Sonntag, 4. August 2013

Pasewalk und Gelsenkirchen: Osten ist in Deutschland keine Himmelsrichtung mehr.

aus NZZ, 3. 8. 2013                                                                                                                                                 Pasewalk

Das gespaltene Ostdeutschland

Zwei Jahrzehnte nach der Wende muss die Regionalförderung in der Bundesrepublik grundlegend reformiert werden

Im Osten Deutschlands finden sich sowohl blühende Landschaften wie auch Gebiete, die den Anschluss verloren haben. Die Osthilfe sollte dieser Realität Rechnung tragen. In ihrer jetzigen Form gehört sie abgeschafft.

von Matthias Benz, Berlin

Kanzlerin Merkel steht auf einer Baustelle, um sie herum die Weiten des mecklenburgischen Landes, und nippt an einem Latte macchiato. An diesem windigen, aber warmen Frühsommertag feiert der Nahrungsmittelkonzern Nestlé im ostdeutschen Schwerin die Grundsteinlegung für ein neues Kaffeekapsel-Werk, das grösste seiner Art in Europa. Es herrscht grosser Bahnhof in der Provinz. Nestlé-Chef Bulcke ist gekommen und prostet Merkel zu. Der mecklenburg-vorpommerische Ministerpräsident Sellering strahlt mit seinem Wirtschaftsminister um die Wette. Die Kanzlerin setzt dem Anlass die Krone auf. Merkel, deren Wahlkreis in der Nähe liegt, hat eine Stunde ihrer knappen Zeit geopfert, um die Bedeutung des Werks für die Region zu unterstreichen.

Blühende Landschaften

Es sei ein Erfolg für die Wirtschaftsförderung in Ostdeutschland, sagt die Kanzlerin in ihrer Rede - die grösste einzelne Investition in Mecklenburg-Vorpommern seit der Wiedervereinigung. Nestlé will hier 220 Mio. € investieren und 450 Arbeitsplätze schaffen. Sellering sieht es als Signal, dass das wirtschaftsschwache Bundesland vorankommt. Man lässt die Gründe Revue passieren, warum sich Nestlé für Schwerin entschieden hat. Der Hamburger Hafen, weltgrösster Umschlagplatz für Rohkaffee, liege nur eine Stunde entfernt und sei über die Autobahn hervorragend angeschlossen; die wichtigen Absatzmärkte in Deutschland, Skandinavien und Osteuropa lägen vor der Tür; es gebe hier gute Fachkräfte; die Landesregierung habe ein grosszügiges Grundstück zur Verfügung gestellt und mit unbürokratischen Genehmigungsverfahren geholfen. Aber es wird auch nicht verschwiegen: Die öffentliche Hand zahlt einen erheblichen Investitionszuschuss von 22,5 Mio. €. Man lässt es sich mithin 50 000 € pro Arbeitsplatz kosten, dass Nestlé hierherkommt.

Schwerin

Der Stadt Schwerin wird die Ansiedlung sicher zum Vorteil gereichen. Sie steht ohnehin schon seit einiger Zeit auf der glücklicheren Seite. Man profitiert davon, dass Schwerin nach der Wende zur Hauptstadt des neuen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern auserkoren wurde. Das brachte Ministerien, viele Arbeitsplätze und auch ein gewisses Niveau in die Region. Einige Ansiedlungen von Firmen gelangen. Die Innenstadt wurde - wie fast überall in Ostdeutschland - aufwendig saniert, die Infrastruktur stellt sich in tadellosem Zustand dar. Die Stadt macht einen lebendigen Eindruck, das Übrige tut die schöne Lage am Schweriner See. Es gibt schlechtere Orte zum Leben.

So wie Schwerin finden sich viele Gegenden in Ostdeutschland, in denen es vergleichsweise gut läuft. In Mecklenburg-Vorpommern sind etwa Rostock und die Touristenregionen auf Rügen und Usedom zu nennen. Weiter im Süden haben sich neben Berlin Potsdam oder Dresden als Kraftzentren etabliert. Um Leipzig herum sind Leuchtturmprojekte im Automobilbau entstanden, Porsche fertigt dort mehrere Modelle, und BMW wird das Vorzeige-Elektroauto i3 bauen. In Sachsen und Thüringen wiederum ist der unternehmerische Mittelstand erstarkt. Nicht zuletzt hat man vielerorts erhebliche Fortschritte bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gemacht.

Diese positiven Entwicklungen spiegeln sich in der Statistik. So haben sich etwa im Bundesländer-Ranking der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), in dem regelmässig die Wirtschaftskraft bewertet wird, im Jahr 2012 erstmals die östlichen Bundesländer Sachsen und Thüringen vor ein westdeutsches Bundesland (nämlich Bremen) geschoben. Das war ein bezeichnender Moment. Offenbar haben sich im Osten Regionen herausgebildet, in denen es um Wirtschaft und Wohlstand besser bestellt ist als in gewissen Gegenden Westdeutschlands. Das zeigt sich auch mit Blick auf die Arbeitslosigkeit. Mancherorts im Osten stellt sich die Lage besser dar als in westdeutschen Problemregionen wie dem Ruhrgebiet oder Bremen (vgl. Grafik).

Ein resignierter Stadtvater

Nicht überall in Ostdeutschland allerdings läuft es rund. In Pasewalk sitzt Bürgermeister Rainer Dambach in seinem Büro und sagt: «Wir haben hier schon so viele Firmen anzusiedeln versucht, aber nur wenig hat wirklich geklappt.» Dambach weiss, wovon er spricht. Er ist schon seit über zehn Jahren Bürgermeister in der vorpommerischen Kleinstadt. Dambach wirkt nicht deprimiert, aber auch nicht übertrieben hoffnungsvoll. Es ist halt, wie es ist. Die Gegend um Pasewalk belegte im INSM-Regionalranking, das im Jahr 2009 letztmals durchgeführt wurde, unter den 409 untersuchten deutschen Landkreisen den unrühmlichen letzten Platz. Seither hat sich nicht viel geändert. Die Arbeitslosenquote liegt bei annähernd 20%, die Zahl der Hartz-IV-Bezieher ist hoch, laut den INSM-Zahlen sind kaum irgendwo in Deutschland Kaufkraft, Produktivität und Steuerkraft niedriger.

 Gelsenkirchen

An der Infrastruktur liegt es auch in Pasewalk nicht. Die Marienkirche aus dem 14. Jahrhundert ist schön renoviert, der Marktplatz gibt etwas her, nach Pasewalk fährt man auf makellosen Überlandstrassen durch die malerische Landschaft Vorpommerns. Aber der Einbruch nach der Wende hat bis heute tiefe Spuren hinterlassen. Das ehemalige Fleischkombinat ist nur noch ein Schatten seiner selbst, aus der einst wichtigen Lebensmittelindustrie hat gerade noch eine grössere Bäckereikette ihren Sitz in Pasewalk. Heute gehören ein Callcenter und ein privates Krankenhaus zu den grössten Arbeitgebern. Viele Menschen verloren nach der Wende ihre Arbeit, die Bevölkerung in der Stadt schrumpfte um rund ein Viertel. Nicht wenige von denen, die nicht abwanderten, sind bis heute arbeitslos geblieben. Die Arbeitslosigkeit sei teilweise so verfestigt, dass man nur schwer etwas dagegen unternehmen könne, sagt Bürgermeister Dambach.

Utopie der Gleichheit

Wenn der Stadtvater einen Wunsch frei hätte, müsste er nicht lange überlegen. Schön wäre es, wenn einige Ansiedlungen von grösseren Industriefirmen gelängen, damit Arbeitsplätze in die Stadt kämen, neue Perspektiven für die Menschen entstünden, die Steuereinnahmen stiegen und man das öffentliche Angebot verbessern könnte. An staatlichen Fördermitteln fehlt es laut Dambach nicht. Auch könnten Firmen und Private Grundstücke in Pasewalk weit günstiger erwerben als in wirtschaftlichen Boomregionen West- und Ostdeutschlands. Aber wie die schmerzliche Erfahrung zeigt, entschieden sich interessierte Firmen jeweils doch für andere Standorte. Eine Konkurrenz bildet etwa das nahe liegende Polen, besonders die dynamische Grossstadt Stettin. Dort fänden Firmen ebenfalls eine gute «Förderkulisse» vor, aber die Arbeitskosten seien niedriger. Für Pasewalk spricht auch nicht gerade, dass die Gegend als Hochburg der Neonazis gilt. Man müsse die Braunen gerade auch aus wirtschaftlichen Gründen bekämpfen, erklärt Dambach resolut, weil sonst keine Firmen und Menschen hierherziehen wollten.

Dambach hat allerdings zu viele Erfahrungen gemacht, als dass er sich noch grosse Illusionen zu den Zukunftschancen Pasewalks machen würde. Soll man in der Gegend öffentliches Geld investieren, um das Wachstum zu fördern? Das hält der Bürgermeister nicht für sinnvoll. Es gehe im Gegenteil darum, einen unvermeidlichen Prozess der Schrumpfung so erträglich wie möglich zu gestalten. Schon jetzt muss die finanzschwache Stadt ihre Mittel zusammenhalten, um die Grundversorgung der Bevölkerung einigermassen sicherzustellen. Man leistet sich noch ein Schwimmbad, eine Bibliothek, ein Museum und ein Kulturforum. Geld wird in die Renovierung von Kinderkrippen und Schulen gesteckt, die Innenstadt und die Plattenbausiedlung werden weiter aufgewertet, die stark alternde Bevölkerung muss versorgt sein. «Aber ich frage mich schon, wie lange wir uns das alles noch leisten können.»

Kein Zweifel, Pasewalk hat den Anschluss verloren. Utopisch wirkt der Anspruch des deutschen Grundgesetzes, auch in solchen Regionen «gleichwertige Lebensverhältnisse» herzustellen. Wie soll man mit diesem Widerspruch umgehen? Dambach, der Realist aus Erfahrung, hat dazu eine ebenso nüchterne wie klare Meinung. Städte wie Pasewalk benötigten weiter Finanzhilfen, sonst könne man die Grundversorgung in der Fläche nicht gewährleisten. Aber das bisherige Giesskannenprinzip der Osthilfe sei überholt. Regionen wie Rostock oder Dresden brauchten keine spezielle Förderung mehr, man müsse Hilfen vielmehr auf strukturschwache Gebiete konzentrieren - ob diese nun im Osten lägen wie Pasewalk oder in Westdeutschland wie Gelsenkirchen. «Das alte Denken in Ost-West-Kategorien hat ausgedient.»

Ungeliebte Kritiker

Das ist ein grosses Wort, gelassen ausgesprochen. Auch über zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung gehört es zu den Tabuzonen der deutschen Politik, die Einstellung der Ost-Förderung zu fordern. Das haben vor nicht allzu langer Zeit auch die Autoren eines wissenschaftlichen Gutachtens im Auftrag des Bundesinnenministeriums erfahren. Die renommierten Wirtschaftsforschungsinstitute IWH Halle, DIW, Ifo Dresden, IAB und RWI beleuchteten darin die wirtschaftlichen Perspektiven für Ostdeutschland. Sie folgerten, die Angleichung der Wirtschaftskraft Ostdeutschlands an westdeutsche Durchschnittswerte werde «in der absehbaren Zukunft nicht möglich» sein. Die Politik müsse «von überzogenen Erwartungen abrücken» und stärker auf die Entwicklungspotenziale in den einzelnen Regionen fokussieren. Die Regionalpolitik werde dabei «zunehmend gesamtdeutsch zu orientieren sein».

Ruhrgebiet

Solche Aussagen waren für die Politik offenbar zu starker Tobak. Die Veröffentlichung des Gutachtens wurde während geraumer Zeit verzögert, man konnte von persönlichen Pressionen hören, erst nachdem der Fall publik geworden war, gab das Innenministerium die Veröffentlichung frei. Die Gutachter trafen offensichtlich einen wunden Punkt - obwohl viele Ökonomen seit langem die Position vertreten, dass die Ost-Förderung überholt sei und auch strukturschwache Gebiete im Westen stärker berücksichtigt werden müssten.

Einer baldigen Reform der Förderpolitik steht entgegen, dass die Zahl der Nutzniesser und der politische Widerstand zu gross sind. Aber die Chancen stehen besser als auch schon. Kanzlerin Merkel regte etwa jüngst an, die Ost-Förderung wie geplant mit dem Ende des «Solidarpakts II» im Jahr 2019 auslaufen zu lassen und sie dann zu einer gesamtdeutschen Förderpolitik umzubauen. Der sich abzeichnende Gesinnungswandel liegt wohl darin begründet, dass das Denken in Ost-West-Kategorien etwas aus der deutschen Öffentlichkeit verdrängt worden ist. In den letzten Jahren war nicht die Osthilfe das dominierende Thema, sondern die «Südhilfe» für die Krisenländer der Euro-Zone. Gegenüber den riesigen Problemen in der Währungsunion rückten die Defizite im eigenen Land in den Hintergrund.

Die grosse Reform wagen

Eine grundlegende Reform der Ost-Förderung - und mit ihr der deutschen Regionalpolitik - käme trotzdem einem grossen Schritt gleich. Sie müsste nämlich mit dem Eingeständnis verbunden sein, dass sich «gleichwertige Lebensverhältnisse» nicht verwirklichen lassen, und es wäre anzuerkennen, dass Ostdeutschland den Anschluss nicht flächendeckend schaffen wird. Das widerstrebt weitverbreiteten Gleichheitsvorstellungen in Deutschland. Dennoch wäre es an der Zeit, dass man dieser Realität ins Auge blickte. Es liesse sich dann ein System der Regionalförderung entwickeln, das nicht Gleichheit mit der Brechstange erzwingen will, sondern strukturelle Schwächen ernst nähme, im Übrigen aber stärker auf die Eigenverantwortung und den Leistungswillen der regionalen Akteure setzte.

Eine solche Reform müsste zwei tiefgreifende Änderungen umfassen. Zum einen wäre das flächendeckende System der Investitionszuschüsse abzuschaffen. Es hat zu einer weitverbreiteten Gewöhnung an Subventionen geführt und untergräbt den Anreiz zur Selbsthilfe. Zum andern müsste der innerdeutsche Finanzausgleich, der faktisch einen wichtigen Teil der Ost-Förderung darstellt, grundlegend umgebaut werden. Als Vorbild für eine Reform könnte der Schweizer Föderalismus mit seinem neuen Finanzausgleich dienen. Dieser verbindet kantonale Autonomie in Steuer- und Standortfragen mit einem ausgebauten Finanzausgleich, der bei strukturellen Schwächen ansetzt.

Gegenwärtig befindet sich der deutsche Föderalismus noch sehr weit weg von einem solchen System (NZZ vom 8. 2. 13). Lokale Steuerautonomie existiert praktisch nicht. Zudem ebnet der Länderfinanzausgleich regionale Unterschiede in der Finanzkraft fast vollständig ein. Das erstickt die Anreize zu einer guten Finanz- und Wirtschaftspolitik in den Regionen im Keim. Im Gegensatz dazu könnte eine auf regionaler Eigenverantwortung aufbauende Reform eine heilsame Dynamik entstehen lassen. Die alte Ost-Förderung hat sich abgenutzt. Ostdeutschland braucht neue Perspektiven.

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