Mittwoch, 12. März 2014

Die kambrische Explosion.

aus NZZ, 5. 2. 2014

Der Beginn einer neuen Zeit, bewahrt in Stein
Fossilien geben Hinweise auf die Grundlagen und den Ablauf der sogenannten kambrischen Explosion

von Kurt de Swaaf 

Das Kambrium zeichnet sich durch eine neu entstehende Vielfalt von Arten und Ökosystemen aus. Die Erforschung von Fossilien aus dem Norden Grönlands bietet Einblick in diese sogenannte kambrische Explosion. 

82° 47,6' Nord, 42° 13,3' West: Wer zum Sirius Passet will, muss buchstäblich ans Ende der Welt reisen. Die Landenge zwischen zwei Fjorden im nördlichsten Grönland ist nur per Flugzeug oder Hundeschlitten erreichbar. «Oder mit einem Eisbrecher», sagt John Peel, Paläontologe von der Universität Uppsala. Peel hat den extrem entlegenen Ort mehrfach besucht. Aus gutem Grund: Am Sirius Passet befindet sich eine fast einzigartige Fossilien-Lagerstätte. Die dort anstehende Buen-Gesteinsformation enthält aussergewöhnlich gut konservierte Überreste von Tierarten, die vor etwa 518 Millionen Jahren den Ozean bevölkerten - just zu jener Zeit, als eines der grössten Mysterien der Evolution stattfand, die kambrische Explosion.

Enorme Vielfalt neuer Formen

Der Begriff steht für die Entstehung einer enormen Vielfalt neuer Tierformen im Erdzeitalter des Kambriums (vor etwa 541 bis 480 Millionen Jahren). Damals wurde praktisch die moderne Fauna begründet - mit Würmern, Mollusken, Gliederfüssern und den Vorläufern der Wirbeltiere. Das recht plötzliche Auftauchen solchen Getiers in Fossilien führenden Schichten bereitete schon Charles Darwin Kopfzerbrechen. Der Gelehrte sah darin ein potenzielles Argument gegen seine Evolutionstheorie: kein schrittweiser Entwicklungsprozess, sondern ein plötzliches, explosionsartiges Erscheinen zahlreicher neuer Spezies. Was war passiert?

In the image above, trilobites (1) live among many species that are not normally preserved. A typical Cambrian outcrop might produce only trilobites, brachiopods (2), mollusks (3), and crinoids (4). That is a tiny fraction of the full Cambrian biota, better r

Vor dem Beginn des Kambriums hatten Einzeller und seltsame Weichkreaturen, die sogenannte Ediacara-Fauna, die Ozeane bevölkert. Ihre Lebensgemeinschaften scheinen recht friedlicher Natur gewesen zu sein, es gibt keine Hinweise auf räuberische Arten. Stattdessen gediehen skurrile, fächerartige Kreaturen ohne festes Skelett.

Dann änderte sich plötzlich alles. Zahllose mit mahlenden Mundwerkzeugen und Panzern ausgestattete Geschöpfe besiedelten die Meere. Auch die Ökosysteme änderten sich radikal. Das Ergebnis dieses Prozesses, eine neu entstandene Diversität, spiegelt sich im Fossilienreichtum der 505 Millionen Jahre alten sogenannten Burgess-Shale-Schichten (siehe Kasten). Die Sirius-Passet-Lagerstätte dagegen gebe Einblick in eine frühere Phase der kambrischen Explosion, sagt Peel. Sie zeige eine Momentaufnahme dieses Geschehens und enthalte zahlreiche Fossilien von Organismen mit weichen Körpern, wie zum Beispiel den ältesten bekannten Borstenwürmern. Das mache diesen Fundort so besonders.


Geologische Umwälzungen

Über die Ursachen der kambrischen Arten-Explosion streiten sich Experten. Laut einigen von ihnen dürften geologische Umwälzungen eine entscheidende Rolle gespielt haben. An vielen Orten rund um den Globus ruhen kambrische Sedimentablagerungen nämlich direkt auf Gestein, das zum Teil mehr als eine Milliarde Jahre alt ist. Zwischen der Entstehung dieser Schichten klafft also eine gewaltige Zeitlücke. Fachleute bezeichnen dieses rätselhafte Phänomen als die «Grosse Unkonformität». Wie kam sie zustande? Die urkontinentalen Landmassen, so vermutet man, lagen mehrere hundert Millionen Jahre nackt unter der Atmosphäre. Felsmassive verwitterten in dieser Zeit, es entstanden ausgedehnte Ebenen. Dann begann der Meeresspiegel zu steigen. Die Küstenlinie wanderte immer weiter landeinwärts, eine Art Sintflut in Zeitlupentempo. Während dieses Prozesses erodierte noch mehr Gestein. Ein Teil wurde aufgelöst, wodurch sich die chemische Zusammensetzung des Meerwassers änderte. Vor allem die Calciumkonzentration stieg stark an.


«Mehrere Beweislinien sprechen dafür, dass Calcium damals ein Zellgift war», erklärt der Paläobiologe Paul Smith von der Oxford University. Viele Organismen wussten sich allerdings zu helfen. Sie begannen, so vermutet man, den eindringenden Problemstoff in sicheren Depots zu lagern. Von hier aus war es dann kein weiter Weg zum Einsatz von Calciumverbindungen als Baumaterial. Ob Knochen, Panzer oder Zähne: Fast alle im Kambrium neu entstandenen Strukturen basierten auf Calcium, sagt Smith. Diese Innovationen hätten sowohl zum Angriff als auch zur Verteidigung gedient. Das habe einen regelrechten Rüstungswettlauf befeuert. Die Evolution nahm Fahrt auf. Mit dem Erscheinen unterschiedlichster Raubtiere entstanden ganze Nahrungsketten - der Beginn einer neuen Zeit. Smith betont gleichwohl, dass die kambrische Explosion nicht einen einzigen Auslöser gehabt habe, sondern von verschiedenen biotischen und abiotischen Prozessen begünstigt worden sei.

Wie komplex diese Zusammenhänge sind, zeigen die Arbeiten von Gabriele Mángano. Die an der University of Saskatchewan in Saskatoon in Kanada tätige Wissenschafterin ist auf die Erforschung von urzeitlichen Spuren spezialisiert. Wie eine Forensikerin sucht sie nach oft winzigen Anzeichen tierischer Aktivität, etwa Grabgängen, Kriechspuren oder Bohrlöchern. Solche Spurenfossilien würden mitunter kaum beachtet, sagt Mángano. Doch denjenigen, die genau hinschauen, bieten sie eine Fülle an Informationen - und viele aufschlussreiche Spurenfossilien stammen aus Sirius Passet.

Tierkadaver am Meeresgrund

In den Schichten der Lagerstätte finden sich unterschiedliche Typen solcher Hinweise. Sie sind nicht gleichmässig im versteinerten Schlamm verteilt, sondern konzentrieren sich überwiegend dort, wo Abdrücke schalenartiger Strukturen erkennbar sind. Letztere stammen von den Weichpanzern grösseren Getiers. Sie ähneln den Überresten von Tegopelte, einem Gliederfüsser aus der Burgess-Shale-Fauna. Die Schalen hätten vermutlich aus Chitin bestanden, sagt Mángano. Wenn einer ihrer Träger starb oder sich häutete, sank sein Panzer auf den Meeresboden und lockte dort andere, kleinere Lebewesen an. «Sie frassen, was immer übrig geblieben war.»

Was heute für viele aasfressende Tierarten üblich ist, war vor mehr als 500 Millionen Jahren wohl eine biologische Revolution. Bis dahin, erklärt Mángano, dürfte das Leben am Meeresgrund eine eintönige Angelegenheit gewesen sein. Ausgedehnte Bakterienmatten bedeckten den Boden, und diese stellten die dominierende Nahrungsquelle dar. «Zu Beginn des Kambriums gab es jedoch entscheidende Veränderungen in der Struktur von Ökosystemen», sagt Mángano: Von der Monotonie der Bakterienmatten ging es hin zu einem von verschiedenen mehrzelligen Arten besiedelten Meeresboden mit einer ersten im Sediment lebenden «Infauna». Die Entstehung neuer Spezies ging Hand in Hand mit der Entstehung neuer ökologischer Nischen, beide Entwicklungen begünstigten sich gegenseitig. In der Tiefe waren vermutlich absinkende Tierkörper von entscheidender Bedeutung. Ähnlich wie heute Walkadaver bildeten sie die Siedlungsgrundlage für ganze Lebensgemeinschaften, wenn auch im Miniaturformat. Vor dem Kambrium gab es anscheinend keine Tierarten mit festen Strukturen, deren Körper lange genug überdauerten, um dies zu leisten.


Komplexes Verhalten

Wie Mángano feststellte, wurde ein Teil der Gänge am Sirius Passet anscheinend öfters besucht. Es handelte sich bei ihnen also offenbar um dauerhaft genutzte Konstruktionen und nicht um die Resultate einer zufälligen Fortbewegung durchs Substrat. Die Bewohner der Gänge, Würmer oder vielleicht auch kleine Gliederfüsser, dürften bei ihren Besuchen jeweils Bakterienkolonien abgegrast haben, die auf den Innenwänden der Tunnel gediehen. Zuvor abgelagerter Schleim diente diesen wohl als Nährboden. Die grabenden Organismen hätten demnach eine Art Bakterienanbau betrieben, so wie dies manche modernen Schneckenspezies tun. Ein solch komplexes Verhalten - das es zu Zeiten der Ediacara-Fauna nicht gegeben habe - sei eine weitere Signatur der kambrischen Explosion, sagt Mángano.

ebd.

DIE BURGESS-SHALE-FAUNA

KdS. · Die 1909 von Charles Walcott, einem amerikanischen Paläontologen, entdeckte Burgess-Shale-Lagerstätte in den kanadischen Rocky Mountains zählt zu den weltweit wichtigsten Fossilien-Fundorten. Seit Walcotts ersten Ausgrabungen wurden hier Zehntausende Überreste von rund 200 verschiedenen urzeitlichen Tierarten sowie einige Algenspezies geborgen. Ähnlich wie jene am Sirius-Passet sind auch die Burgess-Shale-Fossilien oft sehr gut erhalten. Der Schiefer, der sie enthält, bestand ursprünglich aus weichem Schlamm, der die Tiere vermutlich in lawinenartigen Ereignissen unter sich begrub. Die Fauna lebte im Umfeld eines Riffs am Rande einer Flachwasserzone. Damals, vor 505 Millionen Jahren, herrschten hier tropische Verhältnisse: Die heutige nordamerikanische Landmasse lag in Äquatornähe.

Die kambrische Artenvielfalt scheint damals schon fast in voller Blüte gestanden zu haben. Unter den Burgess-Shale-Funden sind zahlreiche Trilobiten und andere Gliederfüsser, aber auch Würmer sowie primitive Tintenfische. Einige von ihnen sind noch immer rätselhaft. Hallucigenia etwa sieht mit ihren stelzenartigen Beinchen und langen Rückenstacheln aus, als wäre sie einem Traum des Surrealisten Salvador Dali entsprungen. Bei Wiwaxia dürfte es sich um eine Art Schnecke mit Schuppenpanzer gehandelt haben. Opabinia war wohl ein agil schwimmendes Geschöpf, ausgestattet mit fünf Augen und einem zangenbewehrten Greiftentakel. Der bis zu zwei Meter lange Anomalocaris, der einer Art Garnele ähnelt, war der Riese im kambrischen Meer und wahrscheinlich ein Raubtier.

Weitere Überraschungen werden wohl bald folgen: Anfang Februar wurde in der Online-Fachzeitschrift «Nature Communications» die Entdeckung einer neuen Burgess-Shale-Lagerstätte, gut 40 Kilometer vom ursprünglichen Fundort entfernt, bekanntgegeben.



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