Dienstag, 24. Februar 2015

Die Furcht des Zentralorgans.

Kampf oder Flucht? Die Angst fordert Körper und Gehirn auch schnelle, reflexartige Entscheidungen ab.aus nzz.ch, 24. 2. 2015

Wachsames Zentralorgan
Wie unbewusste Gehirnprozesse uns vor Gefahren schützen
Kampf oder Flucht? Die Angst fordert Körper und Gehirn auch schnelle, reflexartige Entscheidungen ab.

von Gottfried Schatz

«. . . beim Anblick der Rosen [. . .] kauerten sich die Kleinstkinder panisch zusammen, und das Gebrüll nahm prompt wieder an Lautstärke zu. ‹Sehen Sie?›, freute sich der Direktor. ‹Sehen Sie?› Bücher und schrille Töne, Blumen und Stromschläge – schon jetzt waren diese Pole im frühkindlichen Hirn negativ gekoppelt und würden nach zweihundert Wiederholungen dieser und ähnlicher Lektionen eine feste Verbindung eingehen.» In dieser wohl grausamsten Episode seiner düsteren Zukunftsvision «Schöne neue Welt» beschreibt Aldous Huxley, wie ein zynischer Staat die Furcht vor Büchern und freier Natur Kleinkindern einpflanzt, um sie zu gefügigen Untermenschen zu programmieren. Vorbild dafür war Pawlows berühmter Hund, der nach mehrmaligem Training den Klang einer Glocke mit dem Geruch von Futter assoziierte und schon allein beim Klang der Glocke Speichel absonderte.

Ein mächtiges Gefühl

Furcht ist eines unserer mächtigsten Gefühle, für das unser Gehirn besonders viel Energie und Platz bereitstellt. Unsere instinktive Furchtreaktion lässt sich auch besonders leicht wissenschaftlich untersuchen, weil sie der von Tieren sehr ähnlich ist und in primitiver Form sogar das Verhalten von Fliegen, Würmern und Einzellern bestimmt. In Menschen und höheren Tieren erhöht sie den Blutdruck, beschleunigt den Herzschlag und fördert die Durchblutung der Haut, die Absonderung von Schweiss sowie die Ausschüttung der «Stresshormone» Adrenalin und Cortison in das Blut. Sie erhöht damit die Verteidigungsbereitschaft, weshalb viele Biologen sie nicht «Furchtreaktion», sondern «Verteidigungsreaktion» nennen. Sie ist unwillkürlich und stereotyp – und obwohl sie unser Verhalten beeinflusst, erfolgt sie völlig unbewusst. Wir können uns aber später an sie erinnern.

Um sie zu untersuchen, verwenden Forscher als experimentelles Modell häufig die erlernte Abwehrreaktion gegen die Kopplung zwischen einem harmlosen Signal – wie dem von Aldous Huxley beschriebenen Anblick von Blumen und Büchern oder auch einem Ton – und einem schmerzhaften Signal wie einem leichten elektrischen Stromstoss. Diese Signale wandern über getrennte Nervenbahnen ins Gehirn, doch wenn sie gleichzeitig eintreffen, werden zwei kleine mandelförmige Gehirnregionen – die Amygdalae – augenblicklich hellwach. Um uns vor weiteren Schmerzen zu schützen, verstärken sie die chemischen Antennen, mit denen sie das harmlose Signal – die Blumen, die Bücher oder den Ton – wahrnehmen, und erhöhen diese Verstärkung mit jeder weiteren Überlappung der beiden Signale, bis schliesslich das harmlose Signal für sich allein die Verteidigungsreaktion auslöst. Das Erlernen dieser Reaktion geht an unserem Bewusstsein vorbei: Blinde, bei denen nicht die Augen, sondern die Sehzentren in der Gehirnrinde defekt sind, können eine Bedrohung durch Sehreize normal erlernen, ohne die Bedrohung bewusst wahrzunehmen. In Mäusen kann eine erlernte Verteidigungsreaktion sogar an die Nachkommen vererbt werden, selbst wenn diese von Leihmüttern aufgezogen oder durch In-vitro-Befruchtung gezeugt werden. Wie diese Erinnerung ihren Weg in die Ei- oder Samenzelle findet, ist noch rätselhaft.

In uns Menschen führt die unbewusste Verteidigungsreaktion oft zu bewussten Furchtgefühlen, die wir in Worte fassen und mitteilen können. Sollten auch Tiere solche bewusste Furcht empfinden, dann wäre sie wahrscheinlich von der unseren sehr verschieden. Bisher haben wir allerdings noch keinen Weg gefunden, um dies wissenschaftlich zu untersuchen. Wir Menschen speichern die erlernte Verteidigungsreaktion und die bewusst wahrgenommene Furcht in mehreren verschiedenen Gehirnregionen: zunächst in den beiden Amygdalae und dann vor allem im sogenannten Hippocampus. Versuchspersonen mit beschädigtem Hippocampus können eine unbewusste Verteidigungsreaktion erlernen, sich aber nachher nicht mehr an sie erinnern. Umgekehrt verhindert eine Schädigung der Mandelkerne das Erlernen der Reaktion, nicht aber die bewusste Erinnerung daran.

Unsere bewusst empfundenen Furchtgefühle können unser Verhalten mitprägen, bewirken jedoch keine unbewussten Verteidigungsreaktionen. Auch diese beeinflussen unser Verhalten. Es ist, als ob unser Gehirn mit seinen in Jahrmillionen biologischer Evolution erworbenen Erfahrungen uns vor Gefahren schützen will. Für mich als Biologen sind auch diese unbewussten Gehirnprozesse Teil meines Ichs. Würde René Descartes, wenn er heute lebte, diesen Prozessen in seinem berühmten «je pense, donc je suis» Platz gewähren?

Wenn die beiden Amygdalae die Verknüpfung zwischen einem schmerzhaften und einem harmlosen Signal erkennen und ihre Antennen für das harmlose Signal verstärken, vertauschen sie diese Antennen zum Teil gegen andere, die weniger fest in der Nervenmembran verankert sind und leicht wieder ausgetauscht werden können. Deshalb lässt sich eine frisch erlernte Verteidigungsreaktion teilweise oder ganz wieder auslöschen, wenn man das harmlose Signal mehrmals für sich allein präsentiert. Das Zeitfenster dafür schliesst sich allerdings bereits nach Stunden oder Tagen.

Unser Gehirn prüft gewissermassen, ob der erlernte Zusammenhang zwischen harmlosem und schmerzhaftem Signal sich bestätigt, und ist bereit, seine Reaktion auf das harmlose Signal an die neuen Antworten anzupassen. Selbst weit zurückliegende zwanghafte Verteidigungsreaktionen lassen sich wieder labilisieren und durch entsprechendes Training abschwächen, wenn man sie erneut aufruft. Auch hier hält dieser labile Zustand nur einige Stunden an, und auch hier ist er mit dem vorübergehenden Einbau leicht austauschbarer Nervenantennen in die beiden Mandelkerne gekoppelt. Die austauschbaren Antennen verweilen nur für einige Tage und erklären das Zeitfenster für die Auslöschung erworbener Verteidigungsreaktionen. Unsere Erinnerungen sind also nicht in Stein gemeisselt, sondern stets bereit, von neuen Situationen zu «lernen».

Verhindert man in Ratten oder Mäusen den Einbau der leicht austauschbaren Amygdala-Antennen durch Medikamente oder genetische Eingriffe, lässt sich eine erlernte Verteidigungsreaktion durch Wiederaufruf nicht mehr permanent auslöschen. Diese Auslöschung ist spezifisch: Eine Ratte, die einen leichten elektrischen Stromstoss mit zwei verschiedenen Tönen assoziiert, verliert ihre Verteidigungsreaktion gegen nur einen dieser Töne, wenn man ihr diesen Ton mehrmals für sich allein präsentiert. Vielleicht wird es dereinst möglich sein, dieses kurze Zeitfenster für die spezifische Auslöschung zwanghafter und quälender Erinnerungen durch Medikamente zu erweitern, um Kriegsveteranen oder Opfer von Gewaltverbrechen von ihren unkontrollierbaren Panikattacken zu erlösen. Einige wenige Nervenantennen in unseren Amygdalae können also den Unterschied zwischen einem normalen und einem von zwanghafter Furcht überschatteten Leben bedeuten.

Fatale Ängste

In der Umgangssprache bedeutet «Furcht» die Emotion bei einer unmittelbaren, «Angst» hingegen die diffuse Beklemmung angesichts einer möglichen Bedrohung. Auch Angst kann ein Leben überschatten, und da sie Wissen um mögliche Gefahren voraussetzt, lastet sie vor allem auf älteren Menschen. Angst ist die Feindin der Innovation, die im Mut gründet, eigene Wege zu gehen und Dogmen zu hinterfragen. Angst vor möglichen Gefahren äussert sich auch in der Nullrisikomentalität unserer überalternden europäischen Gesellschaft, die bei jeder neuen Entdeckung zunächst fragt, wie sie uns schaden könnte. In Wissenschaft und Kunst ist die Unbekümmertheit der Jugend aber meist klüger als die Erfahrung des Alters.

Eine noch fatalere Erscheinungsform der Angst ist die um sich greifende Political Correctness. Ihr ursprüngliches Ziel war die emotionslose und von gegenseitiger Achtung geprägte Diskussion brisanter Probleme, doch heute ist sie eine Angst, die solche Diskussionen im Keim erstickt. Sie hat selbst unsere Universitäten erobert, obwohl diese rationales und leidenschaftsloses «politisch unkorrektes» Denken nicht nur dulden, sondern nach Kräften fördern sollten. Dies müsste nicht so sein. Anders als unsere unbewusste Verteidigungsreaktion sind bewusste Furcht und Angst nicht genetisch programmiert, sondern Folgen unserer kulturellen Entwicklung. Es liegt in unserer Macht, sie in ihre Grenzen zu verweisen, um unserer Erfindungskraft freie Bahn zu gewähren.

Der Biochemiker Dr. Gottfried Schatz ist emeritierter Professor der Universität Basel. Bei NZZ-Libro sind erschienen: «Jenseits der Gene», «Zaubergarten Biologie» und «Feuersucher. Die Jagd nach den Rätseln der Lebensenergie».


Nota.  Zentralorgan - Gottfried Schatz dürfte den Ausdruck mit Bedacht gewählt haben. Weil sie im Gehirn eine solche Zentrale nicht gefunden hatten, waren die Hirnforscher um Wolf Singer und Gerhard Roth seinerzeit zu dem Ergebnis gekommen, dass es "ein Ich" in der Wirklichkeit nicht gäbe, und dehnten ihr Verdikt unerlaubter Weise gleich auf das 'Ich der Philosophen' aus. Gottfried Schatz spricht das Thema direkt an und lässt ahnen, dass das Ich und sein freier Wille womöglich aus Furcht und Verteidigung entstanden seien. 

Dabei handelt es sich freilich um die realen Personen und das Ich der Psychologen. Das ist aber nicht dieselbe Baustelle wie die der Philosophie.
JE


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