Freitag, 9. August 2013

Ernst Kreidolfs Tierleben.

aus NZZ, 9. 8. 2013


Verletzlich - und vergnügt wie Kinder
 
«Faltertanz und Hundefest: Ernst Kreidolf und die Tiere» - eine Ausstellung im Kunstmuseum Bern

Das Kunstmuseum Bern ehrt Ernst Kreidolf zu seinem 150. Geburtstag mit einer Ausstellung, die sich auf die Darstellung des Tiers in seinem Werk konzentriert. In der subtilen Vermenschlichung der Tierwelt ist dieser Erneuerer der Bilderbuchkunst einzigartig geblieben.

von Caroline Kesser

Dank dem über tausend Nummern umfassenden Depositum von Verein und Stiftung Ernst Kreidolf findet im Kunstmuseum Bern alle paar Jahre eine Ausstellung dieses so populären wie unverwechselbaren Gestalters statt. Was als Pflichtübung erscheinen könnte, entpuppt sich immer wieder als höchst erfrischende Veranstaltung. Ganz besonders wieder diesen Sommer, wo Kreidolfs vermenschlichte Tiere im Zentrum stehen. Manch ein Exponat aus «Faltertanz und Hundefest» hätte gut in «Mythos und Geheimnis. Der Symbolismus und die Schweizer Künstler» gepasst. Dabei könnten die beiden Ausstellungen im Berner Museum atmosphärisch nicht unterschiedlicher sein. Herrscht in der gewichtigen Symbolismus-Schau, einer Pathosbombe, klebrige Schwüle, versorgt uns Kreidolfs Bildwelt reichlich mit Sauerstoff.


Nervenkrisen

Ernst Kreidolf (1863-1956) wäre gerne ein «richtiger» Künstler gewesen, einer wie Arnold Böcklin oder Albert Welti, die heute den Schweizer Symbolismus vertreten. Dass er «nur» als Autor von Bilderbüchern und nicht als zünftiger Maler reüssierte, wurmte ihn sein Leben lang. Wie schon im Fall von Rodolphe Töpffer und Wilhelm Busch können wir aber von Glück reden, dass Kreidolf auf eine weniger etablierte Gattung ausweichen musste.


Nähme man alle Gemälde Kreidolfs zusammen, ergäbe sich ein Corpus mit vielen hübschen Details und einigen geheimnisvollen Kompositionen, aber kaum ein Ensemble, auf das man sich in einem Museum stürzen würde. Ernst Kreidolf hat das Malerhandwerk zwar à fond gelernt, blieb in seinen (Öl-)Malereien aber meist hölzern akademisch. Ausserdem hatte er offensichtlich Schwierigkeiten bei der Darstellung der Raumtiefe, was sich namentlich in seinen Landschaften zeigt. Es waren aber nicht seine Zweifel am Fortschritt, sondern gesundheitliche Gründe, die ihn 1889 die lange ersehnte Ausbildung an der Münchner Akademie abbrechen liessen. Nervenkrisen haben dem in Bern geborenen, auf dem grosselterlichen Bauernhof im Thurgau aufgewachsenen Kreidolf immer wieder zu schaffen gemacht - und ihm dabei den Weg gewiesen. Dass er zu schwach war, um den Bauernhof seines Grossvaters zu übernehmen, konnte ihm nur recht sein, war er doch seit je am liebsten mit dem Zeichenstift hinter den Tieren her. Da die finanziellen Verhältnisse der Eltern - der Vater hatte mit seinem Spielwarengeschäft Konkurs gemacht - den Besuch einer Kunstschule nicht erlaubten, machte Kreidolf in Konstanz eine Lithografenlehre, was ihm als Buchgestalter sehr zustattenkommen sollte, ihm aber auch immer wieder zu Broterwerb verhalf. So konnte sich der Zwanzigjährige in München, wo seine Künstlerlaufbahn ihren Anfang nahm, mit dem Zeichnen von Warenprospekten und Steckbriefen für die Polizei über Wasser halten.

 
Nach einem schweren Nervenzusammenbruch blieb Ernst Kreidolf sieben Jahre im ländlichen Partenkirchen, das er zur Erholung aufgesucht hatte. Hier lebte er mitten in der Natur, was ihn wieder in engen Kontakt brachte mit dem Gekreuch und Gefleuch, das ihn schon als Kind so fasziniert hatte. Die erneut entdeckte «Welt im Kleinen» wurde zur Inspiration für seine Bilderbücher, mit denen er Berühmtheit erlangte. Entscheidend war auch die Freundschaft mit dem Schriftsteller Leopold Weber, der bei Einheimischen Mythen und Märchen sammelte und sein Verständnis der Natur als einer durch und durch beseelten teilte.

Ein willkommener Verdienst für den auf dem Land zum Müssiggang gezwungenen Kreidolf war der Malunterricht bei der Fürstin Marie von Schaumburg-Lippe, zunächst im nahen Kainzenbad, dann in ihrer Residenz Bückenburg in Niedersachsen. Dass sie ihn nur zur Unterhaltung bestellt hatte und gar nichts lernen wollte, wie sie ihm bald unverhohlen gestand, verletzte sein Künstler-Ego; durch sie kam er aber mit einem Milieu in Berührung, das er bis dahin nur aus Märchen gekannt hatte. Und vor allem: Dank einem Darlehen ihres Gemahls konnte er 1898 das «Blumen-Märchen» herausgeben, sein erstes, selbst lithografiertes Bilderbuch, für das er lange vergeblich einen Verleger gesucht hatte. Wie er sich später erinnerte, hatte er dadurch «das Gebiet gewonnen, auf dem ich am erfolgreichsten wirken konnte». Zum Erstaunen des Fürsten bezahlte er das geliehene Geld schnell zurück. Das gab ihm auch die Freiheit, weitere Einladungen an den ihm fremd gebliebenen Hof mit dem Hinweis auf seine eigene, ernsthafte Arbeit abzulehnen.

 
Die Berner Ausstellung lässt Kreidolfs ersten grossen Erfolg ausser acht und konzentriert sich auf die Tiere in seinem Werk. Anders als seinen tanzenden Blumenmädchen, denen oft etwas gar Süssliches anhaftet, geraten seine Schmetterlinge, Käfer und Heuschrecken nie unter Kitschverdacht. Die unnachahmliche Poesie dieser Tierchen gründet auf der einzigartigen Verschränkung von fast wissenschaftlicher Genauigkeit, mit der er sie zeichnete, und der liebevollen Phantasie, mit der er sie agieren lässt. Kreidolf war mit seinen Protagonisten eng vertraut und kannte von Jugend an neben ihrem Äusseren auch ihre Entwicklung und ihr spezifisches Verhalten. Als ihm das Sammeln von Schmetterlingen nicht mehr gefiel, weil sie zu diesem Zweck getötet werden mussten, hielt er sich Raupen, um sich am Anblick der ausgeschlüpften, in die Lüfte entschwebenden Falter zu ergötzen.


Auf das «Blumen-Märchen» folgte ein Bilderbuch nach dem anderen. Besonderen Anklang fanden seine 1908 erschienenen, seinem Malerfreund Albert Welti gewidmeten «Sommervögel». Verleger Hermann Schaffstein erkannte darin einen Quantensprung, notabene in einem Werk, in dem sich keine klaren Entwicklungslinien zeigen. Kreidolf habe mit diesem Buch «die Gefahr, Menschen mit aufgeklebten Flügeln darzustellen, überwunden und die Personifizierung der Schmetterlinge so vollendet erreicht, dass man glaubt, eine Schmetterlingsart in einem Stadium höherer Entwicklung zu sehen». Die diesem Buch zugrunde liegenden, in Bern ausgestellten Aquarelle sind umwerfend in ihrer märchenhaften Natürlichkeit beziehungsweise natürlichen Märchenhaftigkeit.


 
Zauberhaft, wie ein verdorrtes Blatt zu einem Boot und Schmetterlingsflügel bald zu Segeln, bald zu einem seidigen Umhang werden, unwahrscheinlich komisch, wie ein am Stock gehender Nachtfalter ein Gehege mit den buntesten Raupen bewacht, oder eine Weinbergschnecke im Brautschleier auf dem Rücken eines Grashüpfers das Wettrennen zweier kommuner Nacktschnecken verfolgt. Kreidolf verwandelt selbst uns normalerweise ekelnde Tiere in menschlich anmutende, meist verspielte Wesen. Wie die Schnecke, die ihren Schleim als weisse Wolle verstrickt.



Kreidolfs Inszenierungen sind oft von den Namen der Tiere inspiriert. So reitet in der Kostümstudie «Rossbremse» eines dieser wenig geliebten Insekten erhobenen Hauptes ein edles Pferd. Nicht nur hier zeigt sich, dass Kreidolfs Phantasien wohl von der Vermenschlichung der Tiere leben, aber umso suggestiver sind, je weniger Menschengestalt darin aufscheint.

Werden und Vergehen

Kreidolfs Tieren geht es in der Regel gut. Sie tanzen und musizieren, rauchen, treiben Sport, veranstalten Wettkämpfe und werken brav. Natürliche Feinde gibt es kaum. Droht eine Spinne die zarten Insekten einzufangen, werden sie von Käfern oder Grashüpfern aus den gefährlichen Netzen befreit. Die Katze rettet sich noch rechtzeitig vor dem Angriff aggressiver Hunde auf den Baum. Die Gefahr lauert allenfalls von monströsen Fabelwesen und am ehesten von Menschenseite. In einem Blatt der Aquarellserie «Der Traum des Jägers» umringen verletzte, auf Krücken gestützte Tiere des Waldes den Jägersmann, der seinen Blick vor ihren blutenden Wunden senkt. Eine Anklage ist diese Szene aber nicht. Wenn auch relativ dramatisch, macht sie nur auf den mitunter hohen Preis aufmerksam, den der Kreislauf des Lebens fordert. Kreidolfs Tiere scheinen sich ihrer Verletzlichkeit bewusst, vergnügen sich wie Kinder, solange sie können, und machen sich dann ruhig zum Sterben bereit. Es ist ja nur eine Transformation, ein Übergang in einen anderen Zustand. «Die Fahrt ins Licht» heisst das Blatt, wo Schmetterlinge auf einem Boot mit einem Grashüpfer als Steuermann ins Totenreich geleitet werden, «Zurück ins All» das Blatt mit den Hunden, die von einer Bergkuppe aus erwartungsvoll den Himmel anbellen, die letzte Szene aus dem «Hundefest».

Faltertanz und Hundefest: Ernst Kreidolf und die Tiere, Kunstmuseum Bern. Bis 29. September 2013. Katalog Fr. 25.-. Anschliessend in der Städtischen Wessenberg-Galerie Konstanz.

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