Sonntag, 20. Oktober 2013

Büchner, Dichter und Revolutionär.

aus NZZ, 19. 10. 2013

Der Schweiss der Armen
Vor zweihundert Jahren wurde der Dichter und Revolutionär Georg Büchner geboren (17. Oktober)


Als Georg Büchner am 19. Februar 1837 23-jährig in Zürich starb, hinterliess er ein schmales, eminentes literarisches Werk. Er gehörte aber auch zu den Stichwortgebern des revolutionären Umbruchs in Hessen. Schuldgefühle wegen der Inhaftierung seiner Gesinnungsfreunde verfolgten ihn bis zuletzt.

von Manfred Koch

«Schwermut und Revolte» heisst ein brillanter Büchner-Essay des kürzlich verstorbenen Walter Jens aus dem Jahr 1964. Mit dem Titel «Schwermut oder Revolte» könnte man die gesamte Büchner-Diskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überschreiben. Es tobte, vor allem nach 1968, ein förmlicher Glaubenskrieg der Interpreten um die Frage, welcher Büchner der wahre sei: der Melancholiker, der sich kurzfristig in die Politik verirrte, oder der Frühkommunist, der nach dem Scheitern seines hessischen Umsturzprojekts in seinen Dramen ungebrochen die Notwendigkeit einer sozialen Revolution proklamierte? Die Hardliner der beiden Lager entwarfen konträre Zerrbilder: den «Links-Büchnerianern» war, ohne dass sie das so recht eingestehen wollten, der «Hessische Landbote» das Hauptwerk, der Rest - immerhin drei der bedeutendsten Dramen der deutschen Literatur und eine epochemachende Erzählung - wurde einzig auf Reflexe der politischen Kampfschrift abgeklopft.

Die «Rechten» neigten dazu, das in allen Büchnertexten spürbare wütende Aufbegehren gegen die Ausbeutung und Erniedrigung der Armen im Nebel eines metaphysischen Elends, dem der Mensch schlechterdings ausgesetzt sei, zu verflüchtigen. Büchners Botschaft reduzierte sich nach ihnen auf zwei traurige Sätze seiner Dramenfiguren: «Ich glaube, es gibt Menschen, die unglücklich sind, unheilbar, bloss weil sie sind» (Lena in «Leonce und Lena»). Und: «Wir müssen's wohl leiden» (Lucile in «Dantons Tod»).

Dokument der Verzweiflung

Heute sind die Extrempositionen geräumt, die weltanschaulichen Grabenkämpfe um Büchner gehören der Vergangenheit an. Man ist sich mehr oder weniger einig, dass gerade die Widersprüche das Faszinierende Büchners - der Person wie des Werks - ausmachen. Dann aber stellt sich die Frage, wie genau das Widerspiel von Schwermut und Revolte zu verstehen ist. Konkret: Wie wurde in etwas mehr als einem Jahr aus dem 20-jährigen depressiven Medizinstudenten Georg Büchner (Winter 1833/34) der entschlossene politische Verschwörer (Sommer/Herbst 1834), der dann, von Verhaftung bedroht, urplötzlich als genialer Dramenautor hervortrat («Dantons Tod» entstand im Januar/Februar 1835)?

Im Januar 1834 schrieb Büchner den berühmten «Fatalismusbrief» an seine Strassburger Verlobte Minna Jaeglé, ein Dokument der Verzweiflung über sein persönliches Befinden und den trostlosen Gang der Geschichte. Ein halbes Jahr war er zu diesem Zeitpunkt wieder in Deutschland, hatte zunächst bei seinen Eltern in Darmstadt gewohnt und dann in Giessen sein Medizinstudium fortgesetzt, das er aufgrund einer Hirnhautentzündung sofort wieder unterbrechen musste. Die Krankheit dürfte auch psychosomatisch bedingt gewesen sein. Nachdem er nahezu zwei Jahre in Strassburg französische Freiheitsluft geatmet hatte, war ihm das Klima der hessischen Provinz in jeder Hinsicht zuwider.

«Hier ist kein Berg, wo die Aussicht frei sei. Hügel hinter Hügel und breite Täler, eine hohle Mittelmässigkeit in Allem; ich kann mich nicht an diese Natur gewöhnen und die Stadt ist abscheulich.» Gemeint ist Giessen, die Kleinstadt, an deren Universität er als hessisches Landeskind sein Studium abschliessen musste. Aber auch das nahe gelegene Darmstadt, in dem er aufgewachsen war, Sitz des Grossherzogs und seiner Administration, kommt in seinen Texten nicht viel besser weg: Die albernen Zwergkönigreiche «Pipi» und «Popo» in «Leonce und Lena» sind eine deutliche Verhöhnung von Darm-Stadt.

Büchner war ein rebellischer Bürgersohn, sein Herkunftsmilieu - das mit dem Hof und seinem gewaltigen Beamtenapparat eng verflochtene Besitz- und Bildungsbürgertum der Residenzstadt - war ihm verhasst. Noch vor dem Mitleid mit den Armen machte die Aversion gegen diese Gesellschaft ihn zum Aufrührer. Viel ist in der Büchner-Literatur darüber spekuliert worden, welchen Anteil sein Vater, der angesehene Medizinalrat Ernst Büchner, am Groll des begabten Sohnes hatte. Manche Biografen zeichnen ihn in seiner Rigidität und Strenge geradezu als pädagogisches Monster. Doch so schlimm kann Ernst Büchner nicht gewesen sein. Immerhin erwirkte er für Georg die Sondergenehmigung, die das Studium in Frankreich ermöglichte. Er lenkte - als ehemaliger Militärarzt unter Napoleon - das Interesse des Sohns auf die Geschichte der Französischen Revolution. Und nicht zuletzt führte er ihn ein in die Welt der Anatomie und lehrte ihn den physiologischen Blick, der zu Büchners stärkster literarischer Waffe wurde.

Sprunghafte Entwicklung

Wenn in der Büchner-Biografik mit leichtem Gruseln an die wunderlichen Experimente des Ernst Büchner erinnert wird - u. a. fütterte er einen Dackel mit Stecknadeln, um zu überprüfen, ob Menschen durch Nadelschlucken Selbstmord begehen können -, sollte stets bedacht werden, wie Georg Büchner die brutale Direktheit der Sprache, in der sein Vater solche Versuche wiedergab, später kreativ umsetzte. Auch hier bleibt ein Widerspruch. Offen gegen den Vater rebelliert hat Büchner nie. Zuletzt, im Strassburger und Zürcher Exil, hat er sich sogar in einem Mass, das die väterlichen Ansprüche fast überstieg, für eine naturwissenschaftliche Universitätskarriere ins Zeug gelegt (von einem «subtilen Selbstmord» durch Überarbeitung sprach nach Büchners Tod sein Freund Wilhelm Schulz). Aber zwei von Büchners Helden, Lenz und Leonce, sind Flüchtlinge vor Vätern, die tüchtige Berufsmenschen aus ihnen machen wollen. Auf den ironischen Vorschlag seines Gefährten Valerio, «nützliche Glieder der menschlichen Gesellschaft» zu werden, antwortet Leonce: «Lieber möchte ich meine Demission als Mensch geben.»

Die Rückkehr ins Vaterland Hessen empfand Büchner fast wie eine Inhaftierung. Die Folge war eine Depression, die sich auch zu Zweifeln an den politischen Befreiungsprojekten, die er in Frankreich kennengelernt hatte, auswuchs. Umso erstaunlicher die rasche Wandlung zum politischen Aktivisten! Im März 1834 gründet Büchner die Giessener «Gesellschaft der Menschenrechte»; vermutlich parallel dazu entsteht die erste Fassung des «Hessischen Landboten».

Es bietet sich an, diese sprunghafte Entwicklung als «manisch-depressives Verhalten» zu deuten. Damit ist aber nicht erklärt, was Büchner eigentlich aus seiner Krise befreite. Es war, vereinfacht gesagt, die Sprache. Büchner war schon als Gymnasiast ein talentierter und gut ausgebildeter Rhetor. Auf seine Giessener Mitverschwörer machte er, glaubt man ihren Zeugnissen, den überwältigenden Eindruck eines charismatischen Redners. Diese rhetorische Sprachgewalt prägt auch den «Hessischen Landboten». Mit dem politischen Engagement entdeckte Büchner die (auch ihn selbst begeisternde) Wirkungsmacht seiner Sprache. Jenseits der konventionellen rhetorischen Techniken, die bereits der Schüler beherrschte, zeigt die Flugschrift schon jene sprachliche Konzentration auf den Körper, die für das spätere Werk charakteristisch ist.

Bekanntlich hat der «Hessische Landbote» zwei Verfasser. Die nicht erhaltene erste Niederschrift Büchners wurde von Ludwig Weidig, dem tapferen Pfarrer und Hauptorganisator des hessischen Widerstands, überarbeitet und in ihrer sozialrevolutionären Ausrichtung entschärft. Eindeutig zuordnen lassen sich die Textanteile nicht mehr. Es spricht aber vieles dafür, dass der zunehmend im Predigerton gehaltene zweite Teil («Sehet an!»; «Wehe über euch!») von Weidig stammt, der erste von Büchner. Denn hier wird mit drastischen Körperbildern agitiert, die auf einen Autor schliessen lassen, der mit dem Skalpell arbeitete. Die geläufige Rede von den fürstlichen «Blutsaugern» erweitert der Text auf das ganze Spektrum der Körperflüssigkeiten. Der Schweiss der Armen, heisst es eingangs, sei «das Salz auf dem Tische des Vornehmen» (es ist der Schweiss derer, von denen in der Bergpredigt gesagt wird, sie seien «das Salz der Erde»). Eine «Legion unnützer Beamten» mäste sich an ihrem Schweiss, die schönen Kleider der Reichen seien «gefärbt in ihrem Schweiss», die fürstlichen Lampen «illuminiert mit dem Fett der Bauern».

Die Körpermetaphorik soll das abstrakte Unrecht - die ungleiche Besteuerung der Untertanen - als physische Verletzung, als Tortur spürbar machen. Der Höhepunkt ist erreicht, wo Büchner die Metapher vom «geschundenen Volk» mit einem Jean-Paul-Zitat wörtlich nimmt - als Hautabziehen: «Das Volk ist ihre Herde, sie sind seine Hirten, Melker und Schinder; sie haben die Häute der Bauern an [. . .], die Tränen der Witwen und Waisen sind das Schmalz auf ihren Gesichtern.» Immer geht es um den Einschnitt in die Haut und die Entwendung der intimsten Körperflüssigkeiten: Blut, Fett, Tränen, Schweiss.

Ein Dreivierteljahr später, in «Dantons Tod», taucht dieses Schinden wieder auf, diesmal in umgekehrter Richtung. Nun ist es ein namenloser Pariser Revolutionär, der sich mehr als blutig an den Aristokraten rächen will: «Wir wollen ihnen die Haut von den Schenkeln ziehen und uns Hosen daraus machen, wir wollen ihnen das Fett auslassen und unsre Suppen mit schmelzen. Fort! Totgeschlagen, wer kein Loch im Rock hat!» Die Agitationssprache des «Landboten» erscheint in «Dantons Tod» als Moment einer fatalen Radikalisierung der Französischen Revolution, die am Ende, im Hochleistungsbetrieb der Guillotine, Aristokraten und Revolutionären gleichermassen das Leben kostet. Dass Büchner sich auf diese Weise selbst zitiert, die Tödlichkeit seiner eigenen Rhetorik andeutet, verweist auf einen tiefen Zwiespalt, der dem Drama zugrunde liegt.

Schuldkomplex

Hermann Kurzke hat in seiner grossen Büchner-Biografie, der wichtigsten Neuerscheinung zum Gedenkjahr 2013, nachdrücklich daran erinnert, dass «Dantons Tod» um einen Schuldkomplex kreist. Büchner schrieb das Stück unmittelbar vor seiner Flucht nach Frankreich, von Verhaftung bedroht, in panischem Entsetzen angesichts der Nachrichten über befreundete Mitverschwörer, die in den herzoglichen Gefängnissen furchtbare Qualen litten. Nicht dass er seinem politischen Engagement, dem hessischen Freiheitsversuch, nun grundsätzlich die Legitimität abgesprochen hätte. Die Verhältnisse waren unerträglich, die Empörung dagegen berechtigt, und wie anders als gewaltsam konnte denn eine Veränderung herbeigeführt werden? Aber hatte er nicht doch ein praktisch aussichtsloses Unternehmen initiiert und vorangetrieben, hatte er nicht - selbst mitgerissen von seinen rhetorischen Fähigkeiten - die Freunde zu Aktionen begeistert, für die sie nun grausam gestraft wurden?

Im Stück ist es laut Personenverzeichnis «Georg Danton» (nicht Georges), den seine Verantwortung für die Septembermorde nicht zur Ruhe kommen lässt. Georg Büchner kam nach dem Zeugnis seines Bruders Ludwig immer wieder auf seine «Mitschuld» am «grässlichen Unglück» der inhaftierten Freunde zu sprechen. Noch auf dem Sterbebett in der Zürcher Spiegelgasse galt sein letztes Aufbäumen - das berichtet Wilhelm Schulz, der ihn pflegte - den «politischen Schlachtopfern», die in den Gefängnissen in den Wahnsinn getrieben oder zu Tode gequält würden. Büchner war entkommen. Danton hingegen geht mit seinen politischen Weggefährten ins Gefängnis und gemeinsam mit ihnen auch in den Tod. Seine letzten Worte, gerichtet an den Henker, der sie unters Fallbeil legt, lauten: «Kannst du verhindern, dass unsere Köpfe sich auf dem Boden des Korbes küssen?» «Dantons Tod» ist ein Revolutionsdrama, gewiss, im Kern aber wohl eher ein Gefangenendrama, eine Selbstbestrafungs- und Versöhnungsphantasie zugleich.

Vergegenwärtigung des Leids

Dantons Gegenspieler Robespierre und St. Just sind Doktrinäre, die unbeirrbar ihren Weg gehen, überzeugt vom geschichtlichen Ziel, das die Menschenopfer rechtfertigt. Robespierre immerhin lässt sich im Gespräch mit Danton für einen Augenblick erschüttern; er ahnt die niedrigen, selbstsüchtigen Wurzeln seiner «Tugend». Doch das Töten geht weiter, angetrieben vom Rhetor St. Just, der Worte wie Guillotinenmesser einzusetzen weiss. Solche Figuren, die mit sich im Reinen sind, hohe Ideale predigen und zugleich die hilflosen Hungerleider für ihre Zwecke instrumentalisieren, verfallen in Büchners Werk der bösesten Kritik, gleichgültig ob sie fanatische Jakobiner oder saturierte, selbstgefällige Bürger sind (wie der Doktor im «Woyzeck»).

Von Utopien mit umfassendem Erlösungsanspruch hielt Büchner nichts, allgemeine Aufrufe zum Widerstand finden sich in seinem literarischen Werk keine mehr. Umso eindringlicher wird dafür seine Vergegenwärtigung des konkreten Leids der Armen und Kranken, das mehr und mehr nur noch als sprachloser Körperausdruck erscheint, als Stammeln, Zucken, Schrei. Kunst machen, schreibt Kurzke, wollte Büchner nicht, vielmehr den Schmerz mitteilen, ohne ihn zu stilisieren, ihn in schöne oder pathetische Worte zu kleiden. Unsentimental sollte sein Schreiben sein, in der Wirkung nicht ergreifend, sondern einschneidend. Weil ihm dies gelang, geht von Büchners Werk noch auf heutige Leser ein heftiger Impuls zur Solidarisierung aus, ein Appell zu «retten, retten», wie ihn der geschundene Dichter Lenz verzweifelt herausschreit.

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