Mittwoch, 25. Dezember 2013

Wiedermal verschenkt?

aus NZZ, 24. 12. 2013                                              Jacopo Bassano, Anbetung der Könige, Ausschnitt

Der grosse Potlatsch
Ein Geschenk ist kein Geschenk, wenn es nicht auch eine Form des Überflüssigen darstellt. Durch Geschenke werden soziale Beziehungen und Hierarchien sichtbar gemacht.


Von Konrad Paul Liessmann 

Gegen Ende eines Jahres wird der moderne Mensch von seinen Freunden und Bekannten mit einer der seltsamsten Fragen konfrontiert, die es gibt: Hast du schon alle Geschenke? Ach ja, es ist Vorweihnachtszeit, die Christkindlmärkte haben geöffnet, überall glitzert und glimmert es, die Einkaufsstrassen der Städte sind festlich geschmückt und beleuchtet, die Schaufenster entsprechend drapiert, in den Fussgängerzonen und Geschäften herrscht ein unheimliches Getriebe und Geschiebe, die Wirtschaft spricht von guten oder weniger guten Einkaufstagen, ganze Branchen leben angeblich davon, dass diese hoch gestimmten Wochen die Flauten des restlichen Jahres ausgleichen, mit einem Wort: Es ist Adventszeit, das grosse Warten auf die Ankunft der Geschenke. Vorher aber müssen diese erst einmal besorgt werden.

Was schenken? Warum schenken? Wie schenken? Wen beschenken? Schenken stresst. Die stillste Zeit des Jahres ist längst zur lautesten geworden, und sehr aufgeklärte und konsumkritische Menschen verweigern sich diesem Betrieb auch gerne mit grosser Geste: Wir schenken uns nichts (wie doppeldeutig!), wir feiern nicht, wir machen bei der Indienstnahme eines religiösen Festes durch den globalen Kapitalismus nicht mit. Oder, ebenfalls sehr modern: Wir verweigern uns dem Konsumterror, den Angeboten der Märkte und Warenhäuser, den Einflüsterungen der Werbung und schenken das, was man nicht kaufen kann: Zeit, Aufmerksamkeit und Liebe. Vielleicht sogar in Form selbstgestalteter Gutscheine. Hoffentlich ist dann alles noch da, wenn diese Gutscheine eingelöst werden wollen.

Nein, mit dem Schenken ist es nicht so einfach. Soziologen und Anthropologen belehren uns gerne darüber, dass es kaum eine Gesellschaft gibt, die ohne ritualisierte Formen des Schenkens auskommen könnte. Im Akt des Schenkens materialisiert sich im Kleinen der soziale Prozess als solcher. In seiner frühen Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung aus dem Jahre 1908 machte der Soziologe Georg Simmel einige Beobachtungen, die noch immer geeignet sind, ernüchternde Einblicke in Form und Funktion des Schenkens zu schenken. Bezeichnenderweise finden sich diese Bemerkungen im Kapitel über den «Armen»: «Die Soziologie des Geschenkes fällt zum Teil mit der der Armut zusammen», heisst es bei Simmel lapidar.

Im Grunde kennt Simmel nur drei Formen, wie ein Transfer von Gütern in einer Gesellschaft vollzogen werden kann: Geschenk, Raub und Tausch. Diese Formen entsprechen drei ebenso grundsätzlichen Motiven des Handelns: Altruismus, Egoismus, objektive Normierung. Der Egoist nimmt sich ohne Rücksicht, was er bekommen kann; der Händler und sein Käufer wollen von subjektiven Momenten absehen und orientieren sich am objektiven Geldwert einer Sache: Wer diesen nicht bezahlen kann, bekommt auch nichts; der Altruist aber verkauft nicht, er veräussert seinen Besitz auch nicht unter Zwang, sondern er gibt - und dies freiwillig. Wem aber gibt er, und warum tut er dies? Für Simmel gab es zwei Antworten auf diese Fragen: Entweder man gibt von dem, was man hat, damit der Arme, der dieser Dinge entbehren muss, auch etwas bekommt; oder es handelt sich um eine «Expansion des Ich, das sich, mehr oder minder wahllos, im Schenken ausströmt».

Man versteht, dass Schenken doch eine eher zweideutige Angelegenheit ist. Der Arme, dem das Geschenk aus der Not helfen mag, wird dadurch in seiner Armut bestätigt. Ohne Taktgefühl überreicht, können solche Geschenke weniger erfreuen als beschämen. Die Grenze zum herablassend gewährten Almosen ist da auch fliessend. Und der von einem expandierenden Ich Beschenkte spürt, dass es nicht um ihn, sondern um den Schenkenden ging, der sich durch ein Geschenk dem anderen einprägen, diesen in seinen Bann schlagen möchte. Dort, wo dies weder möglich noch opportun ist, empfiehlt es sich daher, Dinge zu schenken, die alsbald wieder verschwinden und keine nachhaltigen Spuren hinterlassen: Blumen, Getränke, Pralinen. Das, was bleibt, kann auch «vergiftet» sein. «Gift» und «Gabe» sind auch im Deutschen etymologisch verwandt, die «Mitgift» zeugt bis heute davon. Die klassische Antike kannte mit dem «Danaergeschenk», durch das sich der Feind unbemerkt einschleicht, und der «Büchse der Pandora», durch die die Übel in die Welt gelangen, noch jene Dimension des Geschenkes, die den schmerzenden, ja tödlichen Stachel zum Ausdruck bringt, den ein Geschenk auch darstellen kann. Nicht immer ist Beschenktwerden ein Glück.

Die Art der Geschenke und die Formen des Schenkens drücken deshalb immer auch soziale Beziehungen aus. Natürlich möchte man mit einem Geschenk Wünsche erfüllen, eine Freude bereiten. Aber wer kennt schon die Wünsche des anderen wirklich? Im Wesen des Geschenkes liegt es, dass man es nicht zurückweisen darf, ja, dass man geradezu verpflichtet ist, sich darüber zu freuen. Wie aber sich über ein Geschenk freuen, das nur eines dokumentiert: dass der Schenkende offenbar keine Ahnung hat, wer man ist. Kein Wunder, dass viele Geschenke umgetauscht werden müssen, achtlos beiseite gelegt oder mehr oder weniger heimlich rasch entsorgt werden. Das Geschenk ist dann immer auch Indikator dafür, wie viel Aufmerksamkeit man jemandem im Vorfeld des Schenkens geschenkt hat. Der Anspruch, dass man in intimen Beziehungen die unausgesprochenen Wünsche des anderen kennen, sie ihm gleichsam von den Augen ablesen können sollte, ist in der Regel überzogen, die Enttäuschung vorhersehbar. Die kindliche Lösung dieses Problems, nämlich Wunschzettel zu schreiben, ist ein Ausweg, der sich der Begrenztheit wechselseitigen Einfühlungsvermögens bewusst ist und dieses akzeptiert.

Man kann der Intimität des Geschenks aber auch auf andere Art und Weise entgehen. Es genügt, sich auf Geschenke zu beschränken, die keinen Bezug zur Individualität des Beschenkten aufweisen. Aus diesem Grunde hat man den «Geschenkartikel» erfunden, ein nutzloses Ding, das nur noch die Idee des Schenkens verkörpert, eine leere Geste, die jeder inhaltlichen Bestimmung entbehrt. Die Freude darüber hält sich dann auch in Grenzen. Anders verhält es sich mit Gutscheinen und Geldgeschenken.

Gutscheine sind natürlich eine Verlegenheitslösung. Sie stellen Intimität her, denn Gutscheine sind nur gegen eine Form von Waren einlösbar, die man der Persönlichkeit des Beschenkten zuordnet: Bücher, Kleidung, Unterwäsche, Sportartikel, Musik, Kosmetika, Friseurbesuche, Schönheitsoperationen. Gleichzeitig drückt man durch einen Gutschein nicht unelegant aus, dass man eigentlich nicht so genau weiss, was der andere nun gerne liest oder welchen Duft er gerade bevorzugt. Der Gutschein schenkt nicht einen Gegenstand, sondern die Option auf eine bestimmte Klasse von Gegenständen. Der Beschenkte darf sich in einem begrenzten Rahmen seine Wünsche selbst erfüllen.

Beim Geldgeschenk wird auch dieser Rahmen aufgehoben. Es erlaubt den Beschenkten, den Gegenwert des Geschenkes in Waren und Dienstleistungen aller Art einzutauschen. Natürlich: Das Geldgeschenk ist absolut unpersönlich, ich gebe nichts, das bleiben oder aufbewahrt werden könnte, sondern schenke dem anderen Kaufmöglichkeiten. Er hat nun die Qual der Wahl, kann sich vielleicht aber auch den einen oder anderen Wunsch erfüllen, von dem ich keine Ahnung hatte und über den es sich auch nicht gelohnt hätte, nachzudenken. Der einzige persönliche Aspekt am Geldgeschenk liegt in dessen Höhe. Diese demonstriert in aller Nüchternheit, was ein Geschenk für diesen Menschen mir wert gewesen wäre. Bei allen anderen Geschenken muss dieser Wert vom Beschenkten erst berechnet werden - wenn er beim Auspacken des Geschenks schnell überschlägt, was dieses gekostet haben möge und welche Wertschätzung sich dahinter verbirgt.

Dass Geschenke, um das Mass ihrer Dignität feststellen zu können, auf ihren Geldwert zurückgerechnet werden, hat unter anderem zur Folge, dass auch dort, wo emotional hoch besetzte Dinge geschenkt werden, diese einen Tauschwert aufweisen müssen. Das Schenken von Selbstgemachtem oder Gebasteltem oder von Gegenständen aus dem eigenen Besitz ist deshalb ziemlich ausser Mode gekommen. Es gilt, paradoxerweise, als Ausdruck von Not, jemandem nicht etwas kaufen zu wollen, sondern für diesen etwas herzustellen oder wegzugeben.

Das Geldgeschenk verweist aber noch auf einen anderen prekären Zusammenhang: dass es, indem es das Geschenk in die Sphäre des Tausches zurück zwingt, diesem das nimmt, was es als Alternative zum Tausch überhaupt erst denkbar gemacht hatte. Für viele Soziologen und Philosophen war und ist die Gabe der eigentliche Gegenbegriff zum Geld. Der Kulturanthropologe Marcel Hénaff hat in unserer Zeit in seinem kenntnisreichen Buch «Der Preis der Wahrheit» diese These wieder starkgemacht. Ausgehend von Marcel Mauss' berühmter Arbeit über die Gabe, die 1925 erstmals publiziert worden war, entwirft Hénaff ein Szenario, das deutlich macht, dass es sich auch bei ritualisierten Formen des Schenkens und Gebens um keine Vor- oder Frühform des Geldes, sondern um dessen Gegenteil gehandelt hat. Die Gabe zirkuliert nämlich nur in einem begrenzten sozialen Raum, sie und ihre Adressaten sind von vornherein bestimmt und mit Bedeutung versehen. Es handelt sich bei der Gabe also gerade um keinen Tauschakt, auch wenn das Ritual eine Gegengabe einfordert, sondern um ein Verfahren zur Konstitution und Sicherung eng definierter sozialer Beziehungen.

Allerdings: Unproblematisch ist diese alternative Logik der Gabe nicht. Schon Marcel Mauss hatte in seiner Studie die Theorie formuliert, dass es eine ungeschriebene Pflicht gebe, Gaben zu erwidern, also sich nicht nur beschenken zu lassen, sondern auch zu schenken. Im Potlatsch, einem Fest nordamerikanischer Indianer, sah Mauss dieses Prinzip am reinsten verkörpert: «Geben heisst seine Überlegenheit beweisen, zeigen, dass man mehr ist und höher steht (. . .); annehmen, ohne zu erwidern oder mehr zurückzugeben, heisst sich unterordnen, Gefolge und Knecht werden, tiefer sinken.» Diese Logik führte im Potlatsch zu regelrechten Schenkwettbewerben, bei denen sich die Häuptlinge wechselseitig in ihrer Freigiebigkeit zu übertrumpfen trachteten, bis hin zum Ruin. Dass diese exzessive Verschwendungsökonomie, die allen Geboten der Effizienz, Sparsamkeit und des Profits Hohn sprach, Ende des 19. Jahrhunderts in Kanada und den USA verboten wurde, versteht sich da fast von selbst.

Allerdings: Die Gesetze des Potlatschs gelten tendenziell noch immer. Geschenke müssen erwidert werden, und es gehört viel Fingerspitzengefühl dazu, zu wissen, im welchem Ausmass und mit welchem Wert auf ein Geschenk zu replizieren ist. Wer ein Geschenk nicht schenkend erwidern kann, der muss zumindest dankbar sein. Wer aber dankbar sein muss, weiss, dass ihm im Leben nichts geschenkt wird. Das Weihnachtsfest, der grosse Potlatsch unserer Tage, ist in diesem Sinne tatsächlich ein echtes Schenkfest, weil alle Beteiligten sich zum selben Zeitpunkt wechselseitig beschenken - anders als bei Geburtstagen, Hochzeiten oder Jubiläen welcher Art auch immer, bei denen es einen Empfänger und viele Gebende gibt. Ein letzter Rest des Dankens, wie er den Potlatsch zumindest aus der Sicht der europäischen Ethnologen kennzeichnete, findet sich dann auch im weihnachtlichen Schenkverhalten: Durch die Geschenke werden die sozialen und emotionalen Beziehungen, Hierarchien und Abhängigkeiten sichtbar gemacht, das wechselseitige Überbieten unter Gleichrangigen ist unübersehbar, und ein Geschenk ist kein Geschenk, wenn es nicht auch eine Form des Überflüssigen, der Verausgabung darstellt. Dass sich viele Menschen im vorweihnachtlichen Geschenk-Kaufrausch mitunter veritabel verschulden, kann als handfester Beleg dafür genommen werden.

Damit aber, allen Warnungen besorgter Konsumentenschützer zum Trotz, drückt sich auch der innerste Sinn eines Geschenkes aus: etwas von sich einem anderen geben. Wer einen Kredit aufnimmt, um ein Geschenk für seinen Partner oder seine Kinder zu finanzieren, schenkt diesen nicht nur den Gegenstand, sondern auch jene Lebenszeit, die von nun an für die Tilgung dieses Kredits aufgewendet werden muss. Jeder Kredit ist eine Vorwegnahme von Zukunft - kommt diese nicht mir selbst, sondern einem anderen zugute, habe ich diesem mit einer Gabe auch ein Stück meiner Zukunft geschenkt. Damit aber erinnert das Geschenk an eine seiner ursprünglichsten Wurzeln: an das Opfer.

Das Opfer - Marcel Hénaff hat auch darauf aufmerksam gemacht - war ursprünglich jene Gabe, durch die ein Gott günstig gestimmt werden soll. Geopfert kann deshalb nur etwas werden, das sich schon dem Menschen verdankt, also z. B. selbstgezüchtetes Vieh - oder das eigene Kind. Nimmt man den religiösen Sinn des Weihnachtsfestes ernst, kann man diese Dimensionen noch erkennen, allerdings in christlich invertierter Form: Nun opfert Gott seinen Sohn, um den Menschen die Erlösung zu schenken. Diejenigen, die wie die Weisen aus dem Morgenland im göttlichen Kind den Heiland sehen, beschenken es, da es den Menschen selbst geschenkt wurde. Man kann deshalb, wie Friedrich Schleiermacher in seiner schönen Gesprächsnovelle über die Weihnachtsfeier aus dem Jahre 1806 bemerkt hat, in der Tatsache, dass ein Kind - und das heisst: jedes Kind - als ein Geschenk Gottes aufgefasst wird, jenes Mysterium sehen, das das Beschenken von Kindern immer schon als eine Form der Erwiderung deutet: Es wird etwas zurückgegeben. Und das Kind ist dann auch das einzige Wesen, das beschenkt werden kann, ohne schenken zu müssen, denn es selber ist Geschenk. Die unter einem Weihnachtsbaum leuchtenden Kinderaugen mögen deshalb noch immer als die Kernbotschaft dieses Festes verstanden werden, die sich noch in ihren kitschigsten Evokationen bemerkbar macht.

Was aber, so könnten wir ernüchtert fragen, wenn das Kind kein Geschenk mehr ist, sondern etwas, das wie alles auf der Welt produziert wird, um in einen Kapitalkreislauf eingespeist zu werden? Männer, Frauen, Mediziner, Techniker, Genetiker und Leihmütter erscheinen dann als Produktionsfaktoren für die Her- und Bereitstellung von Humankapital, das den Unternehmen und der Gesellschaft zur Erzeugung von Profit und zur Sicherung von Beitragszahlungen zur Verfügung gestellt werden wird. Das Modell des Geschenks hat dann an Kraft und Plausibilität verloren. An seine Stelle tritt auch im intimsten Rahmen, dort, wo - nach einem schönen Wort von Hannah Arendt - mit jedem Neugeborenen auch ein neuer Anfang gesetzt wird, das Tauschverhältnis. Ein solches Kind wird dann auch nicht mehr beschenkt, sondern es wird durch die Bereitstellung von pädagogisch wertvollem Spielzeug in seine möglichen Potenziale und in seine zukünftige Wettbewerbsfähigkeit investiert. Unter diesen Bedingungen wäre die Gabe tatsächlich unmöglich geworden. Das gleichermassen verschwenderische wie verzweifelte Festhalten an den ritualisierten Formen des Schenkens in der Weihnachtszeit kann auch als Ausdruck dafür gewertet werden, dass wir in solchen Verhältnissen dann doch (noch) nicht leben wollen. Und solange in diesen Zeiten gefragt wird, ob man denn schon alle Geschenke habe, ist noch nicht alles verloren.

Konrad Paul Liessmann ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.

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