Dienstag, 19. März 2019

Mathematik durchdringt den Alltag.

Mathematiker Martin Grötschel.
aus Die Presse, Wien,

Wie Mathematik unseren Alltag zusammenhält
In modernen Gesellschaften basiert fast alles auf Berechnungen, sagt der Mathematiker Martin Grötschel. Obwohl man überall auf mathematische Probleme trifft, sind sich die wenigsten der Bedeutung dieser Disziplin bewusst. 




Die Presse: Obwohl sie für viele der Inbegriff des trockenen Schulstoffs ist, scheint es Ihnen ein wichtiges Anliegen zu sein, die Mathematik einer breiten Öffentlichkeit näherzubringen. Sie halten viele Vorträge für Laien, kommenden Montag auch an der ÖAW in Wien – was ist Ihre Motivation?

Martin Grötschel: Der Grund ist eigentlich, dass die Mathematik eine völlig unterbewertete Wissenschaft ist, die hauptsächlich im Verborgenen arbeitet. Über Mathematik wird relativ selten berichtet, und wenn, dann häufig über völlig irrelevante Dinge, wie die Entdeckung der nächsten größten Primzahl oder dergleichen. Aber die wirklich wichtigen Entwicklungen bringen es nicht in die Öffentlichkeit.

Woran scheitert es?

Einerseits natürlich daran, dass die Spitzenforschung in der Mathematik einfach nicht darstellbar ist. Das sind hoch spezialisierte Gebiete mit eigener Sprache. Andererseits werden aber auch viele Anwendungen in der Regel einfach dem Computer oder der Informatik zugeschrieben. Dabei stecken dahinter meistens mathematische Berechnungen. Hier möchte ich ansetzen und anhand von Beispielen aus meinem eigenen Arbeitsbereich erklären, wo man im täglichen Leben der Mathematik begegnet, ohne es zu merken. Und da gibt es zahllose Beispiele: Ob man den Strom anschaltet, im Internet surft oder einfach ein Joghurt aus dem Supermarktregal nimmt, es gibt heute praktisch keinen Teil des modernen Lebens, an dem Mathematik nicht einen gewissen Anteil hat.

Die Mathematik im Joghurt müssten Sie mir schon genauer erläutern . . .

Nun, um es in den großen Supermärkten zu verkaufen, muss man ja ganze Flotten von Transportfahrzeugen durch die Gegend schicken, deren Routen planen, die Verpackungsgrößen und den Materialeinsatz optimieren, fahrerlose Bediengeräte für Hochregallager steuern – das wird heutzutage alles mit mathematischen Methoden erledigt. Ohne sie würden all diese Prozesse nicht die gleiche Effizienz aufweisen, und die Güter wären längst nicht so preiswert.

Es geht also hauptsächlich um die Logistik im Einzelhandel?

Nein, die Mathematik hat fast überall ihre Finger im Spiel. Beispielsweise in der industriellen Landwirtschaft, wo vom Weltraum aus über Satelliten die großen Maschinen gesteuert werden, der richtige Zeitpunkt zum Düngen oder der Reifegrad der Ernte bestimmt wird. Oder in der Fischzucht, wenn mit linearer Optimierung die ideale Zusammensetzung des Futters berechnet wird. Oder in Navigationssystemen – ohne die richtige Mathematik dahinter würde es viel zu lang dauern, eine optimale Route anzuzeigen. Ganz zu schweigen von großen Konzernen, die sogenanntes Enterprise Requirement Planning betreiben, also die gesamten Lieferketten für die Produktion vorausplanen. Das sind dann Optimierungsprobleme mit Hunderten Millionen Variablen, die wir heute zum Teil auch noch nicht lösen können. Aber wir arbeiten daran, diese Dinge in die Nähe der Lösbarkeit zu bringen.

Werden sich solche mathematischen Probleme nicht bald mit selbstlernenden Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Big Data lösen lassen?

Bestimmt nicht. Momentan wird mit der künstlichen Intelligenz ein unglaublicher Hype betrieben, weil manche damit wirtschaftliche Erfolge verbuchen. Die tun dann so, als könne man alles in der Welt damit lösen. Das ist natürlich bei Weitem nicht der Fall. Denn künstliche Intelligenz produziert lediglich Korrelationen, die Mathematik als Wissenschaft sucht aber nach Kausalitäten. Außerdem hängen die Fähigkeiten der künstlichen Intelligenz sehr stark von der Qualität der Daten ab, nicht allein von deren Menge. Big Data mag Amazon dabei helfen, Vorschläge für bestimmte Produkte zu machen, die einen interessieren könnten. Aber wenn es um Fragestellungen geht, die für unser Leben wirklich relevant sind, etwa in der Medizin, braucht es eine Qualitätskontrolle der Daten – da sind wir dann wieder bei einem sehr schwierig zu lösenden Problem.

Der Mensch bleibt also auch hier unersetzlich?

Genau so ist es. Natürlich haben Lernalgorithmen einige beeindruckende Leistungen vollbracht, sie sind besser als jeder Mensch in Spielen wie Go oder Schach. Aber letztlich zeigt das doch nur, dass diese Spiele nicht so intellektuell sind, wie wir dachten.

Wo sehen Sie in der näheren Zukunft das größte Potenzial für die Mathematik?

Im technischen oder betriebswirtschaftlichen Bereich leistet die Mathematik jetzt schon sehr viel, in anderen Bereichen wie der Biologie kann sie aber sicherlich noch viel beitragen, etwa zur Modellierung biologischer Prozesse. In der Chemie wird sie zwar häufig eingesetzt, aber auch hier ist noch viel Luft nach oben. Praktisch Neuland ist für Mathematiker aber der Bereich der Geisteswissenschaften, hier werden zurzeit die sogenannten Digital Humanities entwickelt, auch ich beschäftige mich damit. Das ist sehr spannend, denn man weiß noch gar nicht, ob die Mathematik hier überhaupt einmal nützlich sein wird.

Martin Grötschel (Jahrgang 1948) ist Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Grötschel gilt als einer der renommiertesten Mathematiker für den Bereich der kombinatorischen Optimierung. Am Montag, 18. März, um 18 Uhr hält er einen Vortrag im Festsaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, nähere Informationen unter www.oeaw.ac.at.


Nota. - Wo von der Verwissenschaftlichung der Welt die Rede ist, ist in allererster Hinsicht die Mathematik gemeint, die in jeden Lebensbereich eingedrungen ist. 

Das macht deutlich, wie man jenes Wort nicht verstehen darf: nämlich nicht so, als ob wir alle Mathema- tiker geworden wären und den ganzen Tag Berechnungen anstellten. Es sind vielmehr die Produkte einer hochtechnisierten Industrie, die auf mathematischen Abstraktionen beruhen, bei denen neunundneunzig von hundert Zeitgenossen schwindelig würde, die die 'Wissenschaftlichkeit' unseres Lebens ausmachen. Der Normalgebildete hat gar kein eigenes Urteil, ihm blcibt nur ein hoffendes Vertrauen.

Die Wissenschaft ist eine Instanz aus eigenem Rechtsgrund geworden, die keinerlei höheren Kontrolle unterliegt (allerdings auch nicht gegen willkürliche Eingriffe politischer Machthaber gefeit ist). In ihrer Realität ist diese Instanz aber Betrieb nicht anders als 'die Wirtschaft', und dass sie Mittel hat oder auch nur sucht, sich selbst zu kontrollieren, ist so zweifelhaft wie bei jener,
JE

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