Montag, 4. September 2017

Luftprimaten.

aus Die Presse, Wien, 3. 9. 2017

Affen mit Flügeln 
Die Klugheit der Rabenvögel überrascht stets aufs Neue. Nun hat man bemerkt, dass sie noch etwas können, was als Privileg des Menschen galt: planen.




Am 7. April 1937 wurden auf einem Krähenrastplatz in Texas 80.000 Vögel zerfetzt, auf einen Schlag, von Dynamit, das staatliche Wildhüter gezündet hatten; das spornte die in Illinois an, im Winter 1939/40 brachen sie mit 328.000 Explosionsopfern alle Rekorde, und Private taten auch mit: Auf 90.000 schätzte der an der Krähenfront ergraute Jäger Bert Popowski 1962 im Buch „The Varmint and the Crow Hunter's Bible“ seine Strecke, „Varmint“ changiert zwischen Schädling und Schurke, für Popowski waren Krähen ein Übel, das er mit Hitler, Stalin und Mao verglich.

So war man Rabenvögeln nicht immer begegnet, in manchen Mythen erschaffen sie die Welt, in anderen retten sie sie vor dem großen Brand, tragen Wasser herbei, werden versengt und schwarz, vorher waren sie bunt. Auch Noah ließ bei fallender Flut erst einen Raben frei, der kehrte nicht zurück – vielleicht fand er kein Land, vielleicht konnte er den vielen Kadavern nicht widerstehen –, ganz anders als die beiden, die Odin über das Weltgeschehen auf dem Laufenden hielten: Hugin und Munin, „Gedanke“ und „Erinnerung“.

Auch auf der Erde machen sich manche ihren Weitblick zunutze, Inuit etwa lassen sich von Raben zu verendeten Karibus bzw. ihren Herden weisen, vermutlich haben es Jäger und Sammler immer so gehalten. Die begegneten vor allem den größten Rabenvögeln, den aasfressenden Raben, sie haben bis zu einem Kilo und eine Flügelspannweite von 1,4 Meter, obgleich sie im Wald leben. Dieser wurde knapp, als die Menschen auf Landwirtschaft umstellten und rodeten, nun übernahmen unter den Rabenvögeln die kleineren Krähen – ein halbes Kilo, ein Meter –, sie machten sich über alles her, auch über Feldfrüchte, das mag ihnen die Feindschaft der Menschen eingetragen haben. Die steigerte sich, als die Epidemien und Gemetzel des Mittelalters für Rabenvögel gedeckte Tische hinterließen, Hinrichtunsstätten auch. Da sah man sie nicht gern, in Mitteleuropa wurden sie fast ausgerottet.

Zu Hilfe kam keiner, lange auch keiner aus der Zunft, die doch mit bloßem Auge sehen musste, wie ähnlich diese Tiere den Menschen sind: Sie werden alt, leben zu Paaren und in sozialen Verbänden, verständigen sich vokal und mit Gesten, zeigen einander im Schnabel gehaltene Objekte vor, um Kontakt aufzunehmen (Nature Communications 2:560). Der ist nicht immer freundlich, sie sind auch durchtrieben: Wenn einer Futter gefunden hat, das er gerade nicht fressen kann, versteckt er es. Aber nicht, ohne die Augen herumschweifen zu lassen: Merkt er, dass ihm ein anderer zusieht, wartet er einen unbeobachteten Moment ab und versteckt seinen Schatz anderswo – und im nächsten beobachteten Moment versteckt er ganz auffällig ein Scheinfutter, einen Stein etwa. 

Fairness! 

Aber sie legen schon auch Wert auf gute Sitten: Wenn man Raben darauf trainiert, mit Menschen Futter zu tauschen, Brot gegen den von ihnen geliebten Käse, und wenn sie dann von einem Menschen dadurch betrogen werden, dass der das Brot nimmt und den Käse behält, dann erinnern die Geprellten sich zwei Monate: Mit dem nicht mehr! (Animal Behaviour 128, S. 69). Reine Lichtgestalten sind sie allerdings auch nicht, sie schmieden Intrigen, um eigene Bündnisse aufzubauen und andere zu stören (Current Biology 24, S. 2733), kurz: Sie sind in allem so menschlich, dass vielleicht die Nähe den Blick lange verstellt hat.

Vor allem tat das aber eine Terminologie, in die ein Vorurteil eingebaut war, das vom „Spatzenhirn“: Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Ludwig Edinger, der Vater der vergleichenden Neuroanatomie, eine Theorie der Gehirnbildung: Er ging davon aus, dass im Lauf der Evolution immer neue Schichten angesetzt werden, von den Fischen bis hin zu den Säugetieren, die haben als Einzige ganz außen sechs Zelllagen. Die nannte Edinger Neokortex. Vögel haben keinen, ergo: keine Intelligenz!

Das hielt bis 2005, erst da erkannte man an, dass Vögel einen gleichwertigen Ersatz haben, und gab die blind machende Terminologie auf. Dabei wusste schon Äsops Fabel, dass Raben Werkzeuge benutzen – Steinchen, mit denen sie sich Wasser in einer Flasche mit engem Hals zugänglich machen –, später zeigte sich, dass Krähen Werkzeuge auch herstellen können. Sie können sogar andere zu Werkzeugen machen, das erlebten Autofahrer im japanischen Sendai: Wenn sie vor roten Ampeln warteten, warfen ihnen Krähen Nüsse vor die Reifen. Sie konnten sie nicht knacken, Reifen konnten es.

Rabenvögel haben also Technik, sie haben eine theory of mind – können sich in andere hineinversetzen –, sie haben ein langes Gedächtnis für Freunde und Feinde, das hat, wie alles bisher Zitierte, Thomas Bugnyar (Uni Wien) erkundet, er hat gemeinsam aufgezogenen und dann getrennt lebenden Raben die Stimme der anderen vorgespielt (Current Biology 22, S. 801). Sie erkennen auch verhasste Menschen, das hat John Marzluff, Rabenvogelforscher und -liebhaber – er nannte sie ihrer Intelligenz wegen früh „fliegende Affen“ –, am eigenen Leib erfahren: Er hat für seine Experimente oft Krähen gefangen und später freigelassen – und wenn die ihn dann über den Campus seiner Universität spazieren sahen, warnten sie andere. So fing er wieder welche und sah in Computertomografen nach, wie ihr Gedächtnis funktioniert (Pnas, 109, S. 15912).

Es ist ähnlich wie bei uns. Fehlt ihnen irgendetwas, was wir und allenfalls Menschenaffen haben? Lange setzte man auf das Planen, das Erfahrungen in Handeln umsetzt und auch mit Geduld operiert. Die haben sie: Mathias Osvath (Lund) hat Raben Objekte gegeben, die sie gegen feines Futter tauschen konnten, aber erst am Tag darauf. Sie lagerten sie ein – und tauschten nicht gegen weniger schmackhaftes Futter, das sie gleich nehmen hätten können (Science 357, S. 202). Das ist eine hohe Kunst, diese Vögel können einem fast unheimlich werden. Das sind sie auch geworden, sie galten als Boten des Unheils, gar Verkörperungen von Toten. Oder beides: In Edgar Allen Poes Gedicht „Raven“ betrauert einer seine Geliebte, da flattert ein Rabe ins Zimmer, er kann reden, ein Wort, krächzt immer „Nevermore“. Ist das die tote Geliebte? Oder gilt die Botschaft ihm? Das nächste „Nevermore“ hört er nicht mehr.



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