Mittwoch, 13. März 2019

Neurophysiologie des Sozialen.

 
aus derStandard.at, 13. März 2019

Forscher unterdrücken egoistisches Verhalten durch Großhirn-Stimulation
Versuch zeigt, dass finanzielle Anreize eine geringere Rolle gegenüber moralischem Handeln spielen, wenn man die Aktivität im rechten temporoparietalen Kortex senkt

Üblicherweise wird unser Handeln von unseren moralischen Wertvorstellungen beeinflusst. Einen anderen nicht zu unterschätzenden Faktor stellen allerdings finanziell begründete Motivationen dar – und diese können der Moral häufig in die Quere kommen. In einer kürzlich präsentierten Studie haben Schweizer Wissenschafter untersucht, wo im Gehirn moralische und materielle Motive gegeneinander abgewogen werden. Die Ergebnisse zeigen, dass wir im Schnitt sozialer agieren, wenn derartige Abwägungsprozesse unterbunden werden.

Gründe für selbstlose Hilfsbereitschaft

Spenden wir Geld an eine Wohltätigkeitsorganisation oder übernehmen ehrenamtliche Aufgaben, stellen wir die Bedürfnisse anderer vor unsere eigenen und verzichten zugunsten moralischer Werte auf materielle Eigeninteressen. Als Beweggründe für solches Handeln beschreiben Studien unter anderem eine grundsätz- liche Bereitschaft, anderen zu helfen, die Absicht, mit großzügigem Verhalten die eigene Reputation zu verbessern, oder die Fähigkeit, die moralischen und materiellen Konsequenzen möglicher Handlungen zu berücksichtigen.

Ein Forschungsteam um Christian Ruff von der Universität Zürich analysierte nun die neurobiologischen Grundlagen altruistischer Verhaltensweisen. Dabei konzentrierten sich die Wissenschafter auf den rechten temporoparietalen Kortex, eine Hirnregion, der eine Schlüsselrolle bei der Steuerung sozialer Entscheidun- gen zugesprochen wird. In einem Versuch mussten die Testpersonen entscheiden, ob und in welcher Höhe sie Geld an unterschiedliche Organisationen spenden wollten. Dabei stimulierten die Forscher den rechten temporoparietalen Kortex elektromagnetisch, um festzustellen, welcher der drei genannten Beweggründe – grundsätzliche Hilfsbereitschaft, Reputationsüberlegungen oder das Abwägen von moralischen und materi- ellen Motiven – in diesem Gehirnareal angelegt ist.

Mehr Geld lässt uns weniger altruistisch handeln

Es zeigte sich, dass die Studienteilnehmer naheliegenderweise grundsätzlich dazu tendierten, gute Zwecke zu unterstützen und schlechte Zwecke abzulehnen. War der finanzielle Anreiz jedoch genügend groß, gin- gen sie von altruistischem zu egoistischem Verhalten über. Länger standhaft – und somit moralischer – blieben die Probanden, wenn die Forscher die Aktivität des rechten temporoparietalen Kortex mittels elek- tromagnetischer Stimulation senkten.

"Wird dem Gehirn die Fähigkeit genommen, eigene Wertvorstellungen und finanzielle Anreize gegenein- ander abzuwägen, halten Menschen offenbar eher an ihren moralischen Überzeugungen fest", erläutert Ruff das Ergebnis. "Selbst höhere finanzielle Anreize haben dann weniger Einfluss." Für den Neuroökonomen eine interessante Erkenntnis, denn: "Grundsätzlich wäre es auch denkbar, dass Menschen intuitiv finanziel- le Interessen verfolgen und sich erst aufgrund ihrer Abwägungen für den altruistischen Weg entscheiden."

Hirnareal wird bei Interessenskonflikten aktiv

Wussten die Studienteilnehmenden, dass ihre Entscheidungen beobachtet wurden, handelten sie sozialer, als wenn sie im Geheimen entscheiden konnten. Auf diese Überlegungen zur eigenen Reputation hatte die elektromagnetische Stimulation der untersuchten Hirnregion keinen Einfluss, ebensowenig wie auf die grundsätzliche Motivation, sich hilfsbereit zu verhalten. Daraus folgern die Wissenschafter, dass der rechte temporoparietale Kortex nicht Sitz altruistischer Motive an sich ist, sondern uns die Fähigkeit vermittelt, moralische und materielle Werte gegeneinander abzuwägen. (red,)

 
Nota. - Das 'radikal Böse im Menschen' ist nach Kant seine Fähigkeit, das, was er als gut oder richtig er- kannt hat, nicht zu tun. Mit andern Worten: Das Gute und Richtige sei für den Menschen das, was ihm am nächsten liegt. Die Untugend ist demgegenüber sekundär und nur als Folge einer zusätzlichen Reflexion möglich. 

Dies scheint dieser Test zu beweisen.

Doch haben Sie's bemerkt? Moralisch, hilfsbereit, sozial, altruistisch - das ist für die Zürcher Forscher alles ein- und dasselbe. Dagegen stehen materiell, egoistisch, Interessen und Anreize. Gut und böse kommen da- gegen gar nicht vor.

Das liegt an der Versuchsanordnung. Die Prämisse ist: Es ist neurobiologisch lokalisierbar. Der unausge- sprochene Hintergedanke: Es ist stammesgeschichtlich erworben und hat in der Hirnstruktur einen physi- schen Niederschlag gefunden; nämlich beide Fähigkeiten ihren je eigenen.

Wenn man nun experimentell herausfindet, welches von beiden das andere dominiert, kann man sagen: Das ist unser Eigentliches, es entspricht unserer innersten Natur, ist das Primäre. Zum Glück hat sich gefunden, dass es Charakerzüge sind, die die Kooperation begünstigen; was zu erwarten war, weil auf der Grundlage familiärer Gruppenbildung die Gattung H. sapiens überhaupt erst entstanden ist: Auf der Grundlage eines konkurrenziellen Kampfes jeder gegen jeden wäre das nicht möglich gewesen.

Nun hat der Gruppenvorteil mit Moral genausowenig zu tun wie der Eigennutz. Er erlaubt größere Grup- penbildung, innere Differenzierung, höhere Arbeitsteilung und Kooperation. Er ist wirtschaftlich erfolg- reicher. Nämlich en gros. En détail mag der Privatvorteil doch immer seinen Reiz haben: Es ist eine Sache des Abwägens und der Reflexion. 

Auf die allein hat die Evolution sich nicht verlassen mögen: Sie hat daher die Priorität des Sozialen gene- tisch verankert, und wie der Test zeigt, tat sie gut daran.

Merke: Das Soziale ist - wie das Recht - das, was ich meinen Nächsten schulde. Moral dagegen schulde ich mir und keinem andern. Was ich unter Ich verstehe, hat die Evolution noch nicht in unsere Gehirne einge- baut, dafür ist es phylogenetisch zu rezent; es entstand mit der bürgerlichen Gesellschaft. Für eine ganze Weile werden wir es noch, jeder für sich, immer wieder neu selber entscheiden müssen. Es ist keine Sache von Auslese und Anpassung, sondern von selbst-Bestimmung.

Das Bestimmen ist uns freilich erst möglich, seit der rechte temporoparietale Kortex die Versuchung zuge- lassen hat: das Gute am Schlechten.
JE




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