Dienstag, 6. November 2018

Goethes Farbenlehre.

Goethe, Tuschzeichnuung 1809
aus derStandard.at, 6. November 2018,

Als Goethe glaubte, Newton widerlegt zu haben
Der berühmte Dichter hielt seine Farbenlehre für sein Hauptwerk. Doch er verschätzte sich – auch was seine eigenen wissenschaftlichen Fähigkeiten anging 

von Florian Freistetter

"Mehr Licht!" soll Johann Wolfgang von Goethe gesagt haben, kurz bevor er am 22. März 1832 an einem Herzinfarkt starb. Vielleicht wollte er ein letztes Mal poetisch sein. Vielleicht wollte er einfach nur, dass die Vorhänge vor dem Fenster aufgezogen werden.

Vielleicht hat er sich aber auch in seinen letzten Momenten an das erinnert, was er als seine größte Lebensleistung ansah. Und was waren nicht seine Bücher, Dramen und Gedichte, wie er selbst sagt: "Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein. Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der Einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute."

Umtriebiger Literat

Goethe, der große Dichter, war also fest davon überzeugt, auch ein großer Naturwissenschafter zu sein. Er hielt sich für den "Einzigen", der verstanden hatte, wie Farben funktionieren. Genau das erklärte er in seiner 1810 veröffentlichten Schrift "Zur Farbenlehre".

Als Minister des Herzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach war Goethe unter anderem für den Berg- und Ackerbau und die Forstwirtschaft zuständig. Das weckte sein Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen, mit denen er sich ab 1780 beschäftigte. Er sammelte Mineralien, von denen er bis zu seinem Tod fast 18.000 Exemplare zusammen trug. Er betrieb Botanik, Geologie, verfolgte die chemische Forschung und untersuchte menschliche Knochen. Vor allem aber beschäftigten ihn die Farben.

Seine Farbenlehre hielt Goethe für sein naturwissenschaftliches Hauptwerk. Inspiriert durch Beobachtungen von Licht, Schatten und Farben in der Natur, die Goethe auf seinen vielen Reisen machte, griff er die Arbeit von Isaac Newton an. Der englische Forscher hatte schon im 17. Jahrhundert erklärt und experimentell demonstriert, dass weißes Licht aus verschiedenen Farben zusammengesetzt ist. Diese Farben lassen sich durch ein Prisma trennen und auch wieder zu weißem Licht zusammenführen.

Newtons Prisma

Newton hatte sein bahnbrechendes Experiment in einem komplett abgedunkelten Raum durchgeführt. Sonnenlicht fiel nur durch ein kleines Loch in einer Wand auf ein Prisma, der dahinter entstehende Regenbogen aus farbigen Licht war gut zu sehen. Goethe dagegen ging anders vor, wie er in seiner Farbenlehre schrieb: "Eben befand ich mich in einem völlig geweißten Zimmer; ich erwartete, als ich das Prisma vor die Augen nahm, eingedenk der Newtonischen Theorie, die ganze weiße Wand nach verschiedenen Stufen gefärbt, das von da ins Auge zurückkehrende Licht in so viel farbige Lichter zersplittert zu sehen."

Aber natürlich sah Goethe nichts. Die weiße Wand war eine ausgedehnte Lichtquelle. Das Prima zerlegte das Licht zwar in einzelne Farben, aber da hier viele Lichtstrahlen in das Prisma fallen, überlagerten sich die ebenso vielen farbigen Einzelstrahlen wieder zu weißem Licht. Nur an Kanten oder ähnlichen Bereichen der Wand, wo keine komplett flächige Lichtquelle vorlag, waren Regenbogenfarben zu sehen.

Goethe aber hielt sein Experiment für einen Erfolg: "Es bedurfte keiner langen Überlegung, so erkannte ich, dass eine Grenze notwendig sei, um Farben hervorzubringen, und ich sprach wie durch einen Instinkt sogleich vor mich laut aus, dass die Newtonische Lehre falsch sei."

Ablehnende Zeitgenossen

Johann Wolfgang von Goethe war also überzeugt, die optische Forschung von Newton widerlegt zu haben. Licht sei eine Einheit; Helligkeit, also weißes Licht, könne nicht durch Dunkles, also aus Farben zusammengesetzt sein. Licht und Dunkelheit waren für Goethe gleichberechtigte Phänomene und beide ebenso gleichberechtigt für die Entstehung von Farben nötig und verantwortlich. Sie würden durch das Zusammenwirken von Licht und Finsternis bei der Vermittlung eines "trüben Mediums" entstehen.

Die meisten Wissenschafter der damaligen Zeit lehnten die Goethe'sche Farbenlehre allerdings ab. Hermann von Helmholtz bezeichnete sie etwa als "den Versuch, die unmittelbare Wahrheit des sinnlichen Eindrucks gegen die Angriffe der Wissenschaft zu retten." Aus heutiger Sicht wissen wir, dass Goethe zwar ein paar interessante Gedanken zur Psychologie der Farbwahrnehmung hatte. Aber seine physikalische Beschreibung des Lichts und der Farben und ihrer Entstehung ist schlicht und einfach falsch.

Selbstbewusst verschätzt

Goethes Irrtum bestand nicht nur in fehlerhaften Experimenten und falscher Interpretation der Ergebnisse. Er lag vor allem in einer falschen Einschätzung seiner eigenen Fähigkeiten. Johann Wolfgang von Goethe war unzweifelhaft ein umfassend gebildeter Mensch und einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter. Aber nur weil man in einem Bereich überragende Fähigkeiten besitzt, folgt daraus keine universelle Begabung für alle Disziplinen.

Das ist ein Verhalten, dem man in der Wissenschaft (aber nicht nur dort) immer wieder begegnen kann. Etwa beim Nobelpreisträger Ivar Giaever, der immer wieder gern in der Öffentlichkeit erklärt, dass der Klimawandel kein Problem und das menschengemachte CO2 nicht dafür verantwortlich sei.

Giaever ist allerdings kein Experte für Klimawissenschaft, sondern Physiker, und seine "Erkenntnisse" über den Klimawandel entstammen dem Selbststudium im Internet. Auch wenn Giaever ein Genie sein mag, was die Quantenmechanik angeht – was die Klimaforschung betrifft, ist er a priori nicht besser qualifiziert als jeder andere Laie.

Die Grenzen der eigenen Kompetenz

Eine Ausbildung zum Ingenieur macht einen auch nicht zwingend zum Experten für die Relativitätstheorie oder die Kosmologie. Trotzdem erhalte ich regelmäßig Post von (meist pensionierten) Ingenieuren, die mir im Detail erklären wollen, dass sie Einsteins Erkenntnisse oder die Urknalltheorie widerlegt haben.

Goethe war zwar ein naturwissenschaftlich informierter und interessierter Mensch, aber studiert hatte er Jus und nicht Physik. Er war kein ausgebildeter Naturwissenschafter, und seine Forschung war fehlerhaft.

Es ist erschreckend leicht, dem Goethe'schen Irrtum zu verfallen. Wenn man es gewohnt ist, Tag für Tag Experte auf seinem eigenen Gebiet zu sein, dann muss man sich manchmal aktiv daran erinnern, dass man trotzdem nicht überall Bescheid weiß. Aber genau das ist wichtig. Wissenschaft kann nur dann funktionieren, wenn man sich der eigenen Grenzen bewusst ist. Denn nur dann hat man eine Chance, sie zu erweitern.  


Nota. - Ob man für die Wissenschaft wie für die Kunst ein besonderes eingeborenes Talent braucht, ist höchst zweifelhaft. Zum Ethos der Wissenschaft gehört die Annahme, dass man mit Gewissenhaftigkeit beim Sammeln des Materials und bei Genauigkeit in der Befolgung der geltenden Regeln und natürlich mit etwas Fleiß schon zu Ergebnissen kommen werde, die immerhin der Überprüfung durch die Kollegen standhalten.

Ob Genie ausreicht, um diese Bedingungen im Einzelfall auch mal zu überspringen? Eine wahre Einsicht kann einem im Traum kommen, ganz ohne Begabung. Dass sie wahr ist, kann der Traum nicht bezeugen: Das muss die Wissenschaft schon erst noch prüfen

Ebenso wenig wie ein Kunstwerk lässt sich ein Stück Wissenschaft individuell bestimmen. Kunst und Wissenschaft sind en gros regulative Instanzen im Lebenszusammenhang einer Kultur, en détail sind sie die spezifische Tätigkeit eines Berufsstandes. Der steht in Konkurrenz und Austausch miteinander; rechtferti- gen und bewähren muss er sich auf längere Sicht vor einer Öffentlichkeit, die ihm einen Markt bietet, Wis- senschaftler oder Künstler ist keiner für sich allein, sondern wenn, dann für den Rest der Welt.

Das ist es zugleich, was gegebenenfalls ihr Selbstvertrauen rechtfertigt: Als Angehörige eines streitbaren Standes weiß sich ein jeder unter ständiger Beobachtung durch seinesgleichen, und wo er sich vergreift, werden die andern schon laut schreien, bevor er es selber merkt. Wissenschaftlich  werden sie durch Teil- habe an einer unablässig prozessierenden Kritik. 

Und nicht durch eine zünftige Ausbildung noch durch genaues Befolgen der zünftigen Regeln. Die wird man wohl brauchen, um der Kritik der Andern standzuhalten. Doch nicht auf sie kommt es an, sondern eben - auf die prozessierende Kritik.

*

Entlastend für Goethe muss man ihm zugute halten, dass Wissenschaft in diesem Sinn zu seiner Zeit erst noch im entstehen begriffen war - wozu er mit seinem dilettantischen Auftritt ja seinen Beitrag geliefert hat. Dilettantisch war er, weil schon dmals (schon seit der Scholastik) die Kritik, die er ja an Newton vor- nahm, darin zu bestehen hatte, zuerst die Voraussetzungen zu prüfen, von denen der Kritisierte ausgeht. Hätte Goethe das getan, hätte er Newtons Lehre genauer verstanden und nicht fälschlich gemeint, sie widerlegt zu haben, bloß weil sein eignes Experiment daneben gegriffen hat.

Der Grund für Goethes Fehlgriff ist, dass er selbstgefällig war wie jeder Philister, und deren Schutzheiliger ist er bis heute.
JE,

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen