Montag, 17. Februar 2014

Hirnforschung, Psychiatrie und Ursachen.

aus NZZ, 15. 2. 2014                                        Philippe Pinel at the Salpêtrière, 1795 by Tony Robert-Fleury.
  
Erfasst der Blick ins Hirn die Psyche?
Wie ein Psychiater und ein Neuroinformatiker die Chancen neuer Technologien zur Krankheitserkennung beurteilen
 

Die Invalidenversicherung Luzern setzt Hirntests ein, auch in der Psychiatrie hält die Neurologie Einzug. Der in Zürich forschende Neuroinformatiker Klaas Enno Stephan und Psychiater Michael Rufer warnen vor übertriebenen Erwartungen.

Herr Rufer, mit welchen psychischen Störungen sind Sie in Ihrer Klinik häufig konfrontiert?

Michael Rufer: Da unsere Klinik zum Universitätsspital gehört, ist die Psychosomatik ein Schwerpunkt. Oft geht es also darum, herauszufinden, welche Leiden körperlich und welche psychisch bedingt sind. Daneben haben wir häufig mit Angst- und Zwangsstörungen, mit Depressionen oder Folgen von Traumatisierungen zu tun. Eher selten sind klassische psychiatrische Erkrankungen wie die Schizophrenie.

Wie zeigt sich krankhaftes Verhalten?

Rufer: Depressive Patienten zum Beispiel fühlen sich niedergeschlagen und antriebslos. Auch Menschen mit Angst- oder Zwangsstörungen leiden unter ihrer Krankheit. Ängste und Zwänge schränken ihr Leben ein.

Herr Stephan, Sie analysieren solches Verhalten im Hirn. Wie soll man sich das vorstellen?

Klaas Enno Stephan: Nein, und es ist auch nicht unser Ziel, subjektiv erlebte Gefühlszustände biologisch eins zu eins abzubilden. Unsere Ambitionen sind viel simpler: Wir wollen die wahrscheinlichsten Mechanismen entschlüsseln, die zu bestimmten Symptomen führen. Dazu entwickeln wir Messverfahren, die wir zum Beispiel bei Schizophrenie-Patienten anwenden.

Was meinen Sie mit «Mechanismen»?

Stephan: Uns interessiert die Übertragung von Informationen zwischen Neuronen und wie diese sich bei Interaktionen mit der Umwelt ändert; wir konzentrieren uns also auf die Plastizität. Solche Interaktionen lassen sich biologisch beschreiben, die Plastizität lässt sich messen. Zudem können wir aus Verhaltensmessungen die Algorithmen 'ablesen', die ein Mensch für die Informationsverarbeitung einsetzt. Unser Ziel ist es, den Ärzten präzisere Diagnose- und gezielte Therapiemöglichkeiten zu liefern, indem wir solche Mechanismen messbar machen.

Sind Ihre Methoden vergleichbar mit denjenigen der Invalidenversicherung Luzern, die mit Hirntests die Arbeitsunfähigkeit gewisser Gesuchsteller überprüft?

Stephan: Meines Wissens nicht - wobei ich nur die Berichte aus der Presse kenne. Ich wäre allerdings erstaunt, wenn die IV-Stelle wirklich versuchen würde, mit Hirnstrommessungen ganz allgemein kranke von gesunden Menschen zu unterscheiden.

Weshalb zweifeln Sie?

Stephan: Es gibt dazu keine seriös validierte Grundlage, hingegen gibt es viele Studien zu Veränderungen der Hirnaktivität bei psychischen Krankheiten. Wir wissen, dass sich verschiedene psychische Störungen markant voneinander in den Hirnaktivitäten unterscheiden und dass diese Unterschiede sich bei unterschiedlichen psychischen Prozessen anders darstellen. Es ist abwegig, alle psychischen Erkrankungen über einen Leisten schlagen zu wollen.

Rufer: Die IV Luzern will meines Wissens damit keine Diagnose stellen, benutzt aber sogenannte ereigniskorrelierten Potenziale im EEG, um festzustellen, ob bestimmte Defizite und Beschwerden tatsächlich vorhanden sind.

Die IV will damit beweisen, ob jemand simuliert oder nicht. Ist das möglich?

Rufer: Nein, das ist wissenschaftlich absolut unhaltbar. Im Einzelfall kann man nie sicher sagen, wie das Ergebnis zu bewerten ist. Und ausserdem müsste bei der Interpretation das ganze Setting mit einbezogen werden: Lässt jemand freiwillig seine Hirnströme messen, wie beispielsweise im Rahmen von Forschungsprojekten, funktioniert das Gehirn ganz anders als in einer Stresssituation. Steht jemand unter Druck und ist nervös, verändert das die biologischen Reaktionen des Gehirns.

Beim Traumapatienten sind Lebensereignisse der Grund für die Krankheit. Solche Ereignisse lassen sich doch nicht visualisieren.

Stephan: Nein, natürlich nicht. Aber die Erlebnisse eines Menschen prägen sein Hirn, und umgekehrt bestimmt die sich stetig ändernde Struktur eines Hirns zu einem gewissen Teil, wie ein Mensch soziale Erlebnisse sucht. Die Prinzipien dieses Wechselspiels und dessen Ausprägung auf zellulärer Ebene sind inzwischen gut bekannt. Die Ursache eines Traumas ist uns aber nicht zugänglich, alles, was wir darüber wissen, entnehmen wir dem Bericht des Patienten. Wir können das, was der Patient erlebt hat, nicht rückgängig machen. Aber wir können den Ist-Zustand des Gehirns ändern, entweder durch Psychotherapie oder mit Medikamenten.

Herr Rufer, ist man sich darin auch unter Psychiatern einig?

Rufer: Ja, absolut. Vor etwa zwanzig Jahren zeigten zwei bahnbrechende Studien, dass Menschen mit Zwangsstörungen andere Hirnfunktionen haben als Menschen ohne solche Störungen. Es stellte sich zudem heraus, dass sich dank einer erfolgreichen Psychotherapie die Hirnfunktionen normalisieren. Inzwischen wurden solche Nachweise schon x-mal erbracht.

Eine psychologische Intervention ist also dann erfolgreich, wenn sich dadurch das Hirn verändert.

Rufer: Ja, solche Erkenntnisse der Neurowissenschaften machen klar, dass eine Trennung zwischen der biologischen, psychologischen und sozialen Sichtweise nicht mehr sinnvoll ist. Jede psychische Krankheit hat neben einer psychologischen und sozialen Seite auch eine biologische Komponente. Keine ist per se richtig oder falsch, sondern man muss die unterschiedlichen Sichtweisen des gleichen Phänomens zusammenführen. Noch wissen wir nicht genau, wie die Biologie des Gehirns durch Psychologie veränderbar ist. Aber es wäre ein riesiger Fortschritt, wenn wir Untergruppen bestimmter Krankheiten biologisch identifizieren könnten.

Warum sind psychiatrische Diagnosen so schwierig?

Rufer: Sie sind rein deskriptiv und entsprechend oberflächlich. Wenn ein Patient sagt, er habe eine Depression, sagt mir das noch nicht viel. Ich versuche dann in Gesprächen, unter Einbezug seiner Lebensgeschichte, herauszufinden, wie die Depression entstanden ist und was sie für ihn bedeutet. Das Ziel ist jedoch das gleiche wie jenes der Neurobiologen, nämlich die Depression genauer zu verstehen, um dann eine individualisierte Therapie anzubieten . . .

. . . und je nachdem ein bestimmtes Medikament auszuprobieren.

Rufer: Das ist bei Medikamenten die Crux. Wir haben keine Möglichkeiten, die Wirkung im Einzelfall vorherzusagen. Das wissen wir erst nach einigen Wochen. Allerdings arbeiten wir in unserer Klinik mehrheitlich psychotherapeutisch.

Stephan: Den Psychiatern fehlen auf Prinzipien beruhende Indikatoren. Deshalb sind sie auf Versuch und Irrtum angewiesen. Diesen Kreislauf möchten wir durchbrechen, indem wir den Pfad von der Biologie zum Symptom finden, das je nachdem soziale Ursachen hat. Wir möchten die Ursache eines Symptoms messbar machen, um zielgerichtete Pfade der Behandlung aufzuzeigen.

Rufer: Wobei Sie nicht die eigentliche Ursache aufzeigen, sondern das biologische Korrelat.

Stephan: Einverstanden, Ursache im Sinn einer schweren Kindheit können wir nicht präzis auflösen.

Rufer: Wichtig ist mir, festzuhalten, dass wir über Gespräche individuelle Diagnosen stellen und Therapieplanungen anbieten, die nicht auf Versuch und Irrtum beruhen. Könnten wir auch noch ins Hirn schauen, hätten wir aber eine bessere Diagnostik als heute.

Also spielt das Individuelle, die Persönlichkeit - auch wenn sie neurologisch nicht fassbar ist - eine zentrale Rolle für den Erfolg der Therapie.

Rufer: Ja, wir müssen herausfinden, wie eine Depression individuell zustande gekommen ist und wie es gelingen kann, sie wieder loszuwerden. Das hängt auch von der Persönlichkeit des Patienten ab.

Stephan: Im Unterschied zu anderen Neurowissenschaftern wollen wir nicht grosse Begriffe wie Persönlichkeit oder Bewusstsein erklären. Als Mediziner möchte ich ganz spezifische Probleme im Alltag lösen, immer mit der klinischen Anwendung vor Augen.

Rufer: Eine präzise Diagnose allein nützt allerdings nichts, wenn der Patient die dafür geeignete Behandlung nicht mitmachen kann oder will, weil er beispielsweise Angst davor hat. Der subjektive Aspekt ist genau so entscheidend wie der objektiv-biologische.

Stephan: Dem stimme ich zu. Wobei ein Patient, der weiss, dass sich dank einer Psychotherapie seine Hirnfunktionen verändern wird, motivierter ist. Werden psychische Erkrankungen biologisch verstanden, nimmt zudem die Last der Stigmatisierung ab. Denken Sie nur an die Epilepsie. Früher galten epileptische Menschen als von Dämonen Besessene.

Rufer: Einverstanden. Aber auch wenn man weiss, dass eine psychische Erkrankung mit neurobiologischen Veränderungen einhergeht, ist die Erkrankung nicht wirklich erklärt. Offen bleibt, weshalb gerade diese Person solche Veränderungen hat und andere nicht. Offen bleibt auch, ob die Veränderungen die Ursache oder nur der Spiegel der psychischen Erkrankung sind.

Interview: Dorothee Vögeli

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