Dienstag, 10. Juli 2018

Bestimmen durch reduzieren.

18 Jahre her: Präsident Clinton und Genetiker Venter feiern „Buch des Lebens“.
aus DiePresse.com,

Wie viele Gene haben wir denn nun?
Eine neue Schätzung hat die so vage wie umstrittene Zahl nach oben korrigiert.

 

Im Frühjahr 2000 stieg unter Genetikern das Wettfieber an, die Sequenzierung des Humangenoms im Projekt „HUGO“ stand vor dem Abschluss, aber keiner wusste, wie viele Gene herauskommen würden. Deshalb ersann Ewan Birney (Hinxton) bei einer Tagung den „GeneSweep contest“, in dem die Zahl abgeschätzt werden konnte, er nahm am Abend in einer Bar die ersten Wetten an, spätere kamen via E-Mail, über tausend Forscher boten mit: Die Schätzungen reichten von 27.462 bis 312.000.

Dann kam der große Tag: Am 26. Juni versammelte US-Präsident Bill Clinton die Spitzen der Genetik um sich, kein Wort war ihm zu groß: „Heute lernen wir die Sprache, in der Gott das Leben erschaffen hat. Dieses tief greifende Wissen wird der Menschheit ungeheure neue Heilkräfte bescheren und Diagnose und Therapie der meisten, wenn nicht aller Krankheiten revolutionieren.“

Über die Jahre wurden es weniger

Die Hoffnung trog, auch deshalb, weil man gar so viel von der Sprache des Lebens noch nicht gelernt hatte: Zum einen macht das, was wir Gene nennen, kaum mehr als ein Prozent des gesamten Genoms aus, und zum anderen war die offizielle Zahl der Gene reichlich vage: zwischen 20.000 und 30.000. Über die Jahre wurden es immer weniger, der letzte Stand – 18.894 – stammt vom März, er bezieht sich auf Gene, die Proteine „kodieren“, d. h. die Blaupause ihrer Information in RNA umschreiben (Transkription) und dann in die anderen Bausteine des Lebens umsetzen lassen (Translation), das ist die engste Definition. Lockerer kann man zu „Genen“ auch noch rechnen, was in RNA umgeschrieben, aber dann nicht übersetzt wird, das gibt es häufig, viele Gene regulieren so andere Gene, manche haben ihre Aktivität eingestellt, sind Pseudogene geworden.

Beide Gruppen hat nun Steven Salzberg (Johns Hopkins, Baltimore) gezählt, in höchst aufwendigen Analyseverfahren, gestützt auf Daten aus über dreißig Geweben von Hunderten Toten, die im Rahmen des Genotype-Tissue Expression (GTEx) project erhoben wurden: „Die neue Human-Gen-Datenbank umfasst 43.162 Gene, davon 21.306 kodierende und 21.856 nichtkodierende“ (BioRxiv 10.1101/332825).

Endgültig sind diese Zahlen nicht, Widerspruch kam rasch, etwa von Adam Frankish (Hinxton), er hat hundert der neuen kodierenden Gene durchgemustert (Nature, 556, S. 354): Nur eines kodierte wirklich.



aus derStandard.at, 22. Juni 2018, 18:38

Wie viele Gene hat der Mensch?
Bioinformatiker aus den USA liefern die neueste Schätzung: Es sind immer noch etwa 9.000 weniger als beim Wasserfloh

London/Wien – Es klingt erstaunlich und ist doch wahr: Die Genetik weiß rund 15 Jahre nach Ende des Humangenomprojekts immer noch nicht ganz genau, wie viele Gene ein Mensch besitzt. Klar ist nur, dass es weniger sind, als die führenden Experten noch um das Jahr 2000 herum vermuteten.
Damals legte der britische Genetiker Ewan Binney, heute Direktor des European Bioinformatics Institute, in einer Bar in Could Spring Harbour (US-Bundessstaat New York) ein Wettbuch auf, in dem Fachkollegen ihre Schätzungen der Zahl menschlicher Gene, die für Proteine codieren, eintragen konnten.
 
Wie sich Experten irren können

460 der führenden Genetiker trugen in den nächsten drei Jahren in dieses Buch ihre Schätzungen ein – und lagen zum Teil spektakulär falsch. Die Mutmaßungen, die in der Bar im US-Zentrum für Genomforschung abgegeben wurden, gingen von viel zu hohen Zahlen aus. Viele nannten Werte von über 100.000 Genen, Siegerin wurde die US-Genetikerin Lee Rowen, die mit 25.947 Genen auch deutlich darüber lag. Im Schnitt schätzten die Genetiker 40.000 codierende Gene.

In den letzten Jahren wurde immer klarer, dass diese Zahl nur bei der Hälfte, also bei etwa 20.000 liegt. Das ist einigermaßen ernüchternd, aber womöglich immer noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Kürzlich publizierte eine Gruppe um den Bioinformatiker Steven Salzberg (Johns Hopkins University) auf der Preprint-Plattform "BioRxiv" die neusten Zahlen.
 
Die neuen Zahlen aus Baltimore

Die Forscher fanden rund 5.000 weitere Gene, davon 1.200, die für Proteine codieren. Insgesamt kamen die Forscher damit auf 21.306 Protein-codierende Gene und 21,856 nichtcodierende Gene. Wie das Wissenschaftsmagazin "Nature" online berichtet, sind aber auch diese aktuellen Zahlen schon wieder umstritten. Einige der neuen Gene sind für Kollegen zumindest umstritten.
Eines steht allerdings fest: Die noch zu erwartenden Korrekturen werden aber gewiss nichts daran ändern, dass der Gemeine Wasserfloh mit rund 30.000 Genen fast 10.000 mehr hat als der Mensch. (tasch)


Originalpublikationen

 
Nota. -  Die nächstliegende Vorstellung von der Entwicklung eines einfachen Organismus zu einem komplexen ist das Bild vom Hinzufügen immer neuer Bestimmungen. Doch anscheinend muss man es sich - mindestens auch - als das Ausscheiden von Überflüssigem vorstellen.
JE



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