Dienstag, 7. Februar 2017

Was tut überhaupt ein Muskel?

aus Die Presse, Wien, 28.01.2017

Der Muskel arbeitet mit vereinten Kräften
Wiener Forscher entdeckten, was den Muskel in seinem Innersten zusammenhält. Die molekulare Anziehungskraft zwischen zwei Proteinen ist entscheidend – aber erst die große Anzahl an Verbindungen stabilisiert.

In europaweiter Zusammenarbeit sind Forscher seit Langem bemüht, die Funktionsweise von Muskelgewebe zu berechnen, zu simulieren und zu verstehen. Unter der Leitung von Kristina Djinovic-Carugo ist es einem Team des Departments für Strukturbiologie und Computational Biology der Universität Wien gemeinsam mit der TU München kürzlich gelungen, ein grundlegendes Rätsel zu lösen.

Was sich die Wissenschaftler bisher nicht erklären konnten: Was hält einen Muskel, der sich drehen, zusammenziehen, dehnen und dabei größte Widerstände überwinden kann, eigentlich in seinem Innersten zusammen?

Der Aufbau eines Muskels ist gut bekannt: Da gibt es die Filamente Aktin und Myosin, die bei Kontraktion ineinandergleiten. Es gibt z-Scheiben, an denen die Filamente verankert sind, zusammen bilden diese kleinen Einheiten größere Strukturen, die Sarkomere. Alle diese bekannten Tatsachen stellten die Wissenschaft jedoch vor ein Problem: Warum ist der Muskel stabil, obwohl er eigentlich bei jeder Belastung auseinanderfallen müsste?

Besonders wenn er passiv gedehnt wird, müssten die vielen gleitenden, beweglichen Filamente den Anschluss zueinander verlieren und der Muskel würde sich in seine Bestandteile auflösen. Das Stretching nach dem Morgenlauf wäre unser Todesurteil. Ganz zu schweigen von den Milliarden Kontraktionen des Herzmuskels, die uns durch ein langes und aktives Leben bringen.

Weltgrößtes Protein Titin

Sowohl die Herz- als auch die Skelettmuskulatur muss Unglaubliches leisten. Sie muss flexibel sein, sich auf einen Bruchteil ihrer Länge zusammenziehen, aber genauso dehnen können. Und immer wieder muss sie auch repariert werden – und das bei laufendem Betrieb. Das Geheimnis der Kräfte, die diesen starken Zusammenhalt von Molekülen bewirken, haben Kristina Djinovic-Carugo und ihre Forschungsgruppe in Zusammenarbeit mit dem Team von Matthias Rief, TU München, nun gelöst. Zwei Proteine spielen eine wichtige Rolle: Das Alpha-Actinin und das Titin, das größte bekannte Protein auf Erden, das als Anker für die beweglichen Gleitfilamente fungiert.

Die molekulare Anziehung zwischen diesen beiden Proteinen konnten die Forscher nun erstmals messen: Sie war erstaunlich klein. Mit nur rund fünf Piko-Newton sind die Bande alles andere als stark. Besser veranschaulicht sind das 0,000.000.000.005 Newton.

„Eine einzelne Verbindung ist sehr schwach. Aber die riesige Menge an kleinen Kräften, die in einem Muskel wirken, bildet eine große Kraft“, erklärt die Chemikerin Kristina Djinovic-Carugo. Das Ganze ist also mehr als die Summe seiner Teile. Dieses Prinzip scheint jedoch nicht in jedem Fall wirksam zu sein. Es kommt auch darauf an, in welche Richtung diese Kräfte wirken. Würde man einen Muskel in die Breite ziehen statt in die Länge – was im Körper physiologisch nicht passiert – würden die Kräfte nicht reichen, und das Gewebe würde zerfallen.

Diese neuen Erkenntnisse könnten irgendwann auch in der Medizin Anwendung finden. Bei Kardiomyopathien, also Störungen des Herzmuskelgewebes, oder auch bei Muskeldystrophien. Diese sind häufig durch genetische Defekte bedingt, die Einfluss auf Aufbau und Zusammenhalt im Muskelgewebe haben, und es instabil machen könnten.

 

LEXIKON

0,000.000.000.005 Newton oder fünf Piko-Newton beträgt die Anziehungskraft zwischen den Proteinen Titin und Alpha-Actinin im Muskel.

Die einzelnen Verbindungen sind zu schwach, um das Gewebe zusammenzuhalten, doch in Summe machen sie den Muskel stabil und flexibel zugleich. Das gilt aber nur für Belastungen in der Längsrichtung.


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