Dienstag, 11. März 2014

Ist Systematizität das Wesen der Wissenschaft?

aus NZZ, 11. 3. 2014

Das Wesen der Wissenschaft  
Paul Hoyningen-Huene skizziert eine Theorie der «Systematizität»

von Karim Bschir · Die Wissenschaft spielt zweifellos eine bedeutende Rolle in unserer Gesellschaft. Doch was ist eigentlich Wissenschaft? Was zeichnet diese so wichtige und vielfältige menschliche Praxis als solche aus? Auch die Philosophie hat sich diese Frage seit der Antike immer wieder gestellt. Dies führte nicht selten zu dem Versuch, Wissenschaft durch eine ganz bestimmte Methode zu charakterisieren und so von anderen Formen des Wissens abzugrenzen. Man denke dabei etwa an den Positivismus des Wiener Kreises oder an Karl Poppers berühmte Methode der Falsifikation. Es gab allerdings auch Stimmen, die sich gegen diesen Versuch ausgesprochen haben. So hat Paul Feyerabend darauf hingewiesen, dass ein genauer Blick auf die Geschichte und die tatsächliche Praxis der Wissenschaft zeige, dass diese allenfalls dem Prinzip des «anything goes» folge und dass so etwas wie «die wissenschaftliche Methode» nicht existiere.

Der in Hannover lehrende Wissenschaftsphilosoph Paul Hoyningen-Huene gibt in seinem Buch «Systematicity - The Nature of Science» der Frage nach dem Wesen der Wissenschaft eine neue Wendung. Im Gegensatz zu Feyerabend, der aus der Annahme, die Wissenschaft folge keiner einheitlichen Methode, den Schluss zog, dass sie sich durch nichts von anderen menschlichen Tätigkeiten und Wissensformen unterscheide, ist Hoyningen-Huene sehr wohl vom eigenständigen Charakter der Wissenschaft überzeugt. Obschon er eingesteht, dass es keine allgemeine Definition von Wissenschaftlichkeit gebe, glaubt er, dass wissenschaftliches Wissen sich durch ein besonderes Merkmal von anderen Formen des Wissens unterscheide: durch sein höheres Mass an Systematizität.


Damit ist wenig und gleichzeitig vieles gesagt. Denn auf den ersten Blick scheint es geradezu trivial, zu behaupten, die Wissenschaft sei systematischer als das Alltagswissen. Doch wie so oft in der Philosophie verlangen gerade mutmasslich triviale Behauptungen nach besonders sorgfältigen Begründungen. Und so identifiziert Hoyningen-Huene neun Dimensionen, in denen die Wissenschaften ein höheres Mass an Systematizität aufweisen als die entsprechenden Bereiche des Alltagswissens. Es sind dies: Beschreibungen, Erklärungen, Voraussagen, die Verteidigung von Wissensansprüchen, der kritische Diskurs, die empirische Vernetzung, ein Ideal von Vollständigkeit, die Genese von neuem Wissen und die Repräsentation von Wissen.

Im ersten Teil des Buches wird jede der neun Dimensionen genau unter die Lupe genommen. Dabei wird deutlich, dass nicht jede wissenschaftliche Disziplin, um als solche zu gelten, sich zwingend in allen neun Dimensionen auszeichnen muss. So gelingt es dem Autor, seine These nicht nur auf die Naturwissenschaften, sondern ebenso auch auf die Geisteswissenschaften anzuwenden, insofern auch Letztere in mancherlei Hinsicht einen hohen Grad an Systematizität an den Tag legen. Im zweiten Teil vergleicht er seine Theorie mit den Positionen von Aristoteles, Descartes, Kant, dem logischen Empirismus, Popper, Kuhn, Feyerabend und mit jener des amerikanischen Philosophen Nicholas Rescher: Die Genannten hätten wichtige Beiträge zum Verständnis von Wissenschaft geleistet, seien allesamt auf die eine oder andere Weise einseitig gewesen. Die Systematizitätstheorie erhebt damit - wenig verwunderlich - den Anspruch, vollständiger zu sein als alle vorhergegangenen Wissenschaftstheorien. Und in der Tat: Mit dem Buch Paul Hoyningen-Huenes liegt nun eine allgemeine Wissenschaftsphilosophie vor, die der Vielfalt der Wissenschaft gerecht wird, ohne dabei in Einseitigkeiten oder Relativismus abzugleiten.

Die zahlreichen Beispiele, die der Argumentation zur Seite gestellt sind und die von Physik, Astronomie, Geometrie, Geografie, Geologie und Meteorologie bis hin zu Soziologie, Literaturtheorie, Anthropologie und Ökonomie reichen, machen das Buch umso anschaulicher und lesenswerter. Trotz der Fülle des Materials behält der Text stets die grosse Frage im Auge, was die Wissenschaft als ganze auszeichne; und diese Frage ist gewiss nicht nur für einen esoterischen Kreis von Philosophen interessant.

Paul Hoyningen-Huene: Systematicity - The Nature of Science.
Oxford University Press 2013. 304 S., $ 58.50.


Nota.

Systematizität ist nur sekundär Charakter der Wissenschaft. Sie ist Bedingung dafür, dass sich die Einzelwissenschaften zu öffentlichem Wissen entwickeln können, weil sie nur so allgemein zugänglich und miteinander vergleichbar sind. Wäre jede einzelne Wissensdisziplin ein eigenes Labyrinth, blieben sie esoterisch, weil nicht von außen kritisierbar. Sie wären Unwissenschaft.

Historisch betrachtet, hat der Autor natürlich Recht:  Nur indem sich die Einzeldisziplinen um Systematik bemühten, wurden sie vergleichbar und wurden sie allgemeines, öffentliches Wissen.
JE

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