Montag, 21. Oktober 2013

Büchner, Hirnforscher.

aus NZZ, 19. 10. 2013                                        aus einem französischen Anatomie-Traktat von 1786.

«Wir müssten die Gedanken aus den Hirnfasern zerren»
Georg Büchner als Hirnforscher und Anatom.  


Von Michael Hagner 

Als Dichter sezierte Georg Büchner die menschliche Gesellschaft und Psyche, als Naturforscher nahm er sich das Gehirn vor: Das der Barbe sollte Aufschluss auch über das des Menschen geben.

Im Juni 1836 schrieb Karl Gutzkow an Georg Büchner, der seine Doktorarbeit über das Nervensystem der Barbe gerade abgeschlossen hatte und seinen Umzug von Strassburg nach Zürich vorbereitete: «Seien Sie nicht ungerecht gegen dies Studium [der Medizin]; denn diesem scheinen Sie mir Ihre hauptsächliche Force zu verdanken, ich meine, Ihre seltene Unbefangenheit, fast möcht' ich sagen, Ihre Autopsie, die aus allem spricht, was Sie schreiben.» Die von Gutzkow diagnostizierte Autopsie bedeutet, die Dinge selbst in Augenschein zu nehmen und, mehr noch, mit dem anatomischen oder dem literarischen Skalpell ins Fleisch des Körpers oder der Gesellschaft zu schneiden, um die unter der Oberfläche verborgenen Ursachen der Phänomene hervorzukehren. So gesehen war Büchner ein Anatom in doppelter Hinsicht. Und der einzige anatomische Gegenstand, dem er sich in seinem kurzen Leben widmen konnte, das Gehirn, steht nicht nur im Zentrum seiner Dissertation und seiner Zürcher Probevorlesung «Über die Schädelnerven», sondern taucht auch an einigen wenigen, jedoch eklatanten Stellen seiner Dramen auf.

Der Hintergrund

Den Zusammenhang von Büchners anatomischen und literarischen Hirnsektionen zu verstehen, setzt voraus, sie vor dem Hintergrund der Hirnforschung des frühen 19. Jahrhunderts zu betrachten, die zwei grundlegend unterschiedliche Zugänge zum Verständnis des Gehirns erlaubte. Der eine ging von der am höchsten entwickelten Form aus, also vom menschlichen Gehirn. Repräsentativ dafür war die damals verbreitete Hirnlehre von Franz Joseph Gall, die eine erste psychologisch motivierte Lokalisationstheorie darstellte und in ihren Grundannahmen bis zum heutigen Tag in den Neurowissenschaften Gültigkeit hat. Sie besagt, dass die verschiedenen kognitiven, emotionalen und triebhaften Qualitäten des Menschen ihren Sitz und Ursprung im Gehirn haben. Demzufolge wird das Gehirn im Hinblick auf diese verschiedenen funktionalen Regionen untersucht. Das wäre, wenn man so will, ein Top-down-Ansatz.


Beim zweiten Ansatz ging man von den einfachsten Strukturen des Nervensystems aus und untersuchte, darauf aufbauend, komplexere Strukturen, bis man dann irgendwann beim menschlichen Gehirn ankam. Das war der Weg, den romantische Naturforscher wie Carl Gustav Carus und vor ihm bereits Lorenz Oken gewählt hatten. Beide stellten für Büchner den Ausgangspunkt seiner eigenen Forschungen dar. Oken äusserte kurz nach 1800, als er Professor in Jena wurde, den provozierenden und revolutionären Satz: «Der Mensch ist ein Wirbelbein.» Damit wollte er programmatisch verdeutlichen, dass die Entwicklung vom Einfachen hin zum Komplexen stattfindet - und wenn man dieses verstehen will, muss man bei jenem beginnen. Das wäre der Bottom-up-Ansatz.

Büchner hat in seinen Hirnlektionen beide Wege beschritten: In der Anatomie geht er den Weg von unten nach oben. Er beschränkt sich auf das einfache Gehirn der Barbe - eines Süsswasserfisches, der auch den Rhein bevölkerte und damit leicht zu beschaffen war - und hofft, auf diesem Wege vielleicht irgendwann zum Verständnis des menschlichen Gehirns vorzudringen. In der Dichtung beschreitet er den umgekehrten Weg von oben nach unten. Damit ist nicht gemeint, das tierische Gehirn lasse sich vom menschlichen Gehirn aus erschliessen, doch sobald Büchner von diesem redet, geht es um Brutalität und Bestialität des menschlichen Geistes, also Eigenschaften, die in der Logik des 19. Jahrhunderts - auch vor Darwin - mit einer tierischen Natur assoziiert wurden. Büchner hing dieser Logik nicht unbedingt an, aber gemeinsam mit dem naturphilosophischen Entwicklungsgedanken bildete sie den Rahmen für seine Beschäftigung mit dem Gehirn.

Den Maximalanspruch der Hirnforschung hat Büchner gleich in seinem ersten Stück, «Dantons Tod», thematisiert. In einer so bekannten wie rabiaten Formulierung schlägt er vor, Gedanken direkt am Ort ihrer Entstehung zu fassen: «Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.» Danton, dem Büchner diesen Satz in den Mund legt, reagiert mit der Forderung auf die Vergeblichkeit der Versuche, einen anderen Menschen wirklich zu kennen: Das Authentische findet sich nicht in den Worten und Blicken, Gesten und Taten, sondern nur im Gehirn selbst; als ob sich die Gedanken in der Hardware befänden und, wenn sie tatsächlich da wären, auch noch verstehen liessen; als ob die Hirnfasern, die jenseits von Gut und Böse, Lüge und Wahrheit sind, Auskunft über Gedankeninhalte geben könnten.

Büchners martialische Hirnanatomie lässt sich auf drei Ebenen betrachten, nämlich einer vivisektorischen, einer topografischen und einer utopischen. Die gewalttätige Schädelöffnung passt zur Schreckensherrschaft der Guillotine während der Französischen Revolution, aber die Forderung danach war älter. Schon Mitte des 18. Jahrhunderts hatte Pierre-Louis Moreau de Maupertuis, Aufklärer, Philosoph und Mathematiker, gefordert, vivisektorische Experimente am Gehirn von zum Tode verurteilten Kriminellen vorzunehmen. Dem kamen die Praktiken unter der Guillotine nach 1793 ziemlich nahe, denn ausgehend von der Frage, ob es sich hierbei um eine humane Beförderung vom Leben in den Tod handle, führten Ärzte galvanische Experimente an frisch guillotinierten Köpfen durch, um zu untersuchen, ob in diesen Köpfen noch Bewusstsein und Schmerzempfinden vorhanden waren. Damit war die Guillotine vielleicht nicht der «beste Arzt», wie es in «Dantons Tod» heisst, aber doch Teil eines Experimentalaufbaus, der sich den Zusammenhang von Gehirn und Geistesleben in vivo vornahm.

«Unsterblichste Experimente»

Büchner kommt auf ein vergleichbares Szenario im «Woyzeck» noch einmal zurück, wenn er den Doktor zum Hauptmann sagen lässt, dieser werde in Kürze einen Schlaganfall erleiden. Für den gnadenlosen Experimentator, der Woyzeck monatelang mit Erbsen fütterte, eröffnet das die schönsten Aussichten: «Wenn Gott will, dass Ihre Zunge zum Teil gelähmt ist, so machen wir die unsterblichsten Experimente.» An Zynismus ist das kaum zu überbieten, denn so, wie ein guillotinierter Kopf nicht mehr sagen kann, wie es ist, nur noch Kopf zu sein, kann auch ein durch Schlaganfall an motorischer Aphasie oder Sprachlähmung leidender Hauptmann nicht mehr berichten, welche «unsterblichsten Experimente» mit ihm angestellt wurden. Wo im 19. Jahrhundert ist der furchterregende Zusammenhang von Gehirn, Geist und Vivisektion klarer und präziser formuliert worden als in diesen wenigen Sätzen aus «Woyzeck» und «Dantons Tod»?

Die zweite Betrachtungsebene gilt der topografischen Annäherung an den Ort der Gedankenentstehung. Für die Hirnforschung jener Zeit war es selbstverständlich, Denken, Erleben und Empfinden an spezifische Vorgänge im Gehirn zu koppeln. Es ist unklar, wie gut Büchner mit der Hirnlehre Galls vertraut war, aber jedenfalls teilte er dessen psychologisch motiviertes Anliegen, den Menschen nicht mehr als göttliches Wesen anzusehen, sondern in seinen alltäglichen Verhaltensweisen zu verstehen. Die illusionslosen Psychografien des Dichters und Galls materialistische Hirnpsychologie ergänzen einander vortrefflich. Wenn Danton die Frage stellt: «Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet?», dann konnte er sie 1794, also zu dem Zeitpunkt, da das Drama spielt, so nicht beantworten. Wenige Jahre später gab Gall folgende Antwort: Es ist die spezifische Konstellation unserer Hirnorgane.

Natürlich gab es damals auch andere Antwortmöglichkeiten, aber in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war Galls Antwort die naheliegendste und populärste. Dass Büchner die Frage zuerst in dem sogenannten Fatalismusbrief an seine Verlobte richtete - und einer möglichen Antwort sogleich auswich -, verführt zumindest zu der Annahme, dass er dabei die phrenologische Lehre und ihre Konsequenzen im Hinterkopf hatte. Man könnte auch umgekehrt sagen: Ohne Galls Hirnlehre hätte Büchners Frage auf diese Weise gar nicht formuliert werden können.

«Urgesetz der Schönheit»

Kommen wir schliesslich zur utopischen Dimension der Forderung, die Verknotung von Gedanke und Hirnfaser aufzulösen. In dieser Hinsicht übersteigt Büchner den anthropologischen Anspruch der damaligen Hirnforschung, denn nicht einmal Gall ging so weit, durch einen Blick ins lebende Gehirn für jeden Gedanken und jedes Gefühl das genaue zerebrale Korrelat erfassen zu wollen. Eine Faser, ein Gedanke. Was sich einerseits wie ein halsbrecherischer Ausblick auf die Neurowissenschaften des frühen 21. Jahrhunderts verstehen lässt, die mit den Mitteln digitaler Bildgebung versuchen, die Gedanken durch die Messung zerebraler Aktivitäten zu decodieren, hat andererseits historische Bezüge, die bis ins späte 18. Jahrhundert zurückreichen. Zu jener Zeit nämlich nahm der Sensualismus an, dass es für jeden einzelnen Sinneseindruck eine spezifische Hirnfaser gebe. Nach diesem Verständnis war das Gehirn ein Konglomerat aus zahllosen Fasern, die nach und nach mit Sinneseindrücken aufgefüllt wurden. Diese Theorie wurde von der zunehmend empirisch orientierten Hirnforschung erst einmal nicht weiterverfolgt, doch genau zu der Zeit, als Büchner sich literarisch und anatomisch mit dem Gehirn beschäftigte, hielt die Nervenfaser Einzug in die Hirnforschung.

1836, ein Jahr nach der Veröffentlichung von «Dantons Tod», publizierte der Breslauer Anatom Gustav Gabriel Valentin eine bahnbrechende Abhandlung, in der er die Struktur des Nervensystems auf Zellen und auf Fasern zurückführte. Mit diesen beiden anatomischen Strukturen glaubte er den Urtypus gefunden zu haben, der das Nervensystem aller Lebewesen ausmacht. Es spricht nichts dafür, dass Büchner Valentins Arbeit noch zur Kenntnis nehmen konnte, aber zweifellos hätte er sie in ihrem naturphilosophischen Anspruch begrüsst, den Aufbau des Gehirns «als Manifestation eines Urgesetzes, eines Gesetzes der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt», zu verstehen. Diese Worte könnten von Valentin stammen, sind aber von Büchner, der fortfährt: «Alles, Form und Stoff ist für sie [die philosophische Methode] an dieses Gesetz gebunden.»

In der Zürcher Probevorlesung gewährte der angehende Privatdozent sich einen ästhetischen Blick auf den Organismus und so auch auf das Gehirn, wenn er von den «schönsten und reinsten Formen im Menschen» sprach und von der «Vollkommenheit der edelsten Organe, in denen die Psyche fast den Stoff zu durchbrechen und sich hinter den leichtesten Schleiern zu bewegen scheint». Natürlich, das ist auch Rhetorik, werbend um das Publikum, insbesondere um den berühmten Lorenz Oken, der damals als erster Rektor der Universität Zürich wohl mit im Auditorium sass. Doch Büchners Worte sind völlig kompatibel mit seinem Forschungsprogramm, das eben den langen Weg von den einfachsten hin zu den komplexesten Nervensystemen beschreitet.

Der Kontrast könnte kaum grösser sein. Wenn Büchner als Anatom sagt: «Es dürfte wohl immer vergeblich bleiben gerade bey der verwickeltsten Form, nämlich bey dem Menschen anzufangen», dann fängt er als Dichter genau beim menschlichen Gehirn an. Wenn in den anatomischen Schriften, im naturphilosophischen Tonfall, das Gehirn als Insel der Harmonie beschrieben wird, so erscheint es in den Dichtungen als Schlachtfeld, auf dem sich Brutalität und Bestialität austoben.

Es wäre zu billig, das mit der spekulativen Freiheit begründen zu wollen, die sich der Dichter gegenüber dem Naturforscher erlauben darf. Erstens war auch Büchners Hirnanatomie nicht frei von Spekulationen, und zweitens bezog sich auch seine Hirndichtung auf manifeste historische Ereignisse und Ansichten, in denen das Gehirn seit dem späten 18. Jahrhundert zu einem wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Gegenstand geworden war. Insofern ist es angemessener, von zwei Perspektiven auszugehen, die die Oszillation des Gegenstands Gehirn zwischen Erkenntnis und ästhetischer Betrachtung, Neugier und Obsession sichtbar werden lassen. Büchner hat als einer der Ersten bemerkt, dass die Beschäftigung mit dem Gehirn nicht unschuldig sein kann. Von dieser Irritation, die auch heute noch den Blick auf das Gehirn bestimmt, handeln Büchners Hirnlektionen.

Prof. Dr. Michael Hagner lehrt Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Er hat mehrere Bücher zur Geschichte der Hirnforschung verfasst. Kürzlich ist der von ihm herausgegebene Sammelband «Wissenschaft und Demokratie» (bei Suhrkamp) erschienen.

LEBEN UND WERK
 
rbl. · Georg Büchner wird am 17. Oktober 1813 in Goddelau bei Darmstadt geboren. Ab 1821 besucht er die Schulen in Darmstadt. 1831 immatrikuliert er sich an der medizinischen Fakultät in Strassburg. Hier verlobt er sich 1833 mit Wilhelmine Jaeglé, danach Rückkehr nach Darmstadt und Fortsetzung des Studiums in Giessen. Mitte März 1834 schreibt Büchner den Entwurf zum «Hessischen Landboten», dessen Verbreitung im Juli bei einem konspirativen Treffen beschlossen wird. 1200 Exemplare der Flugschrift werden in Offenbach gedruckt. Nach der Verhaftung eines Mitverschworenen warnt Büchner die übrigen Beteiligten und wird seinerseits zu Verhören vorgeladen. Im Januar 1835 beginnt Büchner mit der Reinschrift von «Dantons Tod», im März flieht er nach Strassburg. 1836 arbeitet Büchner zunächst an seiner Dissertation über das Nervensystem der Barbe und danach am Lustspiel «Leonce und Lena» sowie an Entwürfen für «Woyzeck». Im Herbst 1836 reist er nach Zürich, hält hier eine Probevorlesung und wird als Privatdozent an der Universität zugelassen. Am 2. Februar 1837 erkrankt Büchner an Typhus und stirbt am 18. Februar, am Tag nach der Ankunft seiner Verlobten.

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