Samstag, 30. September 2017

Die Evolution des Denkens.

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aus Süddeutsche.de,

Die Evolution des Denkens
Wer Tag für Tag nichts als die ewig gleiche Routine zu bewältigen hat, der kann zur Not vielleicht auf ein flink arbeitendes, leistungsfähiges Gehirn verzichten. Bei anspruchsvollen Lebensbedingungen aber, die sich zum Beispiel schnell und unvorhergesehen ändern, wäre das Sparen an der falschen Stelle.
 
Von Katrin Blawat

Wer in einer unberechenbaren Umgebung lebt und sich dementsprechend immer wieder auf neue Situationen einstellen muss, tut sich mit einer guten Portion Grips leichter. Das gilt auch für Vögel - selbst wenn diese Gruppe im Allgemeinen nicht gerade als die Einsteins unter den Tieren gilt.

Dabei bleibt jedoch die Frage, was im Zuge der Evolution zuerst kommt: Gerät eine zunächst nicht sonderlich gewitzte Art mehr oder weniger zufällig in ein anspruchsvolles Habitat und entwickelt dort durch Selektion notgedrungen größere kognitive Fähigkeiten? Oder stoßen überhaupt nur Vogelspezies, die - aus welchen Gründen auch immer - schon gewisse kognitive Fähigkeiten mitbringen, in Lebensräume mit schwierigen Umweltbedingungen vor?

Wie und warum haben manche Vogelarten große Gehirne entwickelt?

Diese Frage nach Ursache und Wirkung der Entwicklung leistungsfähiger Gehirne betrifft viele Tiergruppen - auch den Menschen. Zumindest in Bezug auf Vögel legt eine Studie nun eine eher überraschende Antwort nahe (Nature Ecology and Evolution): "Wir haben ermittelt, dass sich große Gehirne mit der gleichen Wahrscheinlichkeit in Lebensräumen mit stabilen wie mit schwankenden Umweltbedingungen entwickeln", sagt Studienleiter Carlos Botero von der Washington University in St. Louis.

Demnach entwickelt eine Vogelart erst ein großes beziehungsweise leistungsfähiges Gehirn und kann dann anspruchsvolle Lebensräume besiedeln. In einem weiteren Teil der Studie betätigten die Autoren die Hypothese, wonach in Habitaten mit wechselnden Lebensbedingungen eher Arten mit vergleichsweise guten kognitiven Fähigkeiten anzutreffen sind. Wie und warum manche Vogelarten große Gehirne entwickelt haben, bleibt damit aber weiterhin offen.

Um die Stabilität oder Schwankungen innerhalb eines Lebensraums zu bestimmen, griffen die Forscher auf Wetterdaten und Klimasimulationen zurück. Das Vorkommen der verschiedenen Vogelarten in den USA bestimmten sie anhand von Daten aus den 1960er-Jahren bis 2014, die Bürger durch regelmäßige Monitoring-Aktionen gesammelt hatten. Und schließlich rekonstruierten die Wissenschaftler mithilfe eines entwicklungsgeschichtlichen Stammbaums Veränderungen in den Gehirngrößen verschiedener Vogelarten. Insgesamt flossen Daten von knapp 1300 Spezies in die Untersuchung ein, darunter Vertreter der Raben-, Lauben- und Nashornvögel, der Spechte, Eulen und Papageien.

Ein Strauß scheint ein riesiges Gehirn zu haben - oder doch nicht?

Als Maß für die kognitive Leistungsfähigkeit einer Art nahm das Team um Botero die relative Hirngröße - eine übliche, aber auch umstrittene Methode. Sie berücksichtigt auch die Körpermasse eines Tiers. "Ein Strauß scheint ein riesiges Gehirn zu haben, aber in Relation zu seiner Körpergröße ist es dann auch wieder nicht so eindrucksvoll", sagt Botero. "Ein Rabe dagegen ist nicht viel größer als ein Huhn, aber sein Gehirn ist im Verhältnis viel größer."

Doch haben zahlreiche jüngere Studien an Säugetieren gezeigt, wie fragil der Zusammenhang zwischen relativer Hirngröße und kognitiver Leistungsfähigkeit sein kann. So macht das Gehirn der Spitzmaus immerhin vier Prozent ihres Körpergewichts aus - beim Menschen hingegen nur zwei Prozent. Mag sein, dass die Intelligenz der Spitzmäuse bislang einfach noch nicht erkannt worden ist. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass die Beziehung zwischen relativer Hirngröße und kognitiven Fähigkeiten komplexer ausfällt als einst vermutet.

Die Neuronen sind so dicht gepackt, dass einige Papageien mit Primaten vergleichbar sind

Botero argumentiert, die Korrelation zwischen relativer Hirngröße und kognitiven Fähigkeiten sei bei Vögeln besser als bei Säugern. Doch auch bei Vögeln dürften darüber hinaus vor allem die Dichte und damit die Anzahl der Neuronen und deren Verbindungen untereinander entscheidend sein, wie tschechische Forscher in einer Analyse von 28 Vogelarten gezeigt haben. Im Vogelhirn befinden sich die Nervenzellen demnach derart dicht gepackt, dass einige Raben und Papageien auf eine ähnliche Anzahl relevanter Gehirnzellen kommen wie manche Primaten.

Schon dies zeigt: Unabhängig davon, unter welchen Bedingungen sich die kognitiven Fähigkeiten von Vögeln entwickelt haben, besteht diese Tiergruppe mitnichten nur aus rein instinktgesteuerten, kognitiv verarmten Wesen. Genau diese Sichtweise war jedoch lange Zeit verbreitet. Erst in jüngerer Zeit staunen Forscher über die kognitiven Kunststücke vor allem von Rabenvögeln und Papageien. Stars wie Betty, die Haken produzierende Krähe, oder Alex, der sinnvolle Konversation betreibende Graupapagei, haben erheblich dazu beigetragen, ein zähes Missverständnis aufzulösen, das da lautete: Das Vogelhirn unterscheidet sich strukturell so stark von dem der Säugetiere, das dort unmöglich Platz für so etwas wie Intelligenz sein kann.

Viele strukturelle Unterschiede zwischen Säuger- und Vogelhirn sind bis heute unumstritten. Während die Großhirnrinde der Säuger beispielsweise schichtweise aufgebaut ist, besteht das Vorderhirn der Vögel aus einer Struktur mit vielen einzelnen Kernen. Nathan Emery von der University of Cambridge, ein Fachmann für die Leistungen des Vogelhirns, und Nicola Clayton nennen als Analogie den Aufbau eines Club-Sandwichs (für Säugetiere) und den einer Peperoni-Pizza (für Vögel).

Dennoch seien sich der Neocortex der Säuger und das Vorderhirn der Vögel funktionell und entwicklungsgeschichtlich sehr ähnlich. Sind Vögel also im Allgemeinen sogar superschlau? Das wäre übertrieben. Denn noch ein Aspekt verbinde die kognitiven Fähigkeiten von Säugern und Vögeln, so Emery und Clayton in Current Biology: "Es gibt die Dumpfbacken und die Einsteins - wie in jeder taxonomischen Gruppe."

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