Dienstag, 13. November 2018

Ausgespielt.

 aus derStandard.at, 13. November 2018

Schon kleinste Meinungsunterschiede stören Kooperationbereitschaft 
Gängige Modelle zur Entstehung und Ausbreitung von Kooperation vernachlässigen unterschiedliche Ansichten und versagen in der Realität, besagt eine neue Studie

Wien/Klosterneuburg – Der Wille zur Zusammenarbeit wurde bisher überschätzt. Eine einzelne Unstim- migkeit untergräbt bereits den Kooperationswillen in einer Gesellschaft und kann sie in zerstrittene Grup- pen spalten, berechneten österreichische Forscher mit spieltheoretischen Modellen. Sie berücksichtigten, dass Menschen oft uneins sind, was gut und was schlecht ist. Die Studie erschien im Fachjournal "PNAS".

Mit spieltheoretischen Modellen versuchen Wissenschafter herauszufinden, wie sich Kooperation in einer Population etablieren kann und welche sozialen Normen sie unterstützen. In früheren Arbeiten wurde aber mit der Annahme gearbeitet, dass jeder in der Gruppe über die anderen Bescheid weiß und alle die gleichen Werte vertreten. "In der Realität treffen diese Annahmen oft nicht zu", so die Forscher um Christian Hilbe vom Institute of Science and Technology (IST) Austria in Klosterneuburg (NÖ) und den österreichischen Biomathematiker Martin Nowak von der Harvard University.

Einigkeit vorausgesetzt

In früheren Studien habe man acht Hauptstrategien ermittelt, die rasch zu einer stabilen Zusammenarbeit in einer Gesellschaft führen. Eine davon lautet zum Beispiel, dass man jemandem anderen nur hilft, wenn er einen guten Ruf hat. Bei einer anderen findet es jeder gut, wenn anderen geholfen wird, ganz egal was man von einer Zielperson hält.

Die Modelle, in denen sich solche Strategien bewährt haben, gehen aber samt und sonders davon aus, dass alle Beteiligten bestimmte Verhaltensweisen als gut empfinden, erklärte Hilbe. Dies sei im wirklichen Leben aber nicht der Fall. Manche Menschen würden es gut finden, dass man Ertrinkende egal welcher Herkunft aus dem Mittelmeer rettet, andere nicht.

Wenn Menschen in den Modellen über fehlerhafte Informationen verfügen können und Meinungsver- schiedenheiten existieren, versagten diese acht Strategien. "Keine davon führte zu einem hohen Maß an Kooperation, und viele waren instabil oder setzten sich erst gar nicht in der Bevölkerung durch", schreiben die Forscher.

Gespaltene Population

Meinungsunterschiede würden sich bei den zuvor als erfolgreich beschriebenen Strategien teils rasch in der Gesellschaft verbreiten und sie spalten. Manchmal könne demnach sogar eine einzelne Unstimmigkeit dazu führen, dass eine Population in zwei polarisierende Untergruppen aufgeteilt werde. Bei einigen Strategien kann sich die Bevölkerung laut den mathematischen Modellen zwar wieder zusammenraufen, aber das dauert oft lange.

Welche Strategien zu stabiler Kooperation unter realistischen Voraussetzungen führen, könne man aber noch nicht sagen, sagte Hilbe: "Da wir auf zeitaufwendige Simulationen angewiesen sind, haben wir zunächst die acht bisher vielversprechendsten Kandidaten getestet, aber für die haben wir eher schlechte Neuigkeiten". Nun wolle man die anderen möglichen Strategien mit vergleichbarer Komplexität abklopfen. Derer gibt es zwei hoch zwölf, also 4.096. Hilbe: "Ich fürchte, da werden wir eine Weile beschäftigt sein."


Abstract
PNAS: "Indirect reciprocity with private, noisy, and incomplete information"


Nota. - Theoretische Modelle gehen von der Normalität aus. Unter Normalität verstehen sie den Durch- schnitt. Stillschweigend vorausgesetzt ist, dass die im Modell dargestellte Realität von Gesetzen regiert wird. Das tut bewusst und absichtsvoll die Naturwissenschaft; das macht sie geradezu aus, nämlich im Unterschied zu andern Wissensgebieten.

Übertragen auf menschliches Verhalten - nämlich unsere Geschichte - wird daraus eine Petitio principii. Die Annahme, dass der Durchschnitt der Normalfall ist, ist die Annahme einer Gesetzlichkeit. Würde allerdings die Geschichte der Menschheit von Normalität und Durchschnitt bestimmt, wäre ein Geschichts- wissenschaft nie entstanden. Die beherrschende Realität der Geschichte sind vielmehr die außerordent- lichen Sonderfälle. Sie durchbrechen die Normalität und bereiten das Feld für neue Durchschnitte, indem sie historische Bedingungen verändern. Das nennt man eine Krise. 

Sie entsteht - neben Naturkatastrophen - daraus, dass das Verhalten der Menschen nicht von Ursachen regiert wird, sondern von den Meinungen, die sie von den Ursachen haben. Die entstehen, so trübe es sein mag, im Bewusstsein. Und darin ist, verkleistert und larviert, der freie Wille tätig. Der lässt sich nunmal nicht berechnen.
JE


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