgs, die sich für das Thema interessieren, Grenzen des Menschlichen sprengen und auf die Thematik aufmerksam machen wollen. «Wir diskutieren über aktuelle Dinge, aber auch über grundlegende philosophische und anthropologische Fragen: In welche Richtung soll die Mensch-Maschinen-Konstellation gehen, gesellschaftlich und politisch?» Aber auch die praktische Anwendung kommt nicht zu kurz. «Wir entwickeln Geräte oder hacken bestehende Implantate, um sie für unsere Zwecke zu modifizieren. Wir implantieren uns diese Geräte unter die Haut.»

Nur eine Frage der Zeit

Ein ethisches Problem sieht Greiner dabei nicht. «Die Entwicklung des Menschen ist ein evolutionärer Fakt. Der Mensch will sich mit seinen Werkzeugen weiterentwickeln. Das ist nichts Neues. Das wird immer so sein.» Greiner möchte mit seinem Verein technische Lösungen vorschlagen und Ideen anstossen, bevor es Unternehmen stellvertretend für die Gesellschaft tun. «Wir wollen den Cyborg-Diskurs kritisch begleiten und verhindern, dass Google und andere Unternehmen in Zukunft entscheiden, wie wir mit der Mensch-Maschinen-Thematik umgehen müssen.»

Auch Angelo Wyszengrad ist Mitglied im Verein. Der Cyborg, der Mechatronik an der Beuth-Hochschule für Technik in Berlin studiert, hat sich einen Magneten unter die Haut implantiert, mit dem er elektromagnetische Wellen senden und empfangen kann. Ausserdem hat er sich in einem Piercing-Studio einen millimetergrossen Chip in seine Hand einpflanzen lassen. Noch könne dieser Chip nicht viel, sagt der Student. Aber rein theoretisch sei er vielfach einsetzbar. «In der Zukunft wird vieles möglich sein, wovor man sich heute noch scheut. Wenn es rechtlich möglich wäre, könnte man so einen Chip als Mensa-Karte benutzen. Dann müsste man in der Mensa beim Bezahlen nur die Hand ausstrecken. Aber noch ist die Gesellschaft nicht reif dafür.»

Das merkt der Student bei Diskussionen immer wieder. Denn die ethischen Bedenken seien gross: Was ist, wenn eine fremde Gewalt Zugriff auf die Elektronik in unserem Körper bekommt? Wie lassen sich Manipulationen ausschliessen? Angelo wiegelt ab. «Hier können Programmierer Lösungen finden. Fakt ist: Die Verschmelzung zwischen Mensch und Maschine ist gar nicht mehr aufzuhalten.» Schon heute würden Prothesen hergestellt, die Sportler leistungsfähiger machten als ihre implantatfreie Konkurrenz. «Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die Meinung der Menschen ändert und so eine Technik für alle zur Anwendung kommt. Bis dahin geht es uns darum, das Thema in die Gesellschaft zu bringen, damit wir ein gemeinsames Bild entwerfen können. Eine Cyborg-Gesellschaft wird es ohnehin geben.»

Intim mit den Geräten

Und wie könnte so eine Gesellschaft aussehen? Für Stefan Greiner liegt das Szenario sprichwörtlich auf der Hand: «Computer waren früher riesige Kisten. Die werden heute immer kleiner und kommen immer näher zum Menschen und erweitern dessen Vermögen.» Das passiert momentan durch «wearables» wie Smartphones. Nun sei der nächste Schritt zu beobachten: Chips wie etwa Elektro-Tattoos, die am Körper angebracht werden, erreichen den Markt. «Ursprünglich waren diese Tattoos für Sportler gedacht. Über die Tattoos konnte man die Lactat-Werte konstant überwachen. Dann haben Wissenschafter zufällig herausgefunden, dass diese Tattoos über den Schweiss Strom erzeugen können. Jetzt sollen sie auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen weiterentwickelt werden. Sie könnten als Biosensoren genutzt werden. Motorola hat bereits ein Tattoo entwickelt, das Stimmen modellieren kann.» Insofern sei es eine Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz, bis der nächste Schritt komme und die Haut als Grenze des Körpers durchbrochen werde. «Das wird bald passieren. Da bin ich mir sicher. Dann wird man keine Google-Glass mehr brauchen, sondern Informationen tauschen und über Implantate direkt im Auge abrufen können.»

Und welchen Einfluss könnte diese Entwicklung auf die Gesellschaft haben – etwa auf die Art und Weise, wie wir Menschen miteinander in Beziehung treten? Schon heute zeigt sich, dass wir zum Teil intensiver und intimer mit unseren elektronischen Geräten kommunizieren als mit unseren Mitmenschen. Erst wenige Psychologen kümmern sich um die Frage, was das für Auswirkungen hat. Was heisst es etwa, wenn wir einen Grossteil unserer Sozialbeziehungen über Smartphones abwickeln? Könnte es zum Problem werden, wenn wir lustvoller in einen Bildschirm oder einen Google-Apparat als in zwei Menschenaugen schauen?

Sollte die Cyborg-Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten Realität werden – und vieles spricht dafür –, dann könnte es sein, dass die Missverständnisse und zwischenmenschlichen Abkapselungen zunehmen werden. Es ist an der Zeit, über die Risiken der Verschmelzung zwischen Mensch und Maschine zu diskutieren. Wie wollen wir leben? Welche Beziehungen wollen wir führen? Und wie wollen wir unsere Kinder erziehen? Auf dem Spiel steht nichts Geringeres als unsere Fähigkeit zur Empathie.

Empathie mag für eine Generation, die ohne Smartphones aufgewachsen ist, kein Problem darstellen. Doch für die Digital Natives, die also Ende der neunziger und in den nuller Jahren geboren sind, ist die Interaktion von Mensch zu Mensch eine Kompetenz, die hart erlernt und neu erprobt werden muss. Besonders Lehrer und Universitätsdozenten können davon ein Lied singen: Der Griff zum Smartphone ist die schützende Mauer, zu der viele junge Schüler greifen, um sich vor dem Blick der anderen in Sicherheit zu bringen. Momentan kann man Smartphones noch weglegen und sich bewusst für eine Internet-freie Zone entscheiden. Die Apple iWatch und implantierbare Chips werden es hingegen noch schwieriger machen, einen analogen Schutzraum zu finden.

Den Umgang mit Menschen verlernt

Das stellt ein Problem besonders bei der Kindererziehung dar. Natürlich, es kostet Zeit und Mühe, ein Kind zu beschäftigen, sich mit ihm auszutauschen und reale Konversation zu betreiben. Viel einfacher ist es da, ihm ein iPad in die Hand zu drücken und sich der Verantwortung zu entziehen. Ja manche Eltern glauben sogar, dass die pädagogischen Vorteile bei einem grenzenlosen Multimedia-Gebrauch überwiegen. Immerhin gibt es viele nützliche Apps, die für Lernzwecke verwendet werden können. – Aber man darf auch die Nebenwirkungen nicht unterschätzen – etwa das autistische Verhalten, das durch die digitale Selbstbeschäftigung angetrieben wird.

Die Psychologin Nancy Darling vom amerikanischen Oberlin College in Ohio macht darauf aufmerksam, dass Kinder durch einen übermässigen iPad-Konsum eine wesentliche Eigenschaft nicht vollständig beherrschen: den Umgang mit Menschen. Denn Menschen agieren nicht berechenbar, nicht nach einem Falsch-oder-richtig-Prinzip, sondern überraschend, unkalkulierbar und hochgradig komplex.

Nehmen wir ein Memory-Spiel: Ein Kind kann es auf einem iPad spielen und dadurch seine kognitiven Fähigkeiten verbessern. Aber wenn es das gleiche Spiel auf analogem Wege spielt, lernt es gleichzeitig, mit einem anderen Kind zu interagieren, die Regeln der Fairness zu ermessen, die Emotionen beim anderen zu beobachten. All diese mehrdimensionalen Eigenschaften, die ein Kind erlernt, um sich später in der Gesellschaft zu integrieren, fehlen beim iPad-Spiel völlig. Ausserdem beklagen viele Eltern, dass sich Kinder nach hohem Tablet-Konsum distanziert und gereizt verhalten. In diesem Fall dienen die Geräte zur Abkapselung und nicht zur Verständigung oder Leistungssteigerung.

Zudem belegen Studien, dass Kinder, die viel Zeit mit Tablets und Smartphones verbringen, später Probleme haben, sich eloquent auszudrücken – da mögen die Apps, die sie verwenden, noch so nützlich sein. Deswegen raten führende Psychologen dazu, bei der Erziehung ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem frühen Training von multimedialen Kompetenzen und der Entwicklung von empathischen Eigenschaften durch zwischenmenschliche Interaktion. Analoge Schutzräume sind essenziell. Sonst droht eine Generation heranzuwachsen, die nur noch imstande sein wird, Gefühle, Begehren und Leidenschaften über das Smartphone und Emoticons auszudrücken.

Tomasz Kurianowicz ist Autor, Journalist und Literaturwissenschafter an der Columbia University. Er lebt in New York City und Berlin. www.kurianowicz.com.




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