Mittwoch, 25. Dezember 2013

Am Grund der Welt.

aus NZZ, 24. 12. 2013                                                   Bild: Dt. Botschaft in Pakistan, Brunnenloch

Warum die Welt so ist, wie sie ist
Auf der Suche nach einer «letzten» Theorie stehen Physiker vor dem Nichts
 

von Eduard Kaeser 

Physiker tun sich schwer damit, unser Universum als Resultat göttlicher Fügung zu begreifen. Lieber postulieren sie, unsere Welt sei nur eine von vielen. Dem Anspruch, kausale Erklärungen zu liefern, werden sie damit aber auch nicht gerecht.

Die Idee, dass das Universum nach dem Entwurf eines Demiurgen geschaffen worden ist, gehört nach herkömmlichem Selbstverständnis der Physik in den Abfallkübel der Geschichte. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass sich die Pioniere der neuen Astronomie und Physik intensiv mit der Frage einer «Weltharmonik» abgaben (so hiess Keplers astronomisches Werk, das 1619 publiziert wurde). Und bis Einstein und über ihn hinaus bewegt die Physiker diese tiefe Irritation einer kosmischen Ordnung, die zu erhaben ist, als dass wir sie begreifen könnten. Das schmälerte im Übrigen die Erkenntnisfortschritte der Physik in den letzten drei Jahrhunderten keineswegs. Aber bei aller Betonung und Hochschätzung von Exaktheit, Experiment und Empirie hört man von Physikern immer wieder, dass ihr heimliches Motiv die Suche nach Schönheit und Sinn des Universums sei. Fast scheint es, als sei diese «Schönheit» für viele Physiker eine Art von Religionsersatz geworden.

Was wäre, wenn nicht?

Der Gedanke einer «Harmonie» des Universums mag religiösen Ursprungs sein. Aber man kann auf ihn auch anhand einer kleinen Meditation mit Wahrscheinlichkeiten kommen. Ich nenne sie das «Was-wäre-wenn-nicht-Spiel». Es ist hübsch tückisch. Man beginnt es am besten bei sich selber: Warum gibt es mich? Meine Existenz verdanke ich meinen Eltern. Wenn es sie nicht gäbe, gäbe es auch mich nicht; auch nicht, wenn sie sich nicht zu einem günstigen Zeitpunkt getroffen und Gefallen aneinander gefunden hätten; womöglich auch nicht, wenn ihre Eltern nicht in derselben Stadt gewohnt hätten; auch nicht . . . und so weiter. - Ich kann das Spiel mit allen diesen sich verästelnden Zufällen bis zum existenziellen Schwindelanfall treiben. Auch die Physiker spielen dieses Spiel, allerdings im kosmischen Format.

Alles nur Zufall?

In den letzten Jahrzehnten hat sich dank leistungsfähiger Beobachtungstechnologie nicht nur eine enorme Menge von Daten über das frühe Universum angehäuft, immer mehr wird den Physikern auch bewusst, wie viele günstige Zufälle dazu beigetragen haben, dass es uns überhaupt gibt. Nicht wenige Menschen sehen darin einen Beweis dafür, dass wir von Anfang an «geplant» waren. Aber das ist ein logischer Fehlschluss von der Konsequenz auf die Prämisse.

Physikalische Erklärungen benötigen zweierlei: Gesetze und Anfangs- oder Randbedingungen. Im Labor legt der Experimentator diese Bedingungen selber fest. Wenn ich eine Kugel die Fallrinne hinunterrollen lasse, kann ich dank Fallgesetz bei Kenntnis der wesentlichen Parameter (Neigung der Rinne, Rollreibung usw.) zum Beispiel von der Endgeschwindigkeit der Kugel auf ihre Anfangsgeschwindigkeit schliessen. Das gelingt umso weniger, je mehr Parameter und zufällige Bedingungen am Prozess beteiligt sind. Dann wird das Experiment immer mehr zu einer verwickelten Geschichte, deren Ausgang sich nicht mehr stringent mit ihrem Beginn verknüpfen lässt. So gibt es ja in der Geschichte vom Urknall bis zur Entstehung von Galaxien keine Experimentatoren, und doch müssen zahlreiche zufällige Bedingungen erfüllt sein, damit galaktische Strukturen entstehen: eine sogenannte Feinabstimmung.

Urknall-Modelle schreiben dem Anfangszustand des Universums eine bestimmte Energiedichte und Expansionsrate zu. Wenn nicht schon am Ursprung des Universums ein ganz bestimmtes Verhältnis von Energiedichte und Expansionsrate bestanden hätte, gäbe es keine Galaxien, Sterne und Physiker, die über dieses Verhältnis rätseln.

Was-wäre-wenn-nicht-Fragen richten sich nicht nur auf Anfangsbedingungen, sondern auch auf die Naturkonstanten: etwa Elektronen- und Protonenmasse, Gravitationskonstante, Feinstrukturkonstante, Vakuumlichtgeschwindigkeit, Wirkungsquantum. So sind etwa die Massenverhältnisse der Teilchen innerhalb eines Atoms und die Kräfte, die sie zusammenhalten, genau so abgestimmt, dass das Atom stabil ist und trotzdem mit anderen Atomen interagieren und chemische Verbindungen bilden kann. Nur schon eine geringfügige Änderung ihres Wertes hätte dramatische Folgen: Leben, wie wir es kennen, wäre nicht möglich. Also sind auch Naturkonstanten das Resultat einer primordialen Feinabstimmung.

Viele Physiker schauen jedoch Was-wäre-wenn-nicht-Szenarios scheelen Auges an. Denn Feinabstimmung erklärt eigentlich nichts, sondern schafft bloss weiteren Erklärungsbedarf. Physiker verlangen Erklärungen nach dem Kausalitätsprinzip. Die Frage ist freilich, ob wir denn hier noch mit kausalen Antworten rechnen können.

Argumente für die Feinabstimmung haben etwas Selbstschmeichlerisches. Unsere Fragen entspringen ja dem Bewusstsein, dass es uns gibt, und damit einer aussergewöhnlichen Position. Aber ist sie denn so aussergewöhnlich? Das kosmologische Prinzip besagt doch, dass es im Universum keine privilegierte Position gibt. Man könnte sagen: Nun gut, es braucht ganz bestimmte Anfangsbedingungen dafür, dass ein Universum wie das unsere entsteht. Sie sind nicht wahrscheinlicher als andere. Also gibt es eigentlich nichts zu erklären. Das Universum ist einfach so, wie es ist. Punkt. Aber Leben ist nun einmal etwas ganz Besonderes, nicht nur von einem menschlichen Standpunkt aus gesehen, sondern allein schon aufgrund seiner Komplexität. Ein Krakenhirn ist komplexer als eine leblose Galaxie, also weniger wahrscheinlich. Das genügt, um es als erklärungswürdig anzuschauen.

Aber gibt es denn nicht Kraken und Galaxien, wirft der kritische Laie ein, was bedeutet also die Rede von «weniger wahrscheinlichen» Krakenhirnen? Sie bedeutet allgemein, dass wir eine statistische Betrachtungsweise wählen. Im Besonderen heisst dies, dass die Physiker nicht von der Idee eines Universums ausgehen, sondern von einer grossen Gesamtheit verschiedener, nicht interagierender Universen, jedes mit speziellen Anfangsbedingungen, Gesetzen und Konstanten: einem Multiversum. Unser Universum mit Krakenhirnen wäre darin ein ziemlich unwahrscheinliches. Bei genügend grosser Zahl jedoch wird auch das Unwahrscheinliche wahrscheinlich.

Nach wie vor ist das keine befriedigende Antwort, sondern mutet wie ein Ad-hoc-Manöver an. Denn immer noch stellt sich die Frage: Was oder wer hat gerade unser Universum «ausgewählt»? Unbekannte Gesetze des Multiversums? Zufall? Eine kosmische Intelligenz? Die Kosmologie erreicht hier eine Schwelle, jenseits deren nicht wenige Physiker nur noch eine Spielwiese frivoler Phantastereien erblicken.

Fluktuationen des Vakuums

Und wie steht es mit dem Urknall selbst? Warum gab es gerade diesen, warum gab es ihn überhaupt? Hier stehen die Physiker vor dem Nichts - buchstäblich. Dem klassischen Kausalitätsdenken widerspricht der Gedanke, dass das Universum einfach so «aufpoppt». Für die Quantentheorie bedeutet er hingegen keinen Widerspruch. Sie stellt sich unter dem Nichts einen Grundzustand vor, welcher das Potenzial hat, Teilchen in die Existenz zu entlassen. Entscheidend ist die statistische Denkweise. Den Schlüssel liefert die Heisenbergsche Unschärferelation. Sie besagt grob, dass alle physikalischen Quantitäten «fluktuieren», das heisst sich unvorhersehbar und unverursacht ändern können. Ein statistisches Nichts ist damit nur im Mittel nichts. Deshalb kann in sehr kleinen Zeit- und Raumquanten - in der sogenannten Planck-Zeit und Planck-Länge - eigentlich alles Mögliche wirklich werden: einfach «passieren».

Wenn man nun im Besitze einer lang ersehnten Quantengravitationstheorie wäre, dann läge auch die Erklärung für die Entstehung von Raum und Zeit in Reichweite. Die physikalischen Gesetze würden erlauben, dass Raum, Zeit, Energie, dass das ganze Universum als zufällige Blähung einer Quanten-Fluktuation dem Nichts entspringt. Der Kosmologe Alan Guth, der vor 30 Jahren das Szenario eines «inflationären» Universums entwarf, prägte dafür ein geflügeltes Bonmot: «The Universe is a free lunch» - das Universum ist umsonst zu haben, weil es aus nichts entsteht.

Das Dilemma ist: Wenn das Nichts etwas erklären soll, dann muss es irgendwie qualifiziert (also etwas) sein; und wenn es qualifiziert ist, dann ist das Nichts nicht nichts. Das Quantenvakuum ist eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Universums und zugleich eine weitere Frage nach der Natur dieses Vakuums. Wer das Entstehen des Universums aus dem Nichts zu erklären sucht, braucht zumindest Gesetze, seien dies nun die Gesetze der künftigen Quantengravitation oder welcher Theorie auch immer. Aber selbst wenn wir im Besitz einer «letzten» Theorie wären, die erklärt, wie das Universum entstanden ist, wüssten wir immer noch nicht, warum dies so geschah. Wir brauchten Anfangs- oder Randbedingungen.

Für Newton war noch ganz selbstverständlich, dass er zwar die Gesetze der Natur gefunden hatte, die Anfangsbedingungen aber von Gott festgelegt worden waren. Alan Turing drückte das in seinen «Messages from an Unseen World» wunderschön so aus: Wissenschaft, das sind Differenzialgleichungen. Religion, das sind Randbedingungen. Eine «letzte» Theorie des Universums, die keine Feinabstimmung mehr braucht, müsste sowohl Differenzialgleichungen aufstellen wie auch die Randbedingungen festlegen, das heisst im Grunde selbsterklärend sein, will sagen: Gott spielen. Damit bleibt für den Physiker die Option: Gott spielen oder weitermachen im unabschliessbaren Reigen des Fragens und Antwortens - ein Erbe von Sisyphus?


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