Samstag, 17. August 2013

Ein Ende der Dritten Welt?

aus NZZ, 17. 8. 2013                                                                                                                               Valparaiso, Chile

Eine stille Revolution in Lateinamerika

Bedeutende wirtschaftliche und politische Fortschritte in den letzten Jahren - grosse Herausforderungen bleiben

In Lateinamerika mit seinen fast 600 Millionen Einwohnern ist in den letzten Jahren eine starke, konsumorientierte Mittelschicht entstanden. Diese löst sich von traditionellen Wertvorstellungen und fordert vom Staat Service.

von Werner Marti, Buenos Aires

Ganz im Schatten des Aufstiegs von Asien und des Umschwungs in den arabischen Ländern hat Lateinamerika in den letzten Jahren enorme Veränderungen erlebt. Auslösender Faktor war in erster Linie der markante Anstieg der Rohstoffpreise seit der Jahrtausendwende. Bergbauprodukte wie Gold, Kupfer und Eisenerz, ausserdem Erdöl und Erdgas sowie die landwirtschaftlichen Produkte, allen voran die Sojabohne, das grüne Gold der Länder im südlichen Südamerika, erzielten auf dem Weltmarkt markant höhere Preise als zuvor. Dies war unter anderem eine Folge der steigenden Nachfrage aus Asien. Für Lateinamerika, das traditionellerweise in der Weltwirtschaft die Funktion eines Rohstofflieferanten eingenommen hatte, bedeutete dies nicht nur deutlich höhere Einnahmen für die Privatwirtschaft, sondern auch für den Staat. So ermöglichte es etwa der explodierende Erdölpreis dem verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, die Staatsausgaben auf das Sechzehnfache zu steigern, von 10 Milliarden Dollar 1998 auf 160 Milliarden Dollar 2012.

Neues Gewicht der Wirtschaft

In der ganzen Region bewirkte der Anstieg der Exporteinnahmen ein überdurchschnittliches wirtschaftliches Wachstum. Das Gewicht der regionalen Wirtschaft nahm dadurch markant zu. Hatte die Wirtschaftsleistung Lateinamerikas ohne Karibik im Jahr 2000 noch lediglich 20 Prozent derjenigen der USA betragen, wuchs sie bis 2011 auf 37 Prozent des Bruttoinlandproduktes der Vereinigten Staaten an, wie Zahlen der Weltbank belegen.

Der wirtschaftliche Aufschwung bewirkte ein starkes Anwachsen der lateinamerikanischen Mittelklasse. Eine kürzlich erschienene Studie der Weltbank zeigt, dass um 2003 in der Region ein Prozess sozialer Transformation einsetzte, welcher eine bemerkenswerte soziale Mobilität nach oben zur Folge hatte. Allein im untersuchten Zeitraum von 2003 bis 2009 wuchs die Mittelklasse um rund 50 Prozent auf über 150 Millionen Menschen an. In der grössten Wirtschaft, Brasilien, machten laut der Studie rund 20 Millionen Personen diesen Aufstieg mit. Die Autoren verwenden eine auf Kaufkraft basierte Definition, die für eine Klassifizierung in der Mittelklasse zudem verlangt, dass die Gefahr eines neuerlichen sozialen Abstiegs gering ist.

Gleichzeitig ging der Anteil der Armen in der Region markant, von 44 auf 30 Prozent der Bevölkerung, zurück. Während noch zur Jahrtausendwende rund zweieinhalbmal so viele Arme wie Personen in der Mittelklasse gezählt wurden, umfassen beide sozialen Schichten heute je ein knappes Drittel der Bevölkerung. Zwischen den beiden Schichten lebt eine ähnlich grosse Gruppe der Bevölkerung, die zwar der Armut entronnen ist, aber mangels Kaufkraft und wirtschaftlicher Sicherheit von den Autoren noch nicht zur Mittelklasse gezählt wird.

Die zunehmende Kaufkraft der Mittelklasse hat eine Konsumwelle bewirkt, die von jedem Reisenden in Lateinamerika beobachtet werden kann. Einkaufszentren schiessen nicht nur in den Hauptstädten, sondern auch in vielen Provinzstädten wie Pilze aus dem Boden. Der private Fahrzeugpark wurde modernisiert und ist zahlenmässig rasch angewachsen. Die Regierungen investieren stark in die Verkehrsinfrastruktur. Der Autobahnbau wird vorangetrieben. So sind etwa in Argentinien seit kurzem endlich die drei grössten Städte mit solchen Schnellstrassen verbunden. Bis anhin ungeteerte Überlandstrassen werden asphaltiert. In Südamerika sind neue Ost-West-Transversalen durch das Amazonasgebiet im Bau oder bereits fertiggestellt. Und in verschiedenen Ländern entstehen neue, moderne Flughäfen oder sind bereits eröffnet worden.

Stabilität durch Reformen

Eine Mehrheit der Länder hat den neuen Reichtum durch die Hausse der Rohstoffpreise ausserdem auch für wirtschaftliche Reformen genutzt. Dadurch sind etwa die Bankensysteme widerstandsfähiger geworden. Dank gesünderen makroökonomischen Politiken wurden die Staatshaushalte ins Lot gebracht, die Inflation gezähmt und die Aussenverschuldung auf ein tragbares Niveau reduziert. Die periodischen Wirtschaftskrisen des letzten Jahrhunderts sind deshalb ausgeblieben. Den ersten grösseren Test bestand Lateinamerika in der weltweiten Rezession von 2008/09, welche die Region dank den Reformen deutlich rascher überwinden konnte als die entwickelte Welt.

Die verbesserten wirtschaftlichen Grundlagen wurden auch von den internationalen Investoren honoriert. Die erhöhte Kreditwürdigkeit bescherte den Lateinamerikanern deutlich bessere Kreditbedingungen. Der Zufluss von fremdem Kapital war zeitweise so stark, dass eine Reihe von Staaten Notmassnahmen gegen eine Überbewertung der lokalen Währungen ergreifen mussten. 

Zwar entschied sich eine Gruppe von Ländern, angeführt von Venezuela und Argentinien, für eine interventionistische Wirtschaftspolitik, die letztlich in hoher Inflation und Mangelwirtschaft endete. Doch dabei handelt es sich um eine klare Minderheit innerhalb der Region. Als Gegenstück entstand in den letzten zwei Jahren die vielversprechende Pazifik-Allianz von Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile, die sich dem Freihandel und der freien Marktwirtschaft verpflichtet fühlt.

Auch was die Errichtung stabiler, demokratisch legitimierter Regierungen anbelangt, hat die Region in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Die Militärdiktatur war für Lateinamerika lange Zeit eine typische Regierungsform. Vor mehr als dreissig Jahren, am 17. Juli 1980, fand im lateinischen Südamerika der letzte erfolgreiche Militärputsch gegen eine demokratisch legitimierte Regierung statt. In Bolivien jagte damals General García Meza die Übergangspräsidentin Lidia Gueiler aus dem Amt. Ab 1990 jedoch besassen Brasilien und alle spanischsprachigen Länder Südamerikas demokratisch gewählte Regierungen.

Konsolidierte Demokratie

Dies will selbstverständlich nicht heissen, dass diese Länder inzwischen alle zu Musterdemokratien geworden seien. Der Selbstputsch Fujimoris in Peru (1992), die Absetzung Abdalá Bucarams durch Ecuadors Kongress wegen Unzurechnungsfähigkeit (1997), der Sturz von Gonzalo Sánchez de Lozada durch einen Volksaufstand in Bolivien (2003), die Zwangsexilierung von Präsident Zelaya in Honduras (2009) und die Absetzung von Präsident Lugo durch Paraguays Kongress (2012) sind Beispiele für Machtwechsel, die entweder die Verfassung klar verletzten oder deren demokratische Legitimität zumindest von breiten Kreisen angezweifelt wurde. Und in den «bolivarischen» Ländern Venezuela, Bolivien, Ecuador und Nicaragua untergruben und untergraben populistische Führer durch Aushebelung der Gewaltenteilung, Unterdrückung der Pressefreiheit und massiven Missbrauch öffentlicher Mittel für persönliche und parteipolitische Zwecke die schwachen demokratischen Strukturen.

Trotzdem ist es unübersehbar, dass in der Mehrheit der Länder der Region eine demokratische Konsolidierung stattgefunden hat und dass demokratisch nicht legitimierte Machtwechsel in den meisten Staaten heute keine Option mehr darstellen. Entsprechend der politischen Theorie, wonach Demokratien in erster Linie von der Mittelklasse getragen werden, müsste die Entwicklung der letzten Jahre zu einer weiteren Konsolidierung führen. Dies schliesst freilich nicht aus, dass die erstarkte Mittelklasse neue, möglicherweise destabilisierende Forderungen an den Staat heranträgt, wie die jüngsten Demonstrationen in Brasilien und der Kampf für erschwingliche Bildung in Chile zeigen. In beiden Fällen geht es unter anderem um Dienstleistungen des Staates, die von der Mittelschicht gefordert werden.

Gerade die «bolivarischen» Länder zeigen die Gefahren auf, die nicht integrierte Gesellschaften für die Demokratie in Lateinamerika darstellen. Während es früher verhältnismässig leicht möglich war, die arme Mehrheit de facto aus dem politischen Prozess auszugrenzen, wird dies mit zunehmender Demokratisierung und der Ausbreitung der modernen Kommunikationsmittel immer schwieriger. Sind die armen Massen einmal mobilisiert, können sie nicht mehr ignoriert werden, wie auch der peruanische Präsident Humala kürzlich in einem Interview mit «El País» darlegte. Andernfalls drohen ähnliche Entwicklungen wie in Venezuela und Bolivien, wo bisher ausgegrenzte Mehrheiten - die an der Erdölbonanza nicht beteiligte Unterschicht in Venezuela und die indianische Bevölkerung in Bolivien - in autoritärer Form die Macht übernahmen. Ähnliches droht längerfristig auch anderen Ländern, in denen eine Mehrheit der Bevölkerung von den Früchten des Wachstums ausgeschlossen ist, wie beispielsweise in Paraguay.

Gesellschaftlicher Wandel

Mit dem Wachstum der Mittelklasse erlebten die traditionell konservativen Gesellschaften Lateinamerikas auch eine rasche Säkularisierung und eine Liberalisierung ihrer bisher von der katholischen Kirche geprägten Moralvorstellungen. Themen wie Abtreibung und homosexuelle Partnerschaften, die noch vor zehn Jahren praktisch in der ganzen Region ein absolutes Tabu waren, werden plötzlich salonfähig. In einzelnen Staaten ist inzwischen die Gesetzgebung weiter fortgeschritten als in Teilen Westeuropas. Die gleichgeschlechtliche Ehe wurde in den letzten drei Jahren in Argentinien, Brasilien und Uruguay gesetzlich verankert. In Kolumbien geben mehrere Entscheidungen des Verfassungsgerichts die Vollmacht zur Schliessung von Ehen zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren, auch wenn dazu noch kein gesetzlicher Rahmen geschaffen wurde. In weiteren Ländern ist die gleichgeschlechtliche Ehe in Diskussion. Selbst im besonders konservativen Chile, das erst vor neun Jahren die Ehescheidung einführte, ist seit drei Jahren ein Gesetzesprojekt zur Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe hängig.

Was den Schwangerschaftsabbruch anbelangt, so führte Mexiko-Stadt 2007 eine Fristenlösung ein, nachdem zuvor einzig in Kuba eine vergleichbare Regelung existiert hatte. In einigen Ländern ist bis heute selbst im Falle einer schweren Gefährdung der Mutter oder bei Vergewaltigung eine Abtreibung gesetzlich nicht erlaubt. Ende letzten Jahres führte Uruguay nach jahrelangen Diskussionen ebenfalls eine Fristenlösung ein, eine Entscheidung, die auch regionale Signalwirkung haben dürfte.

Verbleibende Handicaps

Selbstverständlich ist die Region gegen Rückschläge nicht gefeit. So ist zurzeit etwa eine Wachstumsverlangsamung zu beobachten, die seit längerem besonders die brasilianische Wirtschaft plagt. Längerfristig dürfte aber der weltweite Rohstoffhunger, insbesondere durch den Aufstieg von China, anhalten und damit auch fortan für hohe Rohstoffpreise sorgen.

Trotzdem steht die Region auch weiterhin vor grossen Herausforderungen. Eine Diversifizierung ihrer Wirtschaften, weg von der Rolle des reinen Rohstofflieferanten, ist den Lateinamerikanern bisher nur ungenügend gelungen. Für eine wirtschaftliche Entwicklung in diesem Sinne wäre eine Reform der Bildungssysteme vordringlich. Es müsste sichergestellt werden, dass auch die Mehrheit der Bevölkerung, die sich keine teuren Privatschulen leisten kann, eine qualitativ gute Ausbildung erhält. Ausserdem müsste das Rechtssystem reformiert werden. Die ungenügende Rechtssicherheit erhöht die Produktionskosten und schreckt Investoren ab. Dasselbe gilt auch für die hohen Kriminalitätsraten der Region. Der Kriminalität müsste mit vorbeugenden Massnahmen und effizienteren Polizeikräften zu Leibe gerückt werden.

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